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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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über dein Abstraktum "Kultur" ihr konkreter
Träger, der Mensch, bergessen werde, so rückt
für sie über den: greifbor Körperlichen das
Ungreifbare und Unwägbare der Geisteswelt
allzusehr in den Hintergrund. Wer wollte
die ungeheure Bedeutung der Erkenntnisse der
biologischen Wissenschaften für den Praktischen
Politiker leugnen, wer die ideale Forderung,
daß den mit den wertbolleren Nasseneigen-
schaften ausgestatteten Individuen die Mög¬
lichkeit der Erhaltung und vor allem der
Fortpflanzung gesichert werden müsse, nicht
anerkennen? Holle hat es aber vermieden,
die Anwendung der biologischen Betrachtung
auf den praktischen Einzelfnll zu machen --
wenn er dies getan hätte, so hätte er gesehen,
daß die Fülle der Erscheinungen deS mensch¬
lichen Lebens sich unter dein Gesichtswinkel
der Biologie nicht erfassen, geschweige denn
sich bon ihr die Bahnen vorschreiben lassen
kann. Entscheidet im Naturleben immer nur
das Wohl der Art und hat das Individuum
nur Wert als Träger oder mindestens Förderer
artgcmäßer Vererbungstendenzen, so können
wir -- im Gegensatz zu Holle -- daraus nur
den Schluß ziehen, daß die Natur nimmer¬
mehr alleinige Lehrmeisterin der Menschheit
sein kann, denn der Mensch ist, wie kein
anderes Geschöpf der Natur, auch Persönlichkeit
und als solche Selbstzweck. Im Hinblick
hierauf erscheint die Bestimmung der Politik
als angewandte Biologie zu eng, und besser
dünkt es uns, sie als angewandte Soziologie
zu kennzeichnen, sofern die Soziologie den
Menschen als ein wertsctzendeS, Psycho-
Physischcs Wesen erkennt, dessen Geistesleben
zwar um das materielle Sein gebunden, aber
nach ihm eigentümlichen Gesetzen wirkt. An
der Macht des Geistigen, das seine eigenen
Wege geht, findet die praktische Durchführung
biologischer Erkenntnisse oft genug ihre
Schranken. So geht es much der "guten
Heiratspolitik", der Holle das Wort redet.
Der Mensch ist nun mal kein Zuchtvieh und
die Ehe nicht nur Paarung. Wer den
Schlußtcil des Holleschen Aufsatzes liest, wird
die Wahrheit erkennen, daß die Konsequenzen
eines Standpunktes seine Schwäche offenbaren.

Wie die Welt mehr ist als die Summe
der materiellen Vorgänge, so ist die Frau
mehr als ein natürlicher Brutapparat, sie ist

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ein Mensch und gleich dem Manne der Schnitt¬
punkt tausendfacher sozialer Beziehungen. Das
schwierige soziale Problem, das durch das
Schlagwort "Frauenbewegung" mehr verdeckt
als gekennzeichnet wird, kann hier nicht auf¬
gerollt werden; aber um der Gefahr zu
begegnen, mit der ein einseitiges oder mi߬
verständliches Urteil eine ernste Sache zu
bedrohen vermag, muß gegen einige Aus¬
führungen Holles, wenn auch nur in aller
Kürze, Einspruch erhoben werden. Da heißt
es zunächst, daß die "Frauenbewegung" die
negative Auslese der Tüchtigen fördert, indem
sie die erwerbstätigen Frauen von der Fort¬
pflanzung fernhält. Ans welche Erfahrungen
gründet sich diese Behauptung? überblickt
man das Heer der Fabrikarbeiterinnen,
Konfektioneusen, Buchhalterinnen, Steno¬
graphistinnen, Bibliothekarinnen usw., so wird
sich die Zahl derjenigen, welche lediglich aus
Begeisterung für ihre Berufstätigkeit den
Verzicht auf Liebe oder Ehe auf sich nehmen,
als verschwindend gering erweisen. Die
Gefahr wittert man denn Wohl auch mehr
bei den sogenannten "Intellektuellen". Ob
wirklich mit Recht? Wer die Augen offen
hält, wird mehr sehen, als die beste Statistik
der Welt ihm beweisen kann. Tatsache ist,
daß Tausende von Frauen trotz -- um mit
Frenssen zu sprechen -- der "heißen Not"
dank einer geeigneten Berufswahl ihr inneres
Gleichgewicht bewahren konnten. Wenn aber
geistige Betätigung nicht etwa die durchaus
erwünschte Beherrschung, sondern, wie vielfach
behauptet wird, mit Physiologischer Not¬
wendigkeit eine Verkümmerung der "Instinkte"
nach sich zöge, so müßten ja die zahllosen
geistig arbeitenden Männer gegen weibliche
Reize längst böllig immun sein. Gewiß ist
es wünschenswert, die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse so zu gestalten, daß die Männer
möglichst vielen Frauen die Last des Berufs
von den Schultern nehmen könnten, aber
dieses Ziel schwebt in nebelhafter Ferne, und
das lebendige Individuum fordert sein Recht.
