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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rassodicnst

Organ, sowie die schwächende Wirkung des Nichtgebrauches hatte vor Darwin
schon Lamarck (wie zum Teil auch Se. Hilaire) in seiner Entwicklungslehre
betont. Daher bezeichnet man Forscher, die in diesen Faktoren die wesentlichen
Ursachen der Entwicklung sehen, als Lamarckisten. Die reinen Selektionisten
oder Neudarwinianer stellen demgegenüber die Wirkung der Zuchtwahl in den
Vordergrund und leugnen, daß die Wirkungen des Gebrauchs der Organe von
den Eltern auf die Kinder übertragen werden; sie köunten dann als artentwickelnde
Faktoren nicht in Frage kommen. Wenn von zwei Brüdern mit gleicher Muskel¬
anlage der eine Briefbote wird und durch starken Gebrauch seine Beinmuskulatur
kräftigt, während der andere Schmied wird und seine Armmuskeln hervorragend
ausbildet, so erben nach neudarwiuistischer Auffassung die Kinder der Brüder
diese verschiedenen, im Einzelleben erworbenen Anpassungen an die genannten
Berufe nicht. Schallmayer vertritt, diese neudarwinistische Leugnung der Ver¬
erbung individuell erworbener Eigenschaften einzelner Organe, während Alt-
darwinianer und Lamarckisten die Erblichkeit solcher individuellen Erwerbungen
annehmen. Mir scheint es aber, daß in dieser schwierigen Streitfrage in letzter
Zeit gar manches zugunsten der lamarckistischen Annahme beigebracht worden
ist. Man hat über eine Anzahl von Fällen berichtet, in denen von den Eltern
erworbene Eigenschaften einzelner Organe oder Veränderungen von Instinkten
in sehr deutlicher Weise auch bei deu Nachkommen auftraten. (Ich verweise
nur auf die neueste, sehr beachtenswerte Zusammenfassung von Semon im
zweiten Bande der "Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung", Berlin
und Wien, 1910.)

Zeitweise neigte auch ich zu der von Schallmayer vertretenen neudarwinistischen
Lehre; ich halte aber -- bei aller Zurückhaltung einem so schwierigen Problem
gegenüber -- die Geringschätzung, die Schallmayer den Lamarckschen Faktoren
entgegenbringt, heute nicht für berechtigt. Die Möglichkeit, daß im Einzelleben
durch Übung oder auf andere Weise erworbene körperliche und seelische Vorzüge
sich unter Umständen vererben und zur Höherentwicklung der Menschheit in
beträchtlichem Maße beitragen können, ist nach den neuesten Versuchsergebnissen
wenigstens im Auge zu behalten. Die Bedeutung der Zuchtwahl, der Auslese
der Besten, zur Züchtung eines besseren Schlages, bleibt aber bestehen; selbst
scharfe Gegner der darwinistischen und neudarwinistischen Selektionslehre leugnen
diese Bedeutung nicht völlig. Für viele Zwecke der Eugenik braucht man sich
wir auf die 'feststehenden Erfolge der künstlichen Zuchtwahl zu stützen; jene
strittigen Fragen, wieviel bei der großen Entwicklung des Tier- und Pflanzen¬
reichs de^ Selektion, wieviel den lamarckistischen Faktoren oder irgendwelchen
anderen Entwicklungskosten zu verdanken sei. können vorläufig außer Betracht
bleiben. Und es wird nützlich sein, Annahmen, die viele und wissenschaftlich
beachtenswerte Gegnerhaben, beider Grundlegung der Eugeniktunlichstzurückzustellen.

Wie Tiere und Pflanzen ist auch der Mensch deu Gesetzen der Vererbung
unterworfen. In der langen Entwicklung, die zur Menschwerdung hinführte,


"renzbotm II 1911 66
Rassodicnst

Organ, sowie die schwächende Wirkung des Nichtgebrauches hatte vor Darwin
schon Lamarck (wie zum Teil auch Se. Hilaire) in seiner Entwicklungslehre
betont. Daher bezeichnet man Forscher, die in diesen Faktoren die wesentlichen
Ursachen der Entwicklung sehen, als Lamarckisten. Die reinen Selektionisten
oder Neudarwinianer stellen demgegenüber die Wirkung der Zuchtwahl in den
Vordergrund und leugnen, daß die Wirkungen des Gebrauchs der Organe von
den Eltern auf die Kinder übertragen werden; sie köunten dann als artentwickelnde
Faktoren nicht in Frage kommen. Wenn von zwei Brüdern mit gleicher Muskel¬
anlage der eine Briefbote wird und durch starken Gebrauch seine Beinmuskulatur
kräftigt, während der andere Schmied wird und seine Armmuskeln hervorragend
ausbildet, so erben nach neudarwiuistischer Auffassung die Kinder der Brüder
diese verschiedenen, im Einzelleben erworbenen Anpassungen an die genannten
Berufe nicht. Schallmayer vertritt, diese neudarwinistische Leugnung der Ver¬
erbung individuell erworbener Eigenschaften einzelner Organe, während Alt-
darwinianer und Lamarckisten die Erblichkeit solcher individuellen Erwerbungen
annehmen. Mir scheint es aber, daß in dieser schwierigen Streitfrage in letzter
Zeit gar manches zugunsten der lamarckistischen Annahme beigebracht worden
ist. Man hat über eine Anzahl von Fällen berichtet, in denen von den Eltern
erworbene Eigenschaften einzelner Organe oder Veränderungen von Instinkten
in sehr deutlicher Weise auch bei deu Nachkommen auftraten. (Ich verweise
nur auf die neueste, sehr beachtenswerte Zusammenfassung von Semon im
zweiten Bande der „Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung", Berlin
und Wien, 1910.)

