Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] fahrung. Allerdings hätte er sich darüber Hätte sie nun gar nichts gehabt, so wäre Der hier erzählte Fall steht keineswegs Das Testament soll den letzten Willen Wie dem abzuhelfen ist, weiß ich nicht Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] fahrung. Allerdings hätte er sich darüber Hätte sie nun gar nichts gehabt, so wäre Der hier erzählte Fall steht keineswegs Das Testament soll den letzten Willen Wie dem abzuhelfen ist, weiß ich nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319094"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1108" prev="#ID_1107"> fahrung. Allerdings hätte er sich darüber<lb/> unterrichten können; aber wenn man Plötzlich<lb/> zu einem Sterbenden gerufen wird, hat man<lb/> nicht immer die Zeit dazu. Sein Fehler<lb/> war also sehr verzeihlich, und doch sollte er<lb/> dafür mit einer Strafe von 100000 Mark<lb/> belegt werden; denn so viel betrug die Erb¬<lb/> schaft. Ein rein formales Versehen Hütte<lb/> ihn an den Bettelstab gebracht. Es ist daher<lb/> begreiflich, daß er trotz seiner zweifellosen<lb/> Schuld den Prozeß aufnahm, und wirklich<lb/> gewann er ihn, aber nicht auf Grund jeuer<lb/> sehr berechtigten Billigkeitserwägungen, sondern<lb/> wieder nur durch einen rein formalen<lb/> Advokatenkniff. Er berief sich darauf, daß<lb/> sein Protokoll, wie jedes andere, am Schluß<lb/> die Worte enthielt: „Vorgelesen und ge¬<lb/> nehmigt". In demi „genehmigt" liege aber<lb/> der Sinn, daß der Erblasser feine Unfähig¬<lb/> keit zu schreibe!? anerkannt habe, und damit<lb/> sei jene durch das Gesetz geforderte „Er¬<lb/> klärung" gegeben. Daraus hätte folgen<lb/> müssen, daß die Haushälterin nun doch ihre<lb/> Erbschaft antreten könne; doch das Reichs¬<lb/> gericht hatte gesprochen, und damit war jede<lb/> Hoffnung für sie endgültig verloren. Trotz¬<lb/> dem erkannte dasselbe Reichsgericht auch<lb/> jenen Grund des Amtsrichters an: In<lb/> früheren Entscheidungen, so führte es aus,<lb/> habe es den gleichen Standpunkt vertreten;<lb/> mithin sei er befugt gewesen, sich danach zu<lb/> richten. Seitdem aber hatte es seine Meinung<lb/> 'geändert, uuddie arme Frau mußte daS aus¬<lb/> baden. Da ihre Sache jetzt zum zweitenmal<lb/> alle Instanzen durchlaufen hatte, waren die<lb/> Prozeßkvsten auf das Doppelte angewachsen.</p> <p xml:id="ID_1109"> Hätte sie nun gar nichts gehabt, so wäre<lb/> sie nach Armenrecht von jener Zahlung be¬<lb/> freit gewesen. Aber durch die Vernichtung<lb/> des Testaments, das sie zur Universalerbin<lb/> einsetzte, war ein anderes, älteres rechts¬<lb/> kräftig geworden, und durch dieses empfing<lb/> sie ein kleines Legat. So war sie in der<lb/> Lage, die Prozeßkosten zu bezahlen, wodurch<lb/> dann freilich das Wenige, was sie sich durch<lb/> ihre hingebende Pflege des Kranken erworben<lb/> hatte, zum großen Teil verloren ging. Die<lb/> Verwandten, die für den Erblasser gar<lb/> nichts getan hatten und deshalb enterbe<lb/> werden sollten, konnten in ungetrübter Freude<lb/> ihres Triumphes genießen.</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1110"> Der hier erzählte Fall steht keineswegs<lb/> vereinzelt da. Ist es doch vorgekommen,<lb/> daß ein Testament nur deswegen umgestoßen<lb/> wurde, weil in dem darüber aufgenommenen<lb/> Protokoll statt „vorgelesen, genehmigt und<lb/> unterschrieben" durch irgendein Versehen<lb/> des Schreibers stand: „verlesen, genehmigt<lb/> und unterschrieben".