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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die internationale Sprache

So geht es heute noch der Mehrzahl unserer gebildeten Zeitgenossen mit
der internationalen Hilfssprache. Obwohl sich auf den: ganzen Erdenrund
Männer mit den besten Namen, in den hervorragendsten Stellungen auf allen
Gebieten der Theorie und der Praxis für Esperanto nicht nur als mögliche,
sondern schon wirklich gewordene Hilfssprache interessiert haben und jahrelang
mit immer wachsendem Erfolge daran arbeiten, dieses das Leben vereinfachende
und bereichernde Kulturwerk der ganzen Menschheit nutzbar zu machen, gibt es
immer noch Menschen von nicht geringerer Bedeutung, die es für eine Unmög¬
lichkeit halten, lediglich deshalb, weil sie es nicht kennen, sich nicht überzeugen
wollen, weil Gefühlsgründe sie von dem verstandesmäßigen Eindringen in die
Sache abhalten.

Weil man mit der Muttersprache aufgewachsen ist, weil man sie unbewußt
in sich aufgenommen und immer mit ihr gelebt hat, hält man die Sprache selbst
für etwas Lebendiges, Naturwüchsiges, eine künstliche Sprache für etwas ebenso
Unmögliches wie einen in der Retorte geschaffenen Homunkulus.

Wäreir die Menschen bis zu ihrer Verstandesreife taubstumm und müßten sie
dann ihre Sprache lernen, wie irgendeine fremde nach Grammatik und Wörter¬
buch gelernt wird, so wäre dieses Gefühl wahrscheinlich nicht vorhanden. Ich
glaube nicht, daß z. B. die blinde und taubstumme Helen Keller die englische
Sprache, die sie ja in so wunderbarer Weise gelernt hat', als einen lebendigen
Organismus betrachtet. Sicherlich hat sie sich zuerst eine eigene Sprache geschaffen,
indem sie die Eindrücke, die ihre wenigen Sinne ihr vermittelten, mit irgend¬
welchen Bildern verband, die bei der Wiederholung der Eindrücke im Gedächtnis
wieder auftauchten. Diese Bilder mochten ihr als etwas natürlich Gewordenes
erscheinen; die Sprache, die sie von ihrer Lehrerin erlernte, war demgegenüber
etwas rein Willkürliches, eine künstliche Sprache. Es war eine zwischen ihnen
beiden geltende Verabredung bestimmter Zeichen für bestimmte Dinge. Und das
ist das Wesen der Sprache überhaupt, nur daß unsere Zeichen Lante und Laut¬
gruppen sind, Vereinbarungen, die zufällig entstanden sind und durch still¬
schweigende Unterwerfung vieler unter den einmal entstandenen Gebrauch sich
auf einen größeren Kreis von Menschen erstreckt haben.

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir dieselben Dinge, die
uns aus der Muttersprache her vertraut sind, mit Lauten bezeichnen, die für
uns etwas Willkürliches, Zufälliges, manchmal Lächerliches haben; wir lernen
Dinge, die wir mit verschiedenen Wörtern bezeichnen, in einem Worte zusammen¬
fassen, und umgekehrt lernen wir in der fremden Sprache Unterschiede, die wir
nicht haben. Wir lernen schließlich die verschiedenen Wörter in anderer Weise
zu Sätzen verbinden, als wir es in unserer Sprache gewohnt sind. Wie natürlich
oder künstlich die Sprache, die wir lernen, entstanden ist, ist uns gleichgültig,
soweit das bloße Lernen der Wörter und Formen in Betracht kommt. Wem
es in der Hauptsache darauf ankommt, sich in einer fremden Sprache mit einem
anderen zu verständigen, sei es. daß sie dessen Muttersprache, sei es, daß sie


Grenzbotsn II 1911 26
Die internationale Sprache

So geht es heute noch der Mehrzahl unserer gebildeten Zeitgenossen mit
der internationalen Hilfssprache. Obwohl sich auf den: ganzen Erdenrund
Männer mit den besten Namen, in den hervorragendsten Stellungen auf allen
Gebieten der Theorie und der Praxis für Esperanto nicht nur als mögliche,
sondern schon wirklich gewordene Hilfssprache interessiert haben und jahrelang
mit immer wachsendem Erfolge daran arbeiten, dieses das Leben vereinfachende
und bereichernde Kulturwerk der ganzen Menschheit nutzbar zu machen, gibt es
immer noch Menschen von nicht geringerer Bedeutung, die es für eine Unmög¬
lichkeit halten, lediglich deshalb, weil sie es nicht kennen, sich nicht überzeugen
wollen, weil Gefühlsgründe sie von dem verstandesmäßigen Eindringen in die
Sache abhalten.

Weil man mit der Muttersprache aufgewachsen ist, weil man sie unbewußt
in sich aufgenommen und immer mit ihr gelebt hat, hält man die Sprache selbst
für etwas Lebendiges, Naturwüchsiges, eine künstliche Sprache für etwas ebenso
Unmögliches wie einen in der Retorte geschaffenen Homunkulus.