Es ist sicher falsche Politik, aus Begeisterung
für die Zukunft des Menschengeschlechts der
lebendigen Gegenwart ihr Daseinsrecht wenn
nicht zu rauben, so doch zu verkümmern, in¬
dem man die Frau, welche aus Not in den
Kampf ums Brot gedrängt wird, durch

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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über dein Abstraktum „Kultur" ihr konkreter
Träger, der Mensch, bergessen werde, so rückt
für sie über den: greifbor Körperlichen das
Ungreifbare und Unwägbare der Geisteswelt
allzusehr in den Hintergrund. Wer wollte
die ungeheure Bedeutung der Erkenntnisse der
biologischen Wissenschaften für den Praktischen
Politiker leugnen, wer die ideale Forderung,
daß den mit den wertbolleren Nasseneigen-
schaften ausgestatteten Individuen die Mög¬
lichkeit der Erhaltung und vor allem der
Fortpflanzung gesichert werden müsse, nicht
anerkennen? Holle hat es aber vermieden,
die Anwendung der biologischen Betrachtung
auf den praktischen Einzelfnll zu machen —
wenn er dies getan hätte, so hätte er gesehen,
daß die Fülle der Erscheinungen deS mensch¬
lichen Lebens sich unter dein Gesichtswinkel
der Biologie nicht erfassen, geschweige denn
sich bon ihr die Bahnen vorschreiben lassen
kann. Entscheidet im Naturleben immer nur
das Wohl der Art und hat das Individuum
nur Wert als Träger oder mindestens Förderer
artgcmäßer Vererbungstendenzen, so können
wir — im Gegensatz zu Holle — daraus nur
den Schluß ziehen, daß die Natur nimmer¬
mehr alleinige Lehrmeisterin der Menschheit
sein kann, denn der Mensch ist, wie kein
anderes Geschöpf der Natur, auch Persönlichkeit
und als solche Selbstzweck. Im Hinblick
hierauf erscheint die Bestimmung der Politik
als angewandte Biologie zu eng, und besser
dünkt es uns, sie als angewandte Soziologie
zu kennzeichnen, sofern die Soziologie den
Menschen als ein wertsctzendeS, Psycho-
Physischcs Wesen erkennt, dessen Geistesleben
zwar um das materielle Sein gebunden, aber
nach ihm eigentümlichen Gesetzen wirkt. An
der Macht des Geistigen, das seine eigenen
Wege geht, findet die praktische Durchführung
biologischer Erkenntnisse oft genug ihre
Schranken. So geht es much der „guten
Heiratspolitik", der Holle das Wort redet.
Der Mensch ist nun mal kein Zuchtvieh und
die Ehe nicht nur Paarung. Wer den
Schlußtcil des Holleschen Aufsatzes liest, wird
die Wahrheit erkennen, daß die Konsequenzen
eines Standpunktes seine Schwäche offenbaren.