</p> <p xml:id="ID_1111"> Das Testament soll den letzten Willen<lb/> des Verstorbenen feststellen. Die Formalien,<lb/> die dafür vorgeschrieben sind, haben keinen<lb/> anderen Zweck, als diese Feststellung mög¬<lb/> lichst zweifellos zu machen. Unsere Juristen<lb/> aber verfallen dem Fluch, jene Formalien<lb/> zum Selbstzweck zu erheben, und geraten<lb/> so in die Gefahr, das Recht nicht mehr<lb/> zu sichern, sondern es jedem Advokaten¬<lb/> kniff preiszugeben. Und dasselbe gilt für<lb/> jeden Vertrag, jede Willenserklärung; selbst<lb/> wenn man sie schriftlich aufsetzt und dabei<lb/> Sachverständige zuzieht, kann man niemals<lb/> wissen, ob sich nicht in ihr irgendein Häkchen<lb/> finden wird, durch das ein geschickter Rechts¬<lb/> anwalt ihre Nichtigkeit herbeiführen kann.<lb/> So segnet sich jeder Mensch, wenn er nichts<lb/> mit den Gerichten zu tun hat, und der Laie<lb/> ist nur zu leicht versucht, sie nicht mehr für<lb/> eine Quelle des Rechts, sondern der Rechts¬<lb/> unsicherheit zu halten.</p> <p xml:id="ID_1112" next="#ID_1113"> Wie dem abzuhelfen ist, weiß ich nicht<lb/> zu raten. Denn ich bin nicht Jurist, und<lb/> die Kenntnis des Rechts ist leider zu einer<lb/> Art von Kabbala geworden; es bewegt sich in<lb/> unverständlichen Zauberformeln, bei denen<lb/> eS nicht auf den Sinn ankommt, sondern<lb/> nur noch darauf, daß das vorgeschriebene<lb/> Wort im vorgeschriebenen Augenblick richtig<lb/> gesprochen oder geschrieben wird. Daß es<lb/> jemals wieder dazu gelangt, uns dem Emp¬<lb/> finden des Volkes hervorzuwachsen und da¬<lb/> durch ihm auch verständlich zu werden, auf<lb/> diese kühne Hoffnung verzichten wir. Daß<lb/> aber das Volk sich um sein Recht gar nicht<lb/> mehr kümmert, und wenn man einen Prozeß<lb/> zu führen hat, dies wie ein unverschuldetes<lb/> Unglück beklagt, dessen Folgen ebensowenig<lb/> vorauszusehen sind wie bei Hagelschlag oder<lb/> Erdbeben, dem müßte denn doch entgegen¬<lb/> getreten werden. Jeder Staatsbürger hat<lb/> nicht nur das Recht, soudern auch die Pflicht,<lb/> auf öffentliche Schäden, so gut er es versteht,</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0145]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
fahrung. Allerdings hätte er sich darüber
unterrichten können; aber wenn man Plötzlich
zu einem Sterbenden gerufen wird, hat man
nicht immer die Zeit dazu. Sein Fehler
war also sehr verzeihlich, und doch sollte er
dafür mit einer Strafe von 100000 Mark
belegt werden; denn so viel betrug die Erb¬
schaft. Ein rein formales Versehen Hütte
ihn an den Bettelstab gebracht. Es ist daher
begreiflich, daß er trotz seiner zweifellosen
Schuld den Prozeß aufnahm, und wirklich
gewann er ihn, aber nicht auf Grund jeuer
sehr berechtigten Billigkeitserwägungen, sondern
wieder nur durch einen rein formalen
Advokatenkniff. Er berief sich darauf, daß
sein Protokoll, wie jedes andere, am Schluß
die Worte enthielt: „Vorgelesen und ge¬
nehmigt". In demi „genehmigt" liege aber
der Sinn, daß der Erblasser feine Unfähig¬
keit zu schreibe!? anerkannt habe, und damit
sei jene durch das Gesetz geforderte „Er¬
klärung" gegeben. Daraus hätte folgen
müssen, daß die Haushälterin nun doch ihre
Erbschaft antreten könne; doch das Reichs¬
gericht hatte gesprochen, und damit war jede
Hoffnung für sie endgültig verloren. Trotz¬
dem erkannte dasselbe Reichsgericht auch
jenen Grund des Amtsrichters an: In
früheren Entscheidungen, so führte es aus,
habe es den gleichen Standpunkt vertreten;
mithin sei er befugt gewesen, sich danach zu
richten. Seitdem aber hatte es seine Meinung
'geändert, uuddie arme Frau mußte daS aus¬
baden. Da ihre Sache jetzt zum zweitenmal
alle Instanzen durchlaufen hatte, waren die
Prozeßkvsten auf das Doppelte angewachsen.
