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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Werke verstanden, den empfänglichen Leser
in tiefstem Herzen zu Packen und mit den
schlichtesten Mitteln die ergreifendste Wirkung
auszuüben,

Für die große Zahl derer, die Raabes
Lebenswerk nahe stehen, bedarf eS ja keines
Wortes der Empfehlung; sie werden schon
längst bor Verlangen brennen, sich noch ein¬
mal von dem erfahrenen, liebevollen Seelen-
künder und Herzensdeuter durch allerlei
Menschenschicksale führen zu lassen, und der
Weg wird sie nicht gereuen.

Die aber dem Dichter noch ferne stehen
und nur wenig bon ihm kennen und glauben,
mit dem "Hungerpastor" und der "Chronik
der Sperlingsgasse" den Dichter "erledigt zu
haben", sollen nachdrücklich auf dieses Buch
hingewiesen werden.

Freilich, die große Masse der stoffhuugrigen
und sensationsdurstigen Leser wird in diesem
feinen, stillen Buche nicht auf ihre Kosten
kommen, und wer sich nicht die Zeit nehmen
will und kann, mit dem Dichter behaglich zu
schlendern und geruhsam zu verweilen, der
lasse seine Hand lieber von dem Buche. Das
was man so Handlung des Romans nennt,
ist mit wenig Worten erzählt: In dem Wirkt.
Geh. Obermedizinalrat Prof. Dr. Feyerabend
steigt mitten in der glanzvollen Feier seines sieb¬
zigsten Geburtstag? Plötzlich die Erinnerung
an seinen ältesten Jugendfreund und an sein
Heimatsstädtcheu auf. Die Erinnerung ver¬
dichtet sich dann, als er auf seinem Altenteil
von heißer, erfolggekrönter Lebensarbeit aus¬
ruht, zur brennenden Sehnsucht nach den
Stätten seinerKnaoenjnhre und seincmFreunde
Ludchen Bock, bis er schließlich noch Alters¬
hausen reist. Hier verlebt er im Traum und
im Wachen, im gespenstischen Mondschein uno
im leuchtenden Sonnenschein jene glücklichen
Jahre noch einmal. Er findet den Freund,
wie er ihn vor sechzig Jahren hier gelassen;
denn der Arme hat als zwölfjähriger Junge
infolge eines unglücklichen Sturzes schweren
geistigen Schaden erlitten, und sein Denken
und Empfinden ist auf dem Standpunkte
jeuer Tage stehen geblieben. Er findet die
Jugendfreundin Minchen Ahrens, die nach
schwerem Herzonsschicksal den verwaisten, ver¬
blödeten Jugendfreund zu sich genommen und
durch fast fünfzig Jahre wie eine Mutter gehegt

[Spaltenumbruch]

und gepflegt hat -- eine kleine, enge, arme
Welt und doch welche Fülle und Tiefe, welcher
Glanz und Reichtum tut sich vor den, Leser
auf, dein nichts Menschliches fremd ist. Wohl
verweilt der Dichter auch bei dem Kleinsten
und Unbedeutendsten, aber wir geben ihm
Recht, wenn er sagt: "Wem dehnen sich nicht
in der Erinnerung glückliche Kindheitstage zu
Äonen, während erfolgreichste Arbeitsjahre zu
Augenblicken einschrumpfen?" Mitten in dem
Bericht, den Minchen Ahrens dem Jugend¬
freund Fritz Feyerabend von ihrem schweren
Herzeleid gibt, bricht der Dichter ab -- wir
hätten ihm und ihr gern noch stundenlang
zugehört.

Wie schade, werden manche Leser sagen,
daß der Roman unvollendet geblieben ist;
und doch, wenn wir's recht bedenken, müssen
wir dem Herausgeber -- Raabes Schwieger¬
sohn Paul Wasserfall -- recht geben, wenn
er in seinem kurzen Nachwort die Frage, ob
wir es zu bedauern haben, daß "Altershausen"
ein Fragment geblieben ist, mit "Nein" beant¬
wortet. Die Begründung mag der Leser auf
Seite 2i>3 selber nachlesen. Was der Dichter
in dem engen Rahmen dieser Geschehnisse an
Feinen und sinnigen, an Lebensweisheit
und weltüberwindenden Humor bietet, das
mag der Leser selbst suchen, er wird reiche
Ernte halten.

