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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Entwicklung Deutschlands über die nächsten Wahlen hinaus, als daß man sie
mit einigen Worten wie "Wahlfurcht", "Schacher" u. a. in. abtun dürste. Es
handelt sich bei dieser Versöhnung nicht allein um die Übernahme von Garantien
für die kommenden Wählen; es handelt sich darum, ob die auf dem Boden der
Bismarckschen Gesetzgebung aus der Nation herausgekommene demokratische
Richtung noch einmal zurückgebannt werden oder ob man ihr zunächst bei den
kommenden Wahlen die Möglichkeit geben soll, emporzufluten und vielleicht über
die Ufer zu schäumen. Doch auch solche Erwägung erschöpft nicht die
Fülle der sich bietenden Gesichtspunkte. Hinter den Reichstagswahlen
lauert auch die Frage, die formell zwar nichts mit den? Reichstag zu tun hat.
die aber materiell um so schwerer auf die Stimmung im Lande drückt, die
Frage, ob Preußens Negierung eine Reihe von als notwendig empfundenen
großzügigen Reformen zu inaugurieren bereit ist, oder ob es lediglich der Reichs¬
regierung darum zu tun ist, einen solchen Reichstag zusammen zu bekommen,
der die Annahme eines auf dem Schutzzollsystem basierenden Zolltarifs garantiert.
Nachdem aber der Herr Reichskanzler im Dezember vorigen Jahres erklärt hat,
er werde ohne die Zentrumspartei nicht arbeiten, und da die Zentrumspartei im
preußischen Landtage das Haupthemmnis für einen ruhigen nationalen Fortschritt
bildet -- wenn es sich zurzeit auch ungemein national gebürdet --, so liegt eben die
Gefahr nahe, daß eine Aussöhnung zwischen Nationalliberalen und Konservativen
eine Verschärfung der geistigen Reaktion in Preußen nach sich ziehen würde, weil
die wirtschaftliche Stärkung der preußischen Machthaber durch das Reich deren Sinn
für zeitgemäße Reformen auf kulturellen Gebiet nicht empfänglicher machen dürfte.
Könnte die preußische Regierung die wenn auch nur teilweise begründete, aber
doch weite Kreise beherrschende Furcht vor der kirchlichen Reaktion bannen, die
Neichsregierung hätte es verhältnismäßig leicht, einen schutzzöllnerischen Reichstag
zu erhalten und damit eine Grundlage für die Verständigung der Konservativen und
Nationalliberalen zu gewinnen. Es ist nicht das Sattsein, das die Mensch¬
heit voran bringt. Die größten Segnungen verdanken wir Zeiten der
Not: das Christentum, die Reformation, die Reformen Steins und Hardenbergs
und W. v. Humboldts und zuletzt das Reich. So urteilt man in den weiten
gebildeten Kreisen der Nation, in denen die Wirtschaft wohl als die Grundlage
der Volkswohlfahrt anerkannt wird, in denen man aber auch überzeugt ist, daß
der Mensch nicht vom Brot allein lebe und daß der Deutsche insbesondere auch
noch höhere Güter zu verteidigen habe als Getreide- und Eisenzölle.

Ich will selbstverständlich nicht der Abschaffung der Zölle das Wort reden.
Eine Entscheidung darüber, ob das Freihandels- oder Schutzzollsystem
vorzuziehen sei, läßt sich generell überhaupt nicht treffen. Die deutsche Volks¬
wirtschaft ist beim Schutzzollsystem mächtig emporgeblüht. So lehrt das
Ergebnis, daß das System gut ist. Nebenbei geht freilich eine andere Beobachtung:
der Reichtum wächst nicht in allen Schichten gleichmäßig, und da er einige
bevorzugt, wirken seine Folgeerscheinungen um so drückender auf die Mehrzahl.


Reichsspiegel

Entwicklung Deutschlands über die nächsten Wahlen hinaus, als daß man sie
mit einigen Worten wie „Wahlfurcht", „Schacher" u. a. in. abtun dürste. Es
handelt sich bei dieser Versöhnung nicht allein um die Übernahme von Garantien
für die kommenden Wählen; es handelt sich darum, ob die auf dem Boden der
Bismarckschen Gesetzgebung aus der Nation herausgekommene demokratische
Richtung noch einmal zurückgebannt werden oder ob man ihr zunächst bei den
kommenden Wahlen die Möglichkeit geben soll, emporzufluten und vielleicht über
die Ufer zu schäumen. Doch auch solche Erwägung erschöpft nicht die
Fülle der sich bietenden Gesichtspunkte. Hinter den Reichstagswahlen
lauert auch die Frage, die formell zwar nichts mit den? Reichstag zu tun hat.
die aber materiell um so schwerer auf die Stimmung im Lande drückt, die
Frage, ob Preußens Negierung eine Reihe von als notwendig empfundenen
großzügigen Reformen zu inaugurieren bereit ist, oder ob es lediglich der Reichs¬
regierung darum zu tun ist, einen solchen Reichstag zusammen zu bekommen,
der die Annahme eines auf dem Schutzzollsystem basierenden Zolltarifs garantiert.
Nachdem aber der Herr Reichskanzler im Dezember vorigen Jahres erklärt hat,
er werde ohne die Zentrumspartei nicht arbeiten, und da die Zentrumspartei im
preußischen Landtage das Haupthemmnis für einen ruhigen nationalen Fortschritt
bildet — wenn es sich zurzeit auch ungemein national gebürdet —, so liegt eben die
Gefahr nahe, daß eine Aussöhnung zwischen Nationalliberalen und Konservativen
eine Verschärfung der geistigen Reaktion in Preußen nach sich ziehen würde, weil
die wirtschaftliche Stärkung der preußischen Machthaber durch das Reich deren Sinn
für zeitgemäße Reformen auf kulturellen Gebiet nicht empfänglicher machen dürfte.
Könnte die preußische Regierung die wenn auch nur teilweise begründete, aber
doch weite Kreise beherrschende Furcht vor der kirchlichen Reaktion bannen, die
Neichsregierung hätte es verhältnismäßig leicht, einen schutzzöllnerischen Reichstag
zu erhalten und damit eine Grundlage für die Verständigung der Konservativen und
Nationalliberalen zu gewinnen. Es ist nicht das Sattsein, das die Mensch¬
heit voran bringt. Die größten Segnungen verdanken wir Zeiten der
Not: das Christentum, die Reformation, die Reformen Steins und Hardenbergs
und W. v. Humboldts und zuletzt das Reich. So urteilt man in den weiten
gebildeten Kreisen der Nation, in denen die Wirtschaft wohl als die Grundlage
der Volkswohlfahrt anerkannt wird, in denen man aber auch überzeugt ist, daß
der Mensch nicht vom Brot allein lebe und daß der Deutsche insbesondere auch
noch höhere Güter zu verteidigen habe als Getreide- und Eisenzölle.

