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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die internationale Sprache

internationale Herrschaft erhielte, wäre es auch nicht möglich, eine nationale
Sprache in den Volksschulen so zu lehren, daß sie wirklich verstanden und
gesprochen werden könnte. Wohl aber ist dies möglich bei einer Sprache wie
Esperanto, deren Erlernung auch den Schülern, namentlich den Volksschülern,
die vielleicht nie in die Lage kommen, sie praktisch zu verwerten, von großem
Nutzen für Bildung und Erziehung sein kann.

Wir legen ja in unseren höheren Schulen so großen Wert auf das Sprach¬
studium, weil es den Geist bildet, die eigene Sprache besser kennen lehrt und
das logische Denken schärft. Für diese Zwecke ist Esperanto genau so gut und
in mancher Hinsicht besser geeignet, als irgendeine natürliche lebende oder tote
Sprache. Daß es von großem Wert wäre, wenn die Volksschüler ohne Einbuße
an den sonstigen wichtigen Lehrstoffen eine zweite Sprache neben der Mutter¬
sprache kennen lernten, unterliegt keinem Zweifel. Bei Esperanto ist das möglich,
ohne daß die Schüler mehr Unterrichtszeit gebrauchten. Der Unterricht in
Esperanto würde dem Unterricht allein im Deutschen so zugute kommen, daß
ein Teil der für das Deutsche bestimmten Stunden auf Esperanto verwendet
werden könnte.

Esperanto ist ähnlich dem Englischen eine romanisch-germanische Sprache,
wobei in den Wortstämmen die romanischen überwiegen, während die Grammatik
einige Eigentümlichkeiten hat, die mehr dem germanischen, besonders dem deutschen
Sprachgeiste entsprechen. Die Ausdrücke, welche in den meisten europäischen
Sprachen als Lehn- oder Fremdwörter übereinstimmend vorkommen, sind
lateinischen Ursprungs. Esperanto hat nicht, wie frühere Versuche künstlicher
Sprachen, willkürlich geschaffene Wortstamme, die jedermann unbekannt sind,
sondern solche, die in der Hauptsache schon internationales Sprachgut und den
meisten Gebildeten bekannt sind, gleichgültig woher und wie sie entstanden sind.
Dazu gehören, um einige hervorzuheben: ciAarc", clsntist', et?ernplo, ekelst'
(Stamm für existieren, Existenz usw.), elast' (elastisch), eminent', kalt' (Tat¬
sache, faktisch usw.), 5aKtur' (Rechnung), kamilio, xrupo, instru (unterrichten),
Klar', Komerc', I0K0, objekt', Orient', paräon', perfekt', proäukt', publik',
rapiä', raport', reciprok, sukce8'.

Bei Begriffen, für die es international verständliche Wörter nicht gibt, sind
solche gewählt, die mehreren Sprachen gemeinschaftlich sind; wo auch solche
fehlen, ist ein Wort aus einer Sprache genommen oder zur Vermeidung von
Mißverständnissen selbständig geschaffen worden. Die Mischung der verschiedenen
Elemente erscheint einem sprach-ästhetischen Gefühl auf den ersten Blick, wenn
man in den Geist des Ganzen noch nicht eingedrungen ist, hart und unschön,
aber wenn man näher hinsteht und mit der Sprache vertrauter ist, findet man,
daß es in den natürlichen Sprachen oft schlimmer aussieht, wie zum Beispiel
namentlich im Englischen.

Aber auch im Deutschen würde uns manches greulich vorkommen, wenn
nicht die Gewohnheit unser Empfinden abgestumpft hätte. Wir haben Wörter,


Die internationale Sprache

internationale Herrschaft erhielte, wäre es auch nicht möglich, eine nationale
Sprache in den Volksschulen so zu lehren, daß sie wirklich verstanden und
gesprochen werden könnte. Wohl aber ist dies möglich bei einer Sprache wie
Esperanto, deren Erlernung auch den Schülern, namentlich den Volksschülern,
die vielleicht nie in die Lage kommen, sie praktisch zu verwerten, von großem
Nutzen für Bildung und Erziehung sein kann.

Wir legen ja in unseren höheren Schulen so großen Wert auf das Sprach¬
studium, weil es den Geist bildet, die eigene Sprache besser kennen lehrt und
das logische Denken schärft. Für diese Zwecke ist Esperanto genau so gut und
in mancher Hinsicht besser geeignet, als irgendeine natürliche lebende oder tote
Sprache. Daß es von großem Wert wäre, wenn die Volksschüler ohne Einbuße
an den sonstigen wichtigen Lehrstoffen eine zweite Sprache neben der Mutter¬
sprache kennen lernten, unterliegt keinem Zweifel. Bei Esperanto ist das möglich,
ohne daß die Schüler mehr Unterrichtszeit gebrauchten. Der Unterricht in
Esperanto würde dem Unterricht allein im Deutschen so zugute kommen, daß
ein Teil der für das Deutsche bestimmten Stunden auf Esperanto verwendet
werden könnte.

