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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Für das Erbrecht dos Reiches

des Erbrechts ist während des letzten Menschenalters sehr viel klarer geworden.
Es wäre meines Erachtens nicht mehr ein unreifes Wagnis, sondern eine große,
segensreiche Tat, wenn das Deutsche Reich, indem es das Familien- und Erbrecht
neu ordnet, dieselbe mit den großen Mitteln, über die es verfügt, in die Hand
nähme und durchführte (I. C. Bluntschli: Gesammelte kleine Schriften. Band I,
S. 254, 256, 257). Die klassische Schrift auf dem Gebiete der Erbrechtsreform
aber verdanken wir Prof. Dr. Hans v. Scheel, weiland Präsident des Kaiserlichen
Statistischen Amts in Berlin. Sie erschien im Jahre 1877 unter dem Titel: "Erb¬
schaftssteuern und Erbrechtsreform". Eine Probe mag genügen, um zu zeigen,
wie schlicht und überzeugend der Verfasser den Gegenstand behandelt. Er sagt:
Das Bewußtsein einer wirklichen sittlichen und wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit
erstreckt sich in unserer modernen Gesellschaft, und je beweglicher sie sich ent¬
wickelt, desto weniger, nicht mehr über die nächsten Verwandtschaftsgrade hinaus,
ein Stammesbewußtsein gibt es nicht mehr und kann es angesichts des heutigen,
nach Individualisierung und Beweglichkeit strebenden Volkslebens gar nicht mehr
geben. Also, wenn und soweit die gegenwärtigen Erbrechte auf der Voraus¬
setzung eines solchen Zusammenhanges beruhen, wird dieser eben durch sie
fälschlich fingiert oder im besten Falle dadurch künstlich geschaffen, daß er sonst
nicht verbundene Personen durch das Interesse der Erbanwartschaft zusammen
verknüpft. Und weiter wird jedermann zugeben müssen, daß ein Erbrecht,
welches nur die Tatsache der Blutmischung in irgendwelcher beliebigen Ver¬
dünnung zur Grundlage hat, auf einer sehr willkürlichen und unzureichenden
und weder in Volkswirtschaft noch Moral genügend zu rechtfertigenden Grund¬
lage beruht, und ferner, daß, soweit dies der Fall ist, vermutlich auch eine
Veränderung des Erbrechts nicht sowohl schädliche Folgen haben würde, als
vielmehr leicht auf eine für den Volkswohlstand zweckmäßigere Erbfolge hinaus¬
kommen könnte. Ein ziemlich schlagender Beweis dafür, daß dies der Fall sein
werde, dürfte darin gefunden werden, daß man überall in den modernen Staaten
eine mehr oder weniger weitgehende Testierfreiheit eingeführt hat und sie zu
erweitern sucht. Das ist aber offenbar ein Institut, durch welches bewiesen
wird, daß die gesetzliche Erbfolge entfernter Verwandter eine wirtschaftliche und
sittliche Notwendigkeit nicht ist, vielmehr nur ein Auskunftsmittel aus der Ver¬
legenheit, eine andere Verwendung für die Verlassenschaften zu finden. Hans
v. Scheel war unerschütterlich überzeugt von den: Siege der von ihm so vor¬
trefflich vertretenen Sache. Er schrieb mir im Jahre 1894: "Wenn auch im
Augenblick die Strömung in Deutschland der Erbschaftssteuer ungünstig ist. die
zu einer Erbrechtsreform hinüberleiten könnte, auch diese selbst im neuen Bürger¬
lichen Gesetzbuch wohl kaun: eine Förderung finden wird, -- die Zeit kommt
doch noch." Es war ihm leider nicht beschieden, den Gedanken verwirklicht zu
sehen, dem ein guter Teil seiner Lebensarbeit gewidmet war. Er starb am
17. Dezember'1901. Sein Name wird in der Geschichte der Erbrechtsreform
immer mit Ehren genannt werden.


