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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Kultur

Ständigkeit, die durch die geographische Abgeschlossenheit des Landes
bedingt war.

Nach allem, was bisher die Forschung gelehrt hat, sind die Chinesen von
Anbeginn an ihre eigenen Lehrmeister gewesen: ihre Kultur ist als eine im
wesentlichen autochthone zu betrachten, die sich selbständig und ohne nennenswerte
Beeinflussung von außen her entwickelt hat. Alles, was von ihrem angeblich
assyrisch-babylonischen Ursprung gefabelt worden ist, beruht auf luftigen Hypo¬
thesen, für die bisher auch nicht der Schimmer eines Beweises erbracht werden
konnte. Das einzige Beispiel fremden Einflusses, das sich in der chinesischen
Geschichte nachweisen läßt, ist die Einführung des Buddhismus und mit ihr
das Eindringen indischer Ideen. Aber so befruchtend auch der Buddhismus
auf die Religion, auf die bildende Kunst und bis zu einem gewissen Grade
auch auf die Literatur eingewirkt hat, die von alters her in sich gefestigte und
abgeschlossene chinesische Kulturwelt hat er nicht mehr umzugestalten vermocht.

Alles im allem genommen hat der Buddhismus dem Chinesentum wohl
mindestens ebenso viel Zugeständnisse gemacht wie dieses jenem.

Das zweite hier in Betracht kommende Moment ist das hohe Alter der
chinesischen Kultur.

Zwar ist das Jahr 841 v. Chr. das früheste Datum, bis zu welchem sich
die geschichtliche Überlieferung als chronologisch beglaubigt zurückführen läßt.
Die Überlieferung als solche reicht jedoch weit über diesen Zeitpunkt hinaus,
und bei dem eminent geschichtlichen Sinn der Chinesen haben wir nicht das
mindeste Recht, jene ohne weiteres als unglaubwürdig von der Hand zu weisen,
bloß weil sie sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit chronologisch fixieren läßt.
Aber selbst wenn wir das Jahr 841 v. Chr. als die äußerste zulässige Grenze
betrachten wollen, haben wir in den 3164 Büchern der chinesischen Reichs¬
annalen, die bis mut Beginn der gegenwärtig regierenden Dynastie, also bis
zum Jahre 1644 herabreichen, eine Kontinuität geschichtlicher Überlieferung vor
uns, in der die Ereignisse während eines Zeitraumes von zweiundeinhalb Jahr¬
tausenden mit peinlichster Genauigkeit nicht nur Jahr für Jahr, sondern Monat
für Monat, oft sogar Tag für Tag verzeichnet sind.

Hier stehen wir in der Tat vor einen: weltgeschichtlichen Unikum, dem kein
anderes Kulturvolk der Erde etwas ähnliches an die Seite zu stellen hätte. Und
dazu kommt ferner noch, daß dieser Zusammenhang zwischen Altertum und
Gegenwart nicht auf die geschichtliche Überlieferung allein beschränkt bleibt. Die
von Konfuzius gesammelten uralten, als heilig verehrten Texte, die zum Teil
bis tief ins zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung hinaufreichen, führen
in China nicht etwa, wie das bei uns wohl der Fall sein würde, ein ruhm¬
volles Dasein in Bibliotheken und Literaturgeschichten, sondern sie leben bis auf
den heutigen Tag als geistiger Besitz der Nation, weil jeder Chinese, der
Anspruch auf allgemeine Bildung erhebt, jene Texte nicht nur gelesen hat,
sondern größtenteils Wort für Wort auswendig kennt.


Bausteine der chinesischen Kultur

Ständigkeit, die durch die geographische Abgeschlossenheit des Landes
bedingt war.

Nach allem, was bisher die Forschung gelehrt hat, sind die Chinesen von
Anbeginn an ihre eigenen Lehrmeister gewesen: ihre Kultur ist als eine im
wesentlichen autochthone zu betrachten, die sich selbständig und ohne nennenswerte
Beeinflussung von außen her entwickelt hat. Alles, was von ihrem angeblich
assyrisch-babylonischen Ursprung gefabelt worden ist, beruht auf luftigen Hypo¬
thesen, für die bisher auch nicht der Schimmer eines Beweises erbracht werden
konnte. Das einzige Beispiel fremden Einflusses, das sich in der chinesischen
Geschichte nachweisen läßt, ist die Einführung des Buddhismus und mit ihr
das Eindringen indischer Ideen. Aber so befruchtend auch der Buddhismus
auf die Religion, auf die bildende Kunst und bis zu einem gewissen Grade
auch auf die Literatur eingewirkt hat, die von alters her in sich gefestigte und
abgeschlossene chinesische Kulturwelt hat er nicht mehr umzugestalten vermocht.

Alles im allem genommen hat der Buddhismus dem Chinesentum wohl
mindestens ebenso viel Zugeständnisse gemacht wie dieses jenem.

Das zweite hier in Betracht kommende Moment ist das hohe Alter der
chinesischen Kultur.