Esperanto ist ähnlich dem Englischen eine romanisch-germanische Sprache,
wobei in den Wortstämmen die romanischen überwiegen, während die Grammatik
einige Eigentümlichkeiten hat, die mehr dem germanischen, besonders dem deutschen
Sprachgeiste entsprechen. Die Ausdrücke, welche in den meisten europäischen
Sprachen als Lehn- oder Fremdwörter übereinstimmend vorkommen, sind
lateinischen Ursprungs. Esperanto hat nicht, wie frühere Versuche künstlicher
Sprachen, willkürlich geschaffene Wortstamme, die jedermann unbekannt sind,
sondern solche, die in der Hauptsache schon internationales Sprachgut und den
meisten Gebildeten bekannt sind, gleichgültig woher und wie sie entstanden sind.
Dazu gehören, um einige hervorzuheben: ciAarc», clsntist', et?ernplo, ekelst'
(Stamm für existieren, Existenz usw.), elast' (elastisch), eminent', kalt' (Tat¬
sache, faktisch usw.), 5aKtur' (Rechnung), kamilio, xrupo, instru (unterrichten),
Klar', Komerc', I0K0, objekt', Orient', paräon', perfekt', proäukt', publik',
rapiä', raport', reciprok, sukce8'.

Bei Begriffen, für die es international verständliche Wörter nicht gibt, sind
solche gewählt, die mehreren Sprachen gemeinschaftlich sind; wo auch solche
fehlen, ist ein Wort aus einer Sprache genommen oder zur Vermeidung von
Mißverständnissen selbständig geschaffen worden. Die Mischung der verschiedenen
Elemente erscheint einem sprach-ästhetischen Gefühl auf den ersten Blick, wenn
man in den Geist des Ganzen noch nicht eingedrungen ist, hart und unschön,
aber wenn man näher hinsteht und mit der Sprache vertrauter ist, findet man,
daß es in den natürlichen Sprachen oft schlimmer aussieht, wie zum Beispiel
namentlich im Englischen.

Aber auch im Deutschen würde uns manches greulich vorkommen, wenn
nicht die Gewohnheit unser Empfinden abgestumpft hätte. Wir haben Wörter,


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[0215] Die internationale Sprache internationale Herrschaft erhielte, wäre es auch nicht möglich, eine nationale Sprache in den Volksschulen so zu lehren, daß sie wirklich verstanden und gesprochen werden könnte. Wohl aber ist dies möglich bei einer Sprache wie Esperanto, deren Erlernung auch den Schülern, namentlich den Volksschülern, die vielleicht nie in die Lage kommen, sie praktisch zu verwerten, von großem Nutzen für Bildung und Erziehung sein kann. Wir legen ja in unseren höheren Schulen so großen Wert auf das Sprach¬ studium, weil es den Geist bildet, die eigene Sprache besser kennen lehrt und das logische Denken schärft. Für diese Zwecke ist Esperanto genau so gut und in mancher Hinsicht besser geeignet, als irgendeine natürliche lebende oder tote Sprache. Daß es von großem Wert wäre, wenn die Volksschüler ohne Einbuße an den sonstigen wichtigen Lehrstoffen eine zweite Sprache neben der Mutter¬ sprache kennen lernten, unterliegt keinem Zweifel. Bei Esperanto ist das möglich, ohne daß die Schüler mehr Unterrichtszeit gebrauchten. Der Unterricht in Esperanto würde dem Unterricht allein im Deutschen so zugute kommen, daß ein Teil der für das Deutsche bestimmten Stunden auf Esperanto verwendet werden könnte. Esperanto ist ähnlich dem Englischen eine romanisch-germanische Sprache, wobei in den Wortstämmen die romanischen überwiegen, während die Grammatik einige Eigentümlichkeiten hat, die mehr dem germanischen, besonders dem deutschen Sprachgeiste entsprechen. Die Ausdrücke, welche in den meisten europäischen Sprachen als Lehn- oder Fremdwörter übereinstimmend vorkommen, sind lateinischen Ursprungs. Esperanto hat nicht, wie frühere Versuche künstlicher Sprachen, willkürlich geschaffene Wortstamme, die jedermann unbekannt sind, sondern solche, die in der Hauptsache schon internationales Sprachgut und den meisten Gebildeten bekannt sind, gleichgültig woher und wie sie entstanden sind. Dazu gehören, um einige hervorzuheben: ciAarc», clsntist', et?ernplo, ekelst' (Stamm für existieren, Existenz usw.), elast' (elastisch), eminent', kalt' (Tat¬ sache, faktisch usw.), 5aKtur' (Rechnung), kamilio, xrupo, instru (unterrichten), Klar', Komerc', I0K0, objekt', Orient', paräon', perfekt', proäukt', publik', rapiä', raport', reciprok, sukce8'. Bei Begriffen, für die es international verständliche Wörter nicht gibt, sind solche gewählt, die mehreren Sprachen gemeinschaftlich sind; wo auch solche fehlen, ist ein Wort aus einer Sprache genommen oder zur Vermeidung von Mißverständnissen selbständig geschaffen worden. Die Mischung der verschiedenen Elemente erscheint einem sprach-ästhetischen Gefühl auf den ersten Blick, wenn man in den Geist des Ganzen noch nicht eingedrungen ist, hart und unschön, aber wenn man näher hinsteht und mit der Sprache vertrauter ist, findet man, daß es in den natürlichen Sprachen oft schlimmer aussieht, wie zum Beispiel namentlich im Englischen. Aber auch im Deutschen würde uns manches greulich vorkommen, wenn nicht die Gewohnheit unser Empfinden abgestumpft hätte. Wir haben Wörter,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/215>, abgerufen am 03.07.2024.