Ich will selbstverständlich nicht der Abschaffung der Zölle das Wort reden.
Eine Entscheidung darüber, ob das Freihandels- oder Schutzzollsystem
vorzuziehen sei, läßt sich generell überhaupt nicht treffen. Die deutsche Volks¬
wirtschaft ist beim Schutzzollsystem mächtig emporgeblüht. So lehrt das
Ergebnis, daß das System gut ist. Nebenbei geht freilich eine andere Beobachtung:
der Reichtum wächst nicht in allen Schichten gleichmäßig, und da er einige
bevorzugt, wirken seine Folgeerscheinungen um so drückender auf die Mehrzahl.


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[0208] Reichsspiegel Entwicklung Deutschlands über die nächsten Wahlen hinaus, als daß man sie mit einigen Worten wie „Wahlfurcht", „Schacher" u. a. in. abtun dürste. Es handelt sich bei dieser Versöhnung nicht allein um die Übernahme von Garantien für die kommenden Wählen; es handelt sich darum, ob die auf dem Boden der Bismarckschen Gesetzgebung aus der Nation herausgekommene demokratische Richtung noch einmal zurückgebannt werden oder ob man ihr zunächst bei den kommenden Wahlen die Möglichkeit geben soll, emporzufluten und vielleicht über die Ufer zu schäumen. Doch auch solche Erwägung erschöpft nicht die Fülle der sich bietenden Gesichtspunkte. Hinter den Reichstagswahlen lauert auch die Frage, die formell zwar nichts mit den? Reichstag zu tun hat. die aber materiell um so schwerer auf die Stimmung im Lande drückt, die Frage, ob Preußens Negierung eine Reihe von als notwendig empfundenen großzügigen Reformen zu inaugurieren bereit ist, oder ob es lediglich der Reichs¬ regierung darum zu tun ist, einen solchen Reichstag zusammen zu bekommen, der die Annahme eines auf dem Schutzzollsystem basierenden Zolltarifs garantiert. Nachdem aber der Herr Reichskanzler im Dezember vorigen Jahres erklärt hat, er werde ohne die Zentrumspartei nicht arbeiten, und da die Zentrumspartei im preußischen Landtage das Haupthemmnis für einen ruhigen nationalen Fortschritt bildet — wenn es sich zurzeit auch ungemein national gebürdet —, so liegt eben die Gefahr nahe, daß eine Aussöhnung zwischen Nationalliberalen und Konservativen eine Verschärfung der geistigen Reaktion in Preußen nach sich ziehen würde, weil die wirtschaftliche Stärkung der preußischen Machthaber durch das Reich deren Sinn für zeitgemäße Reformen auf kulturellen Gebiet nicht empfänglicher machen dürfte. Könnte die preußische Regierung die wenn auch nur teilweise begründete, aber doch weite Kreise beherrschende Furcht vor der kirchlichen Reaktion bannen, die Neichsregierung hätte es verhältnismäßig leicht, einen schutzzöllnerischen Reichstag zu erhalten und damit eine Grundlage für die Verständigung der Konservativen und Nationalliberalen zu gewinnen. Es ist nicht das Sattsein, das die Mensch¬ heit voran bringt. Die größten Segnungen verdanken wir Zeiten der Not: das Christentum, die Reformation, die Reformen Steins und Hardenbergs und W. v. Humboldts und zuletzt das Reich. So urteilt man in den weiten gebildeten Kreisen der Nation, in denen die Wirtschaft wohl als die Grundlage der Volkswohlfahrt anerkannt wird, in denen man aber auch überzeugt ist, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebe und daß der Deutsche insbesondere auch noch höhere Güter zu verteidigen habe als Getreide- und Eisenzölle. Ich will selbstverständlich nicht der Abschaffung der Zölle das Wort reden. Eine Entscheidung darüber, ob das Freihandels- oder Schutzzollsystem vorzuziehen sei, läßt sich generell überhaupt nicht treffen. Die deutsche Volks¬ wirtschaft ist beim Schutzzollsystem mächtig emporgeblüht. So lehrt das Ergebnis, daß das System gut ist. Nebenbei geht freilich eine andere Beobachtung: der Reichtum wächst nicht in allen Schichten gleichmäßig, und da er einige bevorzugt, wirken seine Folgeerscheinungen um so drückender auf die Mehrzahl.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/208>, abgerufen am 23.07.2024.