Für das Erbrecht dos Reiches

des Erbrechts ist während des letzten Menschenalters sehr viel klarer geworden.
Es wäre meines Erachtens nicht mehr ein unreifes Wagnis, sondern eine große,
segensreiche Tat, wenn das Deutsche Reich, indem es das Familien- und Erbrecht
neu ordnet, dieselbe mit den großen Mitteln, über die es verfügt, in die Hand
nähme und durchführte (I. C. Bluntschli: Gesammelte kleine Schriften. Band I,
S. 254, 256, 257). Die klassische Schrift auf dem Gebiete der Erbrechtsreform
aber verdanken wir Prof. Dr. Hans v. Scheel, weiland Präsident des Kaiserlichen
Statistischen Amts in Berlin. Sie erschien im Jahre 1877 unter dem Titel: „Erb¬
schaftssteuern und Erbrechtsreform". Eine Probe mag genügen, um zu zeigen,
wie schlicht und überzeugend der Verfasser den Gegenstand behandelt. Er sagt:
Das Bewußtsein einer wirklichen sittlichen und wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit
erstreckt sich in unserer modernen Gesellschaft, und je beweglicher sie sich ent¬
wickelt, desto weniger, nicht mehr über die nächsten Verwandtschaftsgrade hinaus,
ein Stammesbewußtsein gibt es nicht mehr und kann es angesichts des heutigen,
nach Individualisierung und Beweglichkeit strebenden Volkslebens gar nicht mehr
geben. Also, wenn und soweit die gegenwärtigen Erbrechte auf der Voraus¬
setzung eines solchen Zusammenhanges beruhen, wird dieser eben durch sie
fälschlich fingiert oder im besten Falle dadurch künstlich geschaffen, daß er sonst
nicht verbundene Personen durch das Interesse der Erbanwartschaft zusammen
verknüpft. Und weiter wird jedermann zugeben müssen, daß ein Erbrecht,
welches nur die Tatsache der Blutmischung in irgendwelcher beliebigen Ver¬
dünnung zur Grundlage hat, auf einer sehr willkürlichen und unzureichenden
und weder in Volkswirtschaft noch Moral genügend zu rechtfertigenden Grund¬
lage beruht, und ferner, daß, soweit dies der Fall ist, vermutlich auch eine
Veränderung des Erbrechts nicht sowohl schädliche Folgen haben würde, als
vielmehr leicht auf eine für den Volkswohlstand zweckmäßigere Erbfolge hinaus¬
kommen könnte. Ein ziemlich schlagender Beweis dafür, daß dies der Fall sein
werde, dürfte darin gefunden werden, daß man überall in den modernen Staaten
eine mehr oder weniger weitgehende Testierfreiheit eingeführt hat und sie zu
erweitern sucht. Das ist aber offenbar ein Institut, durch welches bewiesen
wird, daß die gesetzliche Erbfolge entfernter Verwandter eine wirtschaftliche und
sittliche Notwendigkeit nicht ist, vielmehr nur ein Auskunftsmittel aus der Ver¬
legenheit, eine andere Verwendung für die Verlassenschaften zu finden. Hans
v. Scheel war unerschütterlich überzeugt von den: Siege der von ihm so vor¬
trefflich vertretenen Sache. Er schrieb mir im Jahre 1894: „Wenn auch im
Augenblick die Strömung in Deutschland der Erbschaftssteuer ungünstig ist. die
zu einer Erbrechtsreform hinüberleiten könnte, auch diese selbst im neuen Bürger¬
lichen Gesetzbuch wohl kaun: eine Förderung finden wird, — die Zeit kommt
doch noch." Es war ihm leider nicht beschieden, den Gedanken verwirklicht zu
sehen, dem ein guter Teil seiner Lebensarbeit gewidmet war. Er starb am
17. Dezember'1901. Sein Name wird in der Geschichte der Erbrechtsreform
immer mit Ehren genannt werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/495>, abgerufen am 22.07.2024.