Nnabe hat uns schon manche Jugend¬
freundschaft geschildert, von der Sperlingsgasse
über den Hungerpastor zu den Akten des
Bogelsangs -- diese letzte aus Altershausen
gleicht keiner und steht keiner von ihnen nach.
Und eins noch gibt dein Buche einen besondern
Wert: So wenig die äußeren Schicksale dieses
Greises, der in sein Jugendland zurückkehrt,
mit denen unseres Dichters übereinstimmen,
man hat doch immer wieder das Gefühl, daß
unendlich viel Persönlichstes, Eigenstes dahinter¬
stecke, daß in diesem Werke Bruchstücke einer
großen Konfession enthalten sind, die uns den
herrlichen Menschen lieben lehren. Die wenigen
Worte, die der des Vaters früh Beraubte
seiner Mutter widmet, sind sicherlich ein Dank
des Dichters an seine eigene Mutter.

Mit inniger Rührung und Dankbarkeit
legt man das Buch aus der Hand, aber noch
lange beschäftigt eS einen, die Gestalten lassen
einen nicht los, und bald greift man wieder

[Ende Spaltensatz]
Grenzboten II 191174
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Werke verstanden, den empfänglichen Leser
in tiefstem Herzen zu Packen und mit den
schlichtesten Mitteln die ergreifendste Wirkung
auszuüben,

Für die große Zahl derer, die Raabes
Lebenswerk nahe stehen, bedarf eS ja keines
Wortes der Empfehlung; sie werden schon
längst bor Verlangen brennen, sich noch ein¬
mal von dem erfahrenen, liebevollen Seelen-
künder und Herzensdeuter durch allerlei
Menschenschicksale führen zu lassen, und der
Weg wird sie nicht gereuen.

Die aber dem Dichter noch ferne stehen
und nur wenig bon ihm kennen und glauben,
mit dem „Hungerpastor" und der „Chronik
der Sperlingsgasse" den Dichter „erledigt zu
haben", sollen nachdrücklich auf dieses Buch
hingewiesen werden.

Freilich, die große Masse der stoffhuugrigen
und sensationsdurstigen Leser wird in diesem
feinen, stillen Buche nicht auf ihre Kosten
kommen, und wer sich nicht die Zeit nehmen
will und kann, mit dem Dichter behaglich zu
schlendern und geruhsam zu verweilen, der
lasse seine Hand lieber von dem Buche. Das
was man so Handlung des Romans nennt,
ist mit wenig Worten erzählt: In dem Wirkt.
Geh. Obermedizinalrat Prof. Dr. Feyerabend
steigt mitten in der glanzvollen Feier seines sieb¬
zigsten Geburtstag? Plötzlich die Erinnerung
an seinen ältesten Jugendfreund und an sein
Heimatsstädtcheu auf. Die Erinnerung ver¬
dichtet sich dann, als er auf seinem Altenteil
von heißer, erfolggekrönter Lebensarbeit aus¬
ruht, zur brennenden Sehnsucht nach den
Stätten seinerKnaoenjnhre und seincmFreunde
Ludchen Bock, bis er schließlich noch Alters¬
hausen reist. Hier verlebt er im Traum und
im Wachen, im gespenstischen Mondschein uno
im leuchtenden Sonnenschein jene glücklichen
Jahre noch einmal. Er findet den Freund,
wie er ihn vor sechzig Jahren hier gelassen;
denn der Arme hat als zwölfjähriger Junge
infolge eines unglücklichen Sturzes schweren
geistigen Schaden erlitten, und sein Denken
und Empfinden ist auf dem Standpunkte
jeuer Tage stehen geblieben. Er findet die
Jugendfreundin Minchen Ahrens, die nach
schwerem Herzonsschicksal den verwaisten, ver¬
blödeten Jugendfreund zu sich genommen und
durch fast fünfzig Jahre wie eine Mutter gehegt