Zwar ist das Jahr 841 v. Chr. das früheste Datum, bis zu welchem sich
die geschichtliche Überlieferung als chronologisch beglaubigt zurückführen läßt.
Die Überlieferung als solche reicht jedoch weit über diesen Zeitpunkt hinaus,
und bei dem eminent geschichtlichen Sinn der Chinesen haben wir nicht das
mindeste Recht, jene ohne weiteres als unglaubwürdig von der Hand zu weisen,
bloß weil sie sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit chronologisch fixieren läßt.
Aber selbst wenn wir das Jahr 841 v. Chr. als die äußerste zulässige Grenze
betrachten wollen, haben wir in den 3164 Büchern der chinesischen Reichs¬
annalen, die bis mut Beginn der gegenwärtig regierenden Dynastie, also bis
zum Jahre 1644 herabreichen, eine Kontinuität geschichtlicher Überlieferung vor
uns, in der die Ereignisse während eines Zeitraumes von zweiundeinhalb Jahr¬
tausenden mit peinlichster Genauigkeit nicht nur Jahr für Jahr, sondern Monat
für Monat, oft sogar Tag für Tag verzeichnet sind.

Hier stehen wir in der Tat vor einen: weltgeschichtlichen Unikum, dem kein
anderes Kulturvolk der Erde etwas ähnliches an die Seite zu stellen hätte. Und
dazu kommt ferner noch, daß dieser Zusammenhang zwischen Altertum und
Gegenwart nicht auf die geschichtliche Überlieferung allein beschränkt bleibt. Die
von Konfuzius gesammelten uralten, als heilig verehrten Texte, die zum Teil
bis tief ins zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung hinaufreichen, führen
in China nicht etwa, wie das bei uns wohl der Fall sein würde, ein ruhm¬
volles Dasein in Bibliotheken und Literaturgeschichten, sondern sie leben bis auf
den heutigen Tag als geistiger Besitz der Nation, weil jeder Chinese, der
Anspruch auf allgemeine Bildung erhebt, jene Texte nicht nur gelesen hat,
sondern größtenteils Wort für Wort auswendig kennt.


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[0122] Bausteine der chinesischen Kultur Ständigkeit, die durch die geographische Abgeschlossenheit des Landes bedingt war. Nach allem, was bisher die Forschung gelehrt hat, sind die Chinesen von Anbeginn an ihre eigenen Lehrmeister gewesen: ihre Kultur ist als eine im wesentlichen autochthone zu betrachten, die sich selbständig und ohne nennenswerte Beeinflussung von außen her entwickelt hat. Alles, was von ihrem angeblich assyrisch-babylonischen Ursprung gefabelt worden ist, beruht auf luftigen Hypo¬ thesen, für die bisher auch nicht der Schimmer eines Beweises erbracht werden konnte. Das einzige Beispiel fremden Einflusses, das sich in der chinesischen Geschichte nachweisen läßt, ist die Einführung des Buddhismus und mit ihr das Eindringen indischer Ideen. Aber so befruchtend auch der Buddhismus auf die Religion, auf die bildende Kunst und bis zu einem gewissen Grade auch auf die Literatur eingewirkt hat, die von alters her in sich gefestigte und abgeschlossene chinesische Kulturwelt hat er nicht mehr umzugestalten vermocht. Alles im allem genommen hat der Buddhismus dem Chinesentum wohl mindestens ebenso viel Zugeständnisse gemacht wie dieses jenem. Das zweite hier in Betracht kommende Moment ist das hohe Alter der chinesischen Kultur. Zwar ist das Jahr 841 v. Chr. das früheste Datum, bis zu welchem sich die geschichtliche Überlieferung als chronologisch beglaubigt zurückführen läßt. Die Überlieferung als solche reicht jedoch weit über diesen Zeitpunkt hinaus, und bei dem eminent geschichtlichen Sinn der Chinesen haben wir nicht das mindeste Recht, jene ohne weiteres als unglaubwürdig von der Hand zu weisen, bloß weil sie sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit chronologisch fixieren läßt. Aber selbst wenn wir das Jahr 841 v. Chr. als die äußerste zulässige Grenze betrachten wollen, haben wir in den 3164 Büchern der chinesischen Reichs¬ annalen, die bis mut Beginn der gegenwärtig regierenden Dynastie, also bis zum Jahre 1644 herabreichen, eine Kontinuität geschichtlicher Überlieferung vor uns, in der die Ereignisse während eines Zeitraumes von zweiundeinhalb Jahr¬ tausenden mit peinlichster Genauigkeit nicht nur Jahr für Jahr, sondern Monat für Monat, oft sogar Tag für Tag verzeichnet sind. Hier stehen wir in der Tat vor einen: weltgeschichtlichen Unikum, dem kein anderes Kulturvolk der Erde etwas ähnliches an die Seite zu stellen hätte. Und dazu kommt ferner noch, daß dieser Zusammenhang zwischen Altertum und Gegenwart nicht auf die geschichtliche Überlieferung allein beschränkt bleibt. Die von Konfuzius gesammelten uralten, als heilig verehrten Texte, die zum Teil bis tief ins zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung hinaufreichen, führen in China nicht etwa, wie das bei uns wohl der Fall sein würde, ein ruhm¬ volles Dasein in Bibliotheken und Literaturgeschichten, sondern sie leben bis auf den heutigen Tag als geistiger Besitz der Nation, weil jeder Chinese, der Anspruch auf allgemeine Bildung erhebt, jene Texte nicht nur gelesen hat, sondern größtenteils Wort für Wort auswendig kennt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/122>, abgerufen am 10.01.2025.