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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

Lehen für sich davongetragen, nach dem Vorgang Albrechts von Hohenzollern,
der fünfzig Jahre vorher aus dem Untergang des preußischen Teils des Ordens
für sich das Herzogtum Preußen gerettet hatte. Mitau wurde die Residenz des
neuen Herzogs und ini Laufe der Zeit der ständige Winteraufenthalt des zahl¬
reichen Adels und der Sitz der Schulen. Milans Glanzzeit war, als der un¬
gekrönte Herrscher Rußlands Ernst Johann Biron -- eigentlich v. Büren -- von
der dankbaren Kaiserin Anna von Rußland auf den Thron ihres verstorbenen
Gemahls gebracht wurde. Das große Schloß in Mitau, im Stil des Winter-
palais in Se. Petersburg und ebenfalls von Rastrelli erbaut, erinnert an den
Herzog, der vom kurländischen Kammerherrn zum kurländischen Herzog, ja zum
Regenten Rußlands aufstieg, dann aber nach Sibirien verbannt wurde und
schließlich nach jahrelanger Haft noch einmal als Herzog in Mitau ein¬
ziehen durfte.

Das Architekturbild Milans ist eines der sonderbarsten, die ich kenne. Wie
alle Orte in der osteuropäischen Ebene ist die Stadt weitläufig und die Mehr¬
zahl der Gebäude eingeschossig. Viel Staub, ein entsetzliches Pflaster und ent¬
sprechendes, massenhaft vorhandenes Fuhrwerk vervollständigen den Hintergrund
des Bildes. Auf diesem denke man sich nun eine deutsche Residenz des acht¬
zehnten Jahrhunderts: ein Schloß wie für den Sonnenkönig, die zugehörigen
Paläste des Adels ini Stil der Zeit, aber statt in Stein meist in Holz aus¬
geführt, das Ganze überragt von einem etwas modernisierten Turm aus der
alten Ordenszeit, die sonst keine sichtbaren Zeichen hinterlassen hat.

Die nächsten Tage führten mich in die Mitte Livlands zu den Ruinen der
großen Ordensburgen von Segewold, Cremon und Treyden, sowie zu den
mächtigen Erdwerken der Ureinwohner, gegen welche der Orden im dreizehnten
Jahrhundert seine steinernen Festen errichtet hat, von denen die meisten einfach
aus großen und kleinen Findlingssteinen mit reichlicher Bindung durch Mörtel
aufgeführt sind. Jeder der alten Türme zeigt die ganze Musterkarte skandina¬
vischer Gebirgstrümmer, welche die Eiszeit über die Ostsee verfrachtet hat. Nur
der am besten erhaltene Turm, der von Treyden, besteht wie die Kirchtürme
aus vorzüglichen Backsteinen. Von weitem wirkt er wie ein moderner englischer
Schloßbau: wenn man die riesige Mauerdicke aber aus der Nähe betrachtet,
glaubt man gern, daß man einen alten Wehrturm aus dem dreizehnten oder
vierzehnten Jahrhundert vor sich hat. Alle diese Burgen liegen hoch über der
Livländischen Aa, die sich hier siebzig Meter tief in den weichen Sandstein
eingefressen und ein schmales, geschlängeltes Tal gebildet hat, dessen Liebreiz
den Namen Livländische Schweiz verschuldet haben mag. Nicht weit von dem
altertümlichen Treyden liegt in prächtigem Park das reizende Schlößchen Nurmis.
dessen Grundriß in geradezu vorbildlicher Weise auf das gastliche Leben des
baltischen Adels zugeschnitten ist. An einen für die Wohnung des Besitzers und
die Festräume eingerichteten zweistöckigen Mittelbau lehnt sich nach beiden Seiten
in leichter Bogenlinie eine eingeschossige Flucht von Gastzimmern an, und


Line Sommerreise durch das Baltenland

Lehen für sich davongetragen, nach dem Vorgang Albrechts von Hohenzollern,
der fünfzig Jahre vorher aus dem Untergang des preußischen Teils des Ordens
für sich das Herzogtum Preußen gerettet hatte. Mitau wurde die Residenz des
neuen Herzogs und ini Laufe der Zeit der ständige Winteraufenthalt des zahl¬
reichen Adels und der Sitz der Schulen. Milans Glanzzeit war, als der un¬
gekrönte Herrscher Rußlands Ernst Johann Biron — eigentlich v. Büren — von
der dankbaren Kaiserin Anna von Rußland auf den Thron ihres verstorbenen
Gemahls gebracht wurde. Das große Schloß in Mitau, im Stil des Winter-
palais in Se. Petersburg und ebenfalls von Rastrelli erbaut, erinnert an den
Herzog, der vom kurländischen Kammerherrn zum kurländischen Herzog, ja zum
Regenten Rußlands aufstieg, dann aber nach Sibirien verbannt wurde und
schließlich nach jahrelanger Haft noch einmal als Herzog in Mitau ein¬
ziehen durfte.

Das Architekturbild Milans ist eines der sonderbarsten, die ich kenne. Wie
alle Orte in der osteuropäischen Ebene ist die Stadt weitläufig und die Mehr¬
zahl der Gebäude eingeschossig. Viel Staub, ein entsetzliches Pflaster und ent¬
sprechendes, massenhaft vorhandenes Fuhrwerk vervollständigen den Hintergrund
des Bildes. Auf diesem denke man sich nun eine deutsche Residenz des acht¬
zehnten Jahrhunderts: ein Schloß wie für den Sonnenkönig, die zugehörigen
Paläste des Adels ini Stil der Zeit, aber statt in Stein meist in Holz aus¬
geführt, das Ganze überragt von einem etwas modernisierten Turm aus der
alten Ordenszeit, die sonst keine sichtbaren Zeichen hinterlassen hat.

Die nächsten Tage führten mich in die Mitte Livlands zu den Ruinen der
großen Ordensburgen von Segewold, Cremon und Treyden, sowie zu den
mächtigen Erdwerken der Ureinwohner, gegen welche der Orden im dreizehnten
Jahrhundert seine steinernen Festen errichtet hat, von denen die meisten einfach
aus großen und kleinen Findlingssteinen mit reichlicher Bindung durch Mörtel
aufgeführt sind. Jeder der alten Türme zeigt die ganze Musterkarte skandina¬
vischer Gebirgstrümmer, welche die Eiszeit über die Ostsee verfrachtet hat. Nur
der am besten erhaltene Turm, der von Treyden, besteht wie die Kirchtürme
aus vorzüglichen Backsteinen. Von weitem wirkt er wie ein moderner englischer
Schloßbau: wenn man die riesige Mauerdicke aber aus der Nähe betrachtet,
glaubt man gern, daß man einen alten Wehrturm aus dem dreizehnten oder
vierzehnten Jahrhundert vor sich hat. Alle diese Burgen liegen hoch über der
Livländischen Aa, die sich hier siebzig Meter tief in den weichen Sandstein
eingefressen und ein schmales, geschlängeltes Tal gebildet hat, dessen Liebreiz
den Namen Livländische Schweiz verschuldet haben mag. Nicht weit von dem
altertümlichen Treyden liegt in prächtigem Park das reizende Schlößchen Nurmis.
dessen Grundriß in geradezu vorbildlicher Weise auf das gastliche Leben des
baltischen Adels zugeschnitten ist. An einen für die Wohnung des Besitzers und
die Festräume eingerichteten zweistöckigen Mittelbau lehnt sich nach beiden Seiten
in leichter Bogenlinie eine eingeschossige Flucht von Gastzimmern an, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/330>, abgerufen am 23.07.2024.