[Spaltenumbruch]

und gepflegt hat — eine kleine, enge, arme
Welt und doch welche Fülle und Tiefe, welcher
Glanz und Reichtum tut sich vor den, Leser
auf, dein nichts Menschliches fremd ist. Wohl
verweilt der Dichter auch bei dem Kleinsten
und Unbedeutendsten, aber wir geben ihm
Recht, wenn er sagt: „Wem dehnen sich nicht
in der Erinnerung glückliche Kindheitstage zu
Äonen, während erfolgreichste Arbeitsjahre zu
Augenblicken einschrumpfen?" Mitten in dem
Bericht, den Minchen Ahrens dem Jugend¬
freund Fritz Feyerabend von ihrem schweren
Herzeleid gibt, bricht der Dichter ab — wir
hätten ihm und ihr gern noch stundenlang
zugehört.

Wie schade, werden manche Leser sagen,
daß der Roman unvollendet geblieben ist;
und doch, wenn wir's recht bedenken, müssen
wir dem Herausgeber — Raabes Schwieger¬
sohn Paul Wasserfall — recht geben, wenn
er in seinem kurzen Nachwort die Frage, ob
wir es zu bedauern haben, daß „Altershausen"
ein Fragment geblieben ist, mit „Nein" beant¬
wortet. Die Begründung mag der Leser auf
Seite 2i>3 selber nachlesen. Was der Dichter
in dem engen Rahmen dieser Geschehnisse an
Feinen und sinnigen, an Lebensweisheit
und weltüberwindenden Humor bietet, das
mag der Leser selbst suchen, er wird reiche
Ernte halten.

Nnabe hat uns schon manche Jugend¬
freundschaft geschildert, von der Sperlingsgasse
über den Hungerpastor zu den Akten des
Bogelsangs — diese letzte aus Altershausen
gleicht keiner und steht keiner von ihnen nach.
Und eins noch gibt dein Buche einen besondern
Wert: So wenig die äußeren Schicksale dieses
Greises, der in sein Jugendland zurückkehrt,
mit denen unseres Dichters übereinstimmen,
man hat doch immer wieder das Gefühl, daß
unendlich viel Persönlichstes, Eigenstes dahinter¬
stecke, daß in diesem Werke Bruchstücke einer
großen Konfession enthalten sind, die uns den
herrlichen Menschen lieben lehren. Die wenigen
Worte, die der des Vaters früh Beraubte
seiner Mutter widmet, sind sicherlich ein Dank
des Dichters an seine eigene Mutter.

Mit inniger Rührung und Dankbarkeit
legt man das Buch aus der Hand, aber noch
lange beschäftigt eS einen, die Gestalten lassen
einen nicht los, und bald greift man wieder