Wie die Welt mehr ist als die Summe
der materiellen Vorgänge, so ist die Frau
mehr als ein natürlicher Brutapparat, sie ist

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ein Mensch und gleich dem Manne der Schnitt¬
punkt tausendfacher sozialer Beziehungen. Das
schwierige soziale Problem, das durch das
Schlagwort „Frauenbewegung" mehr verdeckt
als gekennzeichnet wird, kann hier nicht auf¬
gerollt werden; aber um der Gefahr zu
begegnen, mit der ein einseitiges oder mi߬
verständliches Urteil eine ernste Sache zu
bedrohen vermag, muß gegen einige Aus¬
führungen Holles, wenn auch nur in aller
Kürze, Einspruch erhoben werden. Da heißt
es zunächst, daß die „Frauenbewegung" die
negative Auslese der Tüchtigen fördert, indem
sie die erwerbstätigen Frauen von der Fort¬
pflanzung fernhält. Ans welche Erfahrungen
gründet sich diese Behauptung? überblickt
man das Heer der Fabrikarbeiterinnen,
Konfektioneusen, Buchhalterinnen, Steno¬
graphistinnen, Bibliothekarinnen usw., so wird
sich die Zahl derjenigen, welche lediglich aus
Begeisterung für ihre Berufstätigkeit den
Verzicht auf Liebe oder Ehe auf sich nehmen,
als verschwindend gering erweisen. Die
Gefahr wittert man denn Wohl auch mehr
bei den sogenannten „Intellektuellen". Ob
wirklich mit Recht? Wer die Augen offen
hält, wird mehr sehen, als die beste Statistik
der Welt ihm beweisen kann. Tatsache ist,
daß Tausende von Frauen trotz — um mit
Frenssen zu sprechen — der „heißen Not"
dank einer geeigneten Berufswahl ihr inneres
Gleichgewicht bewahren konnten. Wenn aber
geistige Betätigung nicht etwa die durchaus
erwünschte Beherrschung, sondern, wie vielfach
behauptet wird, mit Physiologischer Not¬
wendigkeit eine Verkümmerung der „Instinkte"
nach sich zöge, so müßten ja die zahllosen
geistig arbeitenden Männer gegen weibliche
Reize längst böllig immun sein. Gewiß ist
es wünschenswert, die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse so zu gestalten, daß die Männer
möglichst vielen Frauen die Last des Berufs
von den Schultern nehmen könnten, aber
dieses Ziel schwebt in nebelhafter Ferne, und
das lebendige Individuum fordert sein Recht.
Es ist sicher falsche Politik, aus Begeisterung
für die Zukunft des Menschengeschlechts der
lebendigen Gegenwart ihr Daseinsrecht wenn
nicht zu rauben, so doch zu verkümmern, in¬
dem man die Frau, welche aus Not in den
Kampf ums Brot gedrängt wird, durch

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[0339] Maßgebliches und Unmaßgebliches über dein Abstraktum „Kultur" ihr konkreter Träger, der Mensch, bergessen werde, so rückt für sie über den: greifbor Körperlichen das Ungreifbare und Unwägbare der Geisteswelt allzusehr in den Hintergrund. Wer wollte die ungeheure Bedeutung der Erkenntnisse der biologischen Wissenschaften für den Praktischen Politiker leugnen, wer die ideale Forderung, daß den mit den wertbolleren Nasseneigen- schaften ausgestatteten Individuen die Mög¬ lichkeit der Erhaltung und vor allem der Fortpflanzung gesichert werden müsse, nicht anerkennen? Holle hat es aber vermieden, die Anwendung der biologischen Betrachtung auf den praktischen Einzelfnll zu machen — wenn er dies getan hätte, so hätte er gesehen, daß die Fülle der Erscheinungen deS mensch¬ lichen Lebens sich unter dein Gesichtswinkel der Biologie nicht erfassen, geschweige denn sich bon ihr die Bahnen vorschreiben lassen kann. Entscheidet im Naturleben immer nur das Wohl der Art und hat das Individuum nur Wert als Träger oder mindestens