Zeitweise neigte auch ich zu der von Schallmayer vertretenen neudarwinistischen
Lehre; ich halte aber — bei aller Zurückhaltung einem so schwierigen Problem
gegenüber — die Geringschätzung, die Schallmayer den Lamarckschen Faktoren
entgegenbringt, heute nicht für berechtigt. Die Möglichkeit, daß im Einzelleben
durch Übung oder auf andere Weise erworbene körperliche und seelische Vorzüge
sich unter Umständen vererben und zur Höherentwicklung der Menschheit in
beträchtlichem Maße beitragen können, ist nach den neuesten Versuchsergebnissen
wenigstens im Auge zu behalten. Die Bedeutung der Zuchtwahl, der Auslese
der Besten, zur Züchtung eines besseren Schlages, bleibt aber bestehen; selbst
scharfe Gegner der darwinistischen und neudarwinistischen Selektionslehre leugnen
diese Bedeutung nicht völlig. Für viele Zwecke der Eugenik braucht man sich
wir auf die 'feststehenden Erfolge der künstlichen Zuchtwahl zu stützen; jene
strittigen Fragen, wieviel bei der großen Entwicklung des Tier- und Pflanzen¬
reichs de^ Selektion, wieviel den lamarckistischen Faktoren oder irgendwelchen
anderen Entwicklungskosten zu verdanken sei. können vorläufig außer Betracht
bleiben. Und es wird nützlich sein, Annahmen, die viele und wissenschaftlich
beachtenswerte Gegnerhaben, beider Grundlegung der Eugeniktunlichstzurückzustellen.

Wie Tiere und Pflanzen ist auch der Mensch deu Gesetzen der Vererbung
unterworfen. In der langen Entwicklung, die zur Menschwerdung hinführte,


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[0453] Rassodicnst Organ, sowie die schwächende Wirkung des Nichtgebrauches hatte vor Darwin schon Lamarck (wie zum Teil auch Se. Hilaire) in seiner Entwicklungslehre betont. Daher bezeichnet man Forscher, die in diesen Faktoren die wesentlichen Ursachen der Entwicklung sehen, als Lamarckisten. Die reinen Selektionisten oder Neudarwinianer stellen demgegenüber die Wirkung der Zuchtwahl in den Vordergrund und leugnen, daß die Wirkungen des Gebrauchs der Organe von den Eltern auf die Kinder übertragen werden; sie köunten dann als artentwickelnde Faktoren nicht in Frage kommen. Wenn von zwei Brüdern mit gleicher Muskel¬ anlage der eine Briefbote wird und durch starken Gebrauch seine Beinmuskulatur kräftigt, während der andere Schmied wird und seine Armmuskeln hervorragend ausbildet, so erben nach neudarwiuistischer Auffassung die Kinder der Brüder diese verschiedenen, im Einzelleben erworbenen Anpassungen an die genannten Berufe nicht. Schallmayer vertritt, diese neudarwinistische Leugnung der Ver¬ erbung individuell erworbener Eigenschaften einzelner Organe, während Alt- darwinianer und Lamarckisten die Erblichkeit solcher individuellen Erwerbungen annehmen. Mir scheint es aber, daß in dieser schwierigen Streitfrage in letzter Zeit gar manches zugunsten der lamarckistischen Annahme beigebracht worden ist. Man hat über eine Anzahl von Fällen berichtet, in denen von den Eltern erworbene Eigenschaften einzelner Organe oder Veränderungen von Instinkten in sehr deutlicher Weise auch bei deu Nachkommen auftraten. (Ich verweise nur auf die neueste, sehr beachtenswerte Zusammenfassung von Semon im zweiten Bande der „Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung", Berlin und Wien, 1910.) Zeitweise neigte auch ich zu der von Schallmayer vertretenen neudarwinistischen Lehre; ich halte aber — bei aller Zurückhaltung einem so schwierigen Problem gegenüber — die Geringschätzung, die Schallmayer den Lamarckschen Faktoren entgegenbringt, heute nicht für berechtigt. Die Möglichkeit, daß im Einzelleben durch Übung oder auf andere Weise erworbene körperliche und seelische Vorzüge sich unter Umständen vererben und zur Höherentwicklung der Menschheit in beträchtlichem Maße beitragen können, ist nach den neuesten Versuchsergebnissen wenigstens im Auge zu behalten. Die Bedeutung der Zuchtwahl, der Auslese der Besten, zur Züchtung eines besseren Schlages, bleibt aber bestehen; selbst scharfe Gegner der darwinistischen und neudarwinistischen Selektionslehre leugnen diese Bedeutung nicht völlig. Für viele Zwecke der Eugenik braucht man sich wir auf die 'feststehenden Erfolge der künstlichen Zuchtwahl zu stützen; jene strittigen Fragen, wieviel bei der großen Entwicklung des Tier- und Pflanzen¬ reichs de^ Selektion, wieviel den lamarckistischen Faktoren oder irgendwelchen anderen Entwicklungskosten zu verdanken sei. können vorläufig außer Betracht bleiben. Und es wird nützlich sein, Annahmen, die viele und wissenschaftlich beachtenswerte Gegnerhaben, beider Grundlegung der Eugeniktunlichstzurückzustellen. Wie Tiere und Pflanzen ist auch der Mensch deu Gesetzen der Vererbung unterworfen. In der langen Entwicklung, die zur Menschwerdung hinführte, «renzbotm II 1911 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/453>, abgerufen am 22.07.2024.