Hätte sie nun gar nichts gehabt, so wäre
sie nach Armenrecht von jener Zahlung be¬
freit gewesen. Aber durch die Vernichtung
des Testaments, das sie zur Universalerbin
einsetzte, war ein anderes, älteres rechts¬
kräftig geworden, und durch dieses empfing
sie ein kleines Legat. So war sie in der
Lage, die Prozeßkosten zu bezahlen, wodurch
dann freilich das Wenige, was sie sich durch
ihre hingebende Pflege des Kranken erworben
hatte, zum großen Teil verloren ging. Die
Verwandten, die für den Erblasser gar
nichts getan hatten und deshalb enterbe
werden sollten, konnten in ungetrübter Freude
ihres Triumphes genießen.
Der hier erzählte Fall steht keineswegs
vereinzelt da. Ist es doch vorgekommen,
daß ein Testament nur deswegen umgestoßen
wurde, weil in dem darüber aufgenommenen
Protokoll statt „vorgelesen, genehmigt und
unterschrieben" durch irgendein Versehen
des Schreibers stand: „verlesen, genehmigt
und unterschrieben".
Das Testament soll den letzten Willen
des Verstorbenen feststellen. Die Formalien,
die dafür vorgeschrieben sind, haben keinen
anderen Zweck, als diese Feststellung mög¬
lichst zweifellos zu machen. Unsere Juristen
aber verfallen dem Fluch, jene Formalien
zum Selbstzweck zu erheben, und geraten
so in die Gefahr, das Recht nicht mehr
zu sichern, sondern es jedem Advokaten¬
kniff preiszugeben. Und dasselbe gilt für
jeden Vertrag, jede Willenserklärung; selbst
wenn man sie schriftlich aufsetzt und dabei
Sachverständige zuzieht, kann man niemals
wissen, ob sich nicht in ihr irgendein Häkchen
finden wird, durch das ein geschickter Rechts¬
anwalt ihre Nichtigkeit herbeiführen kann.
So segnet sich jeder Mensch, wenn er nichts
mit den Gerichten zu tun hat, und der Laie
ist nur zu leicht versucht, sie nicht mehr für
eine Quelle des Rechts, sondern der Rechts¬
unsicherheit zu halten.
Wie dem abzuhelfen ist, weiß ich nicht
zu raten. Denn ich bin nicht Jurist, und
die Kenntnis des Rechts ist leider zu einer
Art von Kabbala geworden; es bewegt sich in
unverständlichen Zauberformeln, bei denen
eS nicht auf den Sinn ankommt, sondern
nur noch darauf, daß das vorgeschriebene
Wort im vorgeschriebenen Augenblick richtig
gesprochen oder geschrieben wird. Daß es
jemals wieder dazu gelangt, uns dem Emp¬
finden des Volkes hervorzuwachsen und da¬
durch ihm auch verständlich zu werden, auf
diese kühne Hoffnung verzichten wir. Daß
aber das Volk sich um sein Recht gar nicht
mehr kümmert, und wenn man einen Prozeß
zu führen hat, dies wie ein unverschuldetes
Unglück beklagt, dessen Folgen ebensowenig
vorauszusehen sind wie bei Hagelschlag oder
Erdbeben, dem müßte denn doch entgegen¬
getreten werden. Jeder Staatsbürger hat
nicht nur das Recht, soudern auch die Pflicht,
auf öffentliche Schäden, so gut er es versteht,
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