Förderer artgcmäßer Vererbungstendenzen, so können wir — im Gegensatz zu Holle — daraus nur den Schluß ziehen, daß die Natur nimmer¬ mehr alleinige Lehrmeisterin der Menschheit sein kann, denn der Mensch ist, wie kein anderes Geschöpf der Natur, auch Persönlichkeit und als solche Selbstzweck. Im Hinblick hierauf erscheint die Bestimmung der Politik als angewandte Biologie zu eng, und besser dünkt es uns, sie als angewandte Soziologie zu kennzeichnen, sofern die Soziologie den Menschen als ein wertsctzendeS, Psycho- Physischcs Wesen erkennt, dessen Geistesleben zwar um das materielle Sein gebunden, aber nach ihm eigentümlichen Gesetzen wirkt. An der Macht des Geistigen, das seine eigenen Wege geht, findet die praktische Durchführung biologischer Erkenntnisse oft genug ihre Schranken. So geht es much der „guten Heiratspolitik", der Holle das Wort redet. Der Mensch ist nun mal kein Zuchtvieh und die Ehe nicht nur Paarung. Wer den Schlußtcil des Holleschen Aufsatzes liest, wird die Wahrheit erkennen, daß die Konsequenzen eines Standpunktes seine Schwäche offenbaren. Wie die Welt mehr ist als die Summe der materiellen Vorgänge, so ist die Frau mehr als ein natürlicher Brutapparat, sie ist ein Mensch und gleich dem Manne der Schnitt¬ punkt tausendfacher sozialer Beziehungen. Das schwierige soziale Problem, das durch das Schlagwort „Frauenbewegung" mehr verdeckt als gekennzeichnet wird, kann hier nicht auf¬ gerollt werden; aber um der Gefahr zu begegnen, mit der ein einseitiges oder mi߬ verständliches Urteil eine ernste Sache zu bedrohen vermag, muß gegen einige Aus¬ führungen Holles, wenn auch nur in aller Kürze, Einspruch erhoben werden. Da heißt es zunächst, daß die „Frauenbewegung" die negative Auslese der Tüchtigen fördert, indem sie die erwerbstätigen Frauen von der Fort¬ pflanzung fernhält. Ans welche Erfahrungen gründet sich diese Behauptung? überblickt man das Heer der Fabrikarbeiterinnen, Konfektioneusen, Buchhalterinnen, Steno¬ graphistinnen, Bibliothekarinnen usw., so wird sich die Zahl derjenigen, welche lediglich aus Begeisterung für ihre Berufstätigkeit den Verzicht auf Liebe oder Ehe auf sich nehmen, als verschwindend gering erweisen. Die Gefahr wittert man denn Wohl auch mehr bei den sogenannten „Intellektuellen". Ob wirklich mit Recht? Wer die Augen offen hält, wird mehr sehen, als die beste Statistik der Welt ihm beweisen kann. Tatsache ist, daß Tausende von Frauen trotz — um mit Frenssen zu sprechen — der „heißen Not" dank einer geeigneten Berufswahl ihr inneres Gleichgewicht bewahren konnten. Wenn aber geistige Betätigung nicht etwa die durchaus erwünschte Beherrschung, sondern, wie vielfach behauptet wird, mit Physiologischer Not¬ wendigkeit eine Verkümmerung der „Instinkte" nach sich zöge, so müßten ja die zahllosen geistig arbeitenden Männer gegen weibliche Reize längst böllig immun sein. Gewiß ist es wünschenswert, die wirtschaftlichen Ver¬ hältnisse so zu gestalten, daß die Männer möglichst vielen Frauen die Last des Berufs von den Schultern nehmen könnten, aber dieses Ziel schwebt in nebelhafter Ferne, und das lebendige Individuum fordert sein Recht. Es ist sicher falsche Politik, aus Begeisterung für die Zukunft des Menschengeschlechts der lebendigen Gegenwart ihr Daseinsrecht wenn nicht zu rauben, so doch zu verkümmern, in¬ dem man die Frau, welche aus Not in den Kampf ums Brot gedrängt wird, durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/339>, abgerufen am 26.06.2024.