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Grenzboten II 191174
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[0597] Maßgebliches und Unmaßgebliches Werke verstanden, den empfänglichen Leser in tiefstem Herzen zu Packen und mit den schlichtesten Mitteln die ergreifendste Wirkung auszuüben, Für die große Zahl derer, die Raabes Lebenswerk nahe stehen, bedarf eS ja keines Wortes der Empfehlung; sie werden schon längst bor Verlangen brennen, sich noch ein¬ mal von dem erfahrenen, liebevollen Seelen- künder und Herzensdeuter durch allerlei Menschenschicksale führen zu lassen, und der Weg wird sie nicht gereuen. Die aber dem Dichter noch ferne stehen und nur wenig bon ihm kennen und glauben, mit dem „Hungerpastor" und der „Chronik der Sperlingsgasse" den Dichter „erledigt zu haben", sollen nachdrücklich auf dieses Buch hingewiesen werden. Freilich, die große Masse der stoffhuugrigen und sensationsdurstigen Leser wird in diesem feinen, stillen Buche nicht auf ihre Kosten kommen, und wer sich nicht die Zeit nehmen will und kann, mit dem Dichter behaglich zu schlendern und geruhsam zu verweilen, der lasse seine Hand lieber von dem Buche. Das was man so Handlung des Romans nennt, ist mit wenig Worten erzählt: In dem Wirkt. Geh. Obermedizinalrat Prof. Dr. Feyerabend steigt mitten in der glanzvollen Feier seines sieb¬ zigsten Geburtstag? Plötzlich die Erinnerung an seinen ältesten Jugendfreund und an sein Heimatsstädtcheu auf. Die Erinnerung ver¬ dichtet sich dann, als er auf seinem Altenteil von heißer, erfolggekrönter Lebensarbeit aus¬ ruht, zur brennenden Sehnsucht nach den Stätten seinerKnaoenjnhre und seincmFreunde Ludchen Bock, bis er schließlich noch Alters¬ hausen reist. Hier verlebt er im Traum und im Wachen, im gespenstischen Mondschein uno im leuchtenden Sonnenschein jene glücklichen Jahre noch einmal. Er findet den Freund, wie er ihn vor sechzig Jahren hier gelassen; denn der Arme hat als zwölfjähriger Junge infolge eines unglücklichen Sturzes schweren geistigen Schaden erlitten, und sein Denken und Empfinden ist auf dem Standpunkte jeuer Tage stehen geblieben. Er findet die Jugendfreundin Minchen Ahrens, die nach schwerem Herzonsschicksal den verwaisten, ver¬ blödeten Jugendfreund zu sich genommen und durch fast fünfzig Jahre wie eine Mutter gehegt und gepflegt hat — eine kleine, enge, arme Welt und doch welche Fülle und Tiefe, welcher Glanz und Reichtum tut sich vor den, Leser auf, dein nichts Menschliches fremd ist. Wohl verweilt der Dichter auch bei dem Kleinsten und Unbedeutendsten, aber wir geben ihm Recht, wenn er sagt: „Wem dehnen sich nicht in der Erinnerung glückliche Kindheitstage zu Äonen, während erfolgreichste Arbeitsjahre zu Augenblicken einschrumpfen?" Mitten in dem Bericht, den Minchen Ahrens dem Jugend¬ freund Fritz Feyerabend von ihrem schweren Herzeleid gibt, bricht der Dichter ab — wir hätten ihm und ihr gern noch stundenlang zugehört. Wie schade, werden manche Leser sagen, daß der Roman unvollendet geblieben ist; und doch, wenn wir's recht bedenken, müssen wir dem Herausgeber — Raabes Schwieger¬ sohn Paul Wasserfall — recht geben, wenn er in seinem kurzen Nachwort die Frage, ob wir es zu bedauern haben, daß „Altershausen" ein Fragment geblieben ist, mit „Nein" beant¬ wortet. Die Begründung mag der Leser auf Seite 2i>3 selber nachlesen. Was der Dichter in dem engen Rahmen dieser Geschehnisse an Feinen und sinnigen, an Lebensweisheit und weltüberwindenden Humor bietet, das mag der Leser selbst suchen, er wird reiche Ernte halten. Nnabe hat uns schon manche Jugend¬ freundschaft geschildert, von der Sperlingsgasse über den Hungerpastor zu den Akten des Bogelsangs — diese letzte aus Altershausen gleicht keiner und steht keiner von ihnen nach. Und eins noch gibt dein Buche einen besondern Wert: So wenig die äußeren Schicksale dieses Greises, der in sein Jugendland zurückkehrt, mit denen unseres Dichters übereinstimmen, man hat doch immer wieder das Gefühl, daß unendlich viel Persönlichstes, Eigenstes dahinter¬ stecke, daß in diesem Werke Bruchstücke einer großen Konfession enthalten sind, die uns den herrlichen Menschen lieben lehren. Die wenigen Worte, die der des Vaters früh Beraubte seiner Mutter widmet, sind sicherlich ein Dank des Dichters an seine eigene Mutter. Mit inniger Rührung und Dankbarkeit legt man das Buch aus der Hand, aber noch lange beschäftigt eS einen, die Gestalten lassen einen nicht los, und bald greift man wieder Grenzboten II 191174

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/597>, abgerufen am 26.06.2024.