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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

einer geheimnisvollen Macht gehorchen und geführt werden in der Meinung zu
führen. -- Richard. "Er wird nie mehr in die Heimat zurückkehren", hatte er
geschworen.

Eine Stimme schreit ihm wahnsinnig zu: "MörderI Brudermörder!"

Er bleibt kalt, beherrscht und befiehlt: "Man verhafte die Tochter des
Verräters!"

"Was, die Jungfrau Jeanne? Sie ist uns heilig! Trotz Marcellin, dein
Verräter! Nein, Nachbar Richard, wenn du auch augenblicklich Hauptmann der
Bürgerwache bist, können wir in diesem Punkt nicht gehorchen!"

"Schafsköpfe, versteht ihr denn nicht, daß ich sie schützen will? Morgen ist
keine Gefahr mehr. In mein Haus, versteht ihr?"

"Wohl, Nachbar Richard, wenn ihr die Sache so meint, dann ist es etwas
anderes! Also vorwärts, Jungfrau!"

Drüben kommandierte der Offizier Feuer; die Salve krachte, die Masse
wälzte sich in wilder Flucht der Stadt zu. Es gab Tote und Verwundete, sie
waren erdrückt oder niedergestoßen und getreten, nicht durch die Kugel gefallen:
man hatte über die Menge hinweggeschossen.

In der Stadt werden die Verschanzungen verstärkt, Wachen aufgestellt, mau
will sich nicht überrumpeln lassen. Man will Herr seiner Stadt bleiben, man
wird sich die Truppen vom Leibe halten, mit Piff, pass, bum! O, man wird
seine Heimat zu verteidigen wissen. Man ist friedliebender Bürger, man hat
keinen Aufstand angezettelt, die Negierung allein will den Aufstand! Man wird
sich dagegen wehren dürfen!

Nachrichten kommen aus allen Teilen des Südens, überall lodert die Flamme
des Aufruhrs, allerorten geschehen Gewalttaten. Perpignan gibt das große Bei¬
spiel. Aber man ist in der Sache Mareellins nicht überall gleichen Sinnes, selbst
in Perpignan nicht. Eine Partei bildet sich für ihn, eine andere will dem sinn¬
losen Treiben ein Ende gesetzt wissen, eine dritte ist für den Radikalismus.

Jeder will Führer sein, jeder hält Reden. Die einen schwören zu Richard,
die anderen zu Leon, die dritten zu diesem, die vierten zu jenem. Die Volks¬
bewegung, der heilige Winzerkrieg geht seiner Auflösung entgegen. Die Ereignisse
überstürzen sich. Aber die großen Taten stehen noch bevor.

"Die Taten!"

Die Führer sind uneinig, keiner weiß recht, was man wollte. Eigentlich
wollte man dies alles nicht, man wollte was anderes. Niemand fällt besseres ein,
niemand hat die Kraft, auf der schiefen Ebene anzuhalten und den Dingen eine
Wendung zu geben. Man folgt dem Schwergewicht. Alles ist Schicksal, was
geschieht, unabwendbar. Nur einer denkt und einer hat ein bestimmtes Ziel, aber
er ist verschlossen, ein schlechter Kamerad, ein Intrigant. Er geht eigene Wege.
Man beargwöhnt ihn, aber man kann ihn nicht entbehren. Richard!

Leon, der Freund Gastons, hat ein scharfes Auge auf ihn. Jeanne will
gesehen haben, daß er den Schuß auf seinen Bruder abgab. War es Absicht, war
es Zufall? War es überhaupt er? Es sind mehrere Schüsse gefallen. Wer kann es
in der allgemeinen Verwirrung behaupten? Überdies, man stand dem gemein¬
samen Feind gegenüber. Was galt der Bruder dem Bruder? Die heilige Sache
der Heimat stand höher.


Der rote Rausch

einer geheimnisvollen Macht gehorchen und geführt werden in der Meinung zu
führen. — Richard. „Er wird nie mehr in die Heimat zurückkehren", hatte er
geschworen.

Eine Stimme schreit ihm wahnsinnig zu: „MörderI Brudermörder!"

Er bleibt kalt, beherrscht und befiehlt: „Man verhafte die Tochter des
Verräters!"

„Was, die Jungfrau Jeanne? Sie ist uns heilig! Trotz Marcellin, dein
Verräter! Nein, Nachbar Richard, wenn du auch augenblicklich Hauptmann der
Bürgerwache bist, können wir in diesem Punkt nicht gehorchen!"

„Schafsköpfe, versteht ihr denn nicht, daß ich sie schützen will? Morgen ist
keine Gefahr mehr. In mein Haus, versteht ihr?"

„Wohl, Nachbar Richard, wenn ihr die Sache so meint, dann ist es etwas
anderes! Also vorwärts, Jungfrau!"

Drüben kommandierte der Offizier Feuer; die Salve krachte, die Masse
wälzte sich in wilder Flucht der Stadt zu. Es gab Tote und Verwundete, sie
waren erdrückt oder niedergestoßen und getreten, nicht durch die Kugel gefallen:
man hatte über die Menge hinweggeschossen.

In der Stadt werden die Verschanzungen verstärkt, Wachen aufgestellt, mau
will sich nicht überrumpeln lassen. Man will Herr seiner Stadt bleiben, man
wird sich die Truppen vom Leibe halten, mit Piff, pass, bum! O, man wird
seine Heimat zu verteidigen wissen. Man ist friedliebender Bürger, man hat
keinen Aufstand angezettelt, die Negierung allein will den Aufstand! Man wird
sich dagegen wehren dürfen!

Nachrichten kommen aus allen Teilen des Südens, überall lodert die Flamme
des Aufruhrs, allerorten geschehen Gewalttaten. Perpignan gibt das große Bei¬
spiel. Aber man ist in der Sache Mareellins nicht überall gleichen Sinnes, selbst
in Perpignan nicht. Eine Partei bildet sich für ihn, eine andere will dem sinn¬
losen Treiben ein Ende gesetzt wissen, eine dritte ist für den Radikalismus.

Jeder will Führer sein, jeder hält Reden. Die einen schwören zu Richard,
die anderen zu Leon, die dritten zu diesem, die vierten zu jenem. Die Volks¬
bewegung, der heilige Winzerkrieg geht seiner Auflösung entgegen. Die Ereignisse
überstürzen sich. Aber die großen Taten stehen noch bevor.

„Die Taten!"

Die Führer sind uneinig, keiner weiß recht, was man wollte. Eigentlich
wollte man dies alles nicht, man wollte was anderes. Niemand fällt besseres ein,
niemand hat die Kraft, auf der schiefen Ebene anzuhalten und den Dingen eine
Wendung zu geben. Man folgt dem Schwergewicht. Alles ist Schicksal, was
geschieht, unabwendbar. Nur einer denkt und einer hat ein bestimmtes Ziel, aber
er ist verschlossen, ein schlechter Kamerad, ein Intrigant. Er geht eigene Wege.
Man beargwöhnt ihn, aber man kann ihn nicht entbehren. Richard!

Leon, der Freund Gastons, hat ein scharfes Auge auf ihn. Jeanne will
gesehen haben, daß er den Schuß auf seinen Bruder abgab. War es Absicht, war
es Zufall? War es überhaupt er? Es sind mehrere Schüsse gefallen. Wer kann es
in der allgemeinen Verwirrung behaupten? Überdies, man stand dem gemein¬
samen Feind gegenüber. Was galt der Bruder dem Bruder? Die heilige Sache
der Heimat stand höher.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/230>, abgerufen am 26.06.2024.