Wäreir die Menschen bis zu ihrer Verstandesreife taubstumm und müßten sie
dann ihre Sprache lernen, wie irgendeine fremde nach Grammatik und Wörter¬
buch gelernt wird, so wäre dieses Gefühl wahrscheinlich nicht vorhanden. Ich
glaube nicht, daß z. B. die blinde und taubstumme Helen Keller die englische
Sprache, die sie ja in so wunderbarer Weise gelernt hat', als einen lebendigen
Organismus betrachtet. Sicherlich hat sie sich zuerst eine eigene Sprache geschaffen,
indem sie die Eindrücke, die ihre wenigen Sinne ihr vermittelten, mit irgend¬
welchen Bildern verband, die bei der Wiederholung der Eindrücke im Gedächtnis
wieder auftauchten. Diese Bilder mochten ihr als etwas natürlich Gewordenes
erscheinen; die Sprache, die sie von ihrer Lehrerin erlernte, war demgegenüber
etwas rein Willkürliches, eine künstliche Sprache. Es war eine zwischen ihnen
beiden geltende Verabredung bestimmter Zeichen für bestimmte Dinge. Und das
ist das Wesen der Sprache überhaupt, nur daß unsere Zeichen Lante und Laut¬
gruppen sind, Vereinbarungen, die zufällig entstanden sind und durch still¬
schweigende Unterwerfung vieler unter den einmal entstandenen Gebrauch sich
auf einen größeren Kreis von Menschen erstreckt haben.

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir dieselben Dinge, die
uns aus der Muttersprache her vertraut sind, mit Lauten bezeichnen, die für
uns etwas Willkürliches, Zufälliges, manchmal Lächerliches haben; wir lernen
Dinge, die wir mit verschiedenen Wörtern bezeichnen, in einem Worte zusammen¬
fassen, und umgekehrt lernen wir in der fremden Sprache Unterschiede, die wir
nicht haben. Wir lernen schließlich die verschiedenen Wörter in anderer Weise
zu Sätzen verbinden, als wir es in unserer Sprache gewohnt sind. Wie natürlich
oder künstlich die Sprache, die wir lernen, entstanden ist, ist uns gleichgültig,
soweit das bloße Lernen der Wörter und Formen in Betracht kommt. Wem
es in der Hauptsache darauf ankommt, sich in einer fremden Sprache mit einem
anderen zu verständigen, sei es. daß sie dessen Muttersprache, sei es, daß sie


Grenzbotsn II 1911 26
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[0213] Die internationale Sprache So geht es heute noch der Mehrzahl unserer gebildeten Zeitgenossen mit der internationalen Hilfssprache. Obwohl sich auf den: ganzen Erdenrund Männer mit den besten Namen, in den hervorragendsten Stellungen auf allen Gebieten der Theorie und der Praxis für Esperanto nicht nur als mögliche, sondern schon wirklich gewordene Hilfssprache interessiert haben und jahrelang mit immer wachsendem Erfolge daran arbeiten, dieses das Leben vereinfachende und bereichernde Kulturwerk der ganzen Menschheit nutzbar zu machen, gibt es immer noch Menschen von nicht geringerer Bedeutung, die es für eine Unmög¬ lichkeit halten, lediglich deshalb, weil sie es nicht kennen, sich nicht überzeugen wollen, weil Gefühlsgründe sie von dem verstandesmäßigen Eindringen in die Sache abhalten. Weil man mit der Muttersprache aufgewachsen ist, weil man sie unbewußt in sich aufgenommen und immer mit ihr gelebt hat, hält man die Sprache selbst für etwas Lebendiges, Naturwüchsiges, eine künstliche Sprache für etwas ebenso Unmögliches wie einen in der Retorte geschaffenen Homunkulus. Wäreir die Menschen bis zu ihrer Verstandesreife taubstumm und müßten sie dann ihre Sprache lernen, wie irgendeine fremde nach Grammatik und Wörter¬ buch gelernt wird, so wäre dieses Gefühl wahrscheinlich nicht vorhanden. Ich glaube nicht, daß z. B. die blinde und taubstumme Helen Keller die englische Sprache, die sie ja in so wunderbarer Weise gelernt hat', als einen lebendigen Organismus betrachtet. Sicherlich hat sie sich zuerst eine eigene Sprache geschaffen, indem sie die Eindrücke, die ihre wenigen Sinne ihr vermittelten, mit irgend¬ welchen Bildern verband, die bei der Wiederholung der Eindrücke im Gedächtnis wieder auftauchten. Diese Bilder mochten ihr als etwas natürlich Gewordenes erscheinen; die Sprache, die sie von ihrer Lehrerin erlernte, war demgegenüber etwas rein Willkürliches, eine künstliche Sprache. Es war eine zwischen ihnen beiden geltende Verabredung bestimmter Zeichen für bestimmte Dinge. Und das ist das Wesen der Sprache überhaupt, nur daß unsere Zeichen Lante und Laut¬ gruppen sind, Vereinbarungen, die zufällig entstanden sind und durch still¬ schweigende Unterwerfung vieler unter den einmal entstandenen Gebrauch sich auf einen größeren Kreis von Menschen erstreckt haben. Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so lernen wir dieselben Dinge, die uns aus der Muttersprache her vertraut sind, mit Lauten bezeichnen, die für uns etwas Willkürliches, Zufälliges, manchmal Lächerliches haben; wir lernen Dinge, die wir mit verschiedenen Wörtern bezeichnen, in einem Worte zusammen¬ fassen, und umgekehrt lernen wir in der fremden Sprache Unterschiede, die wir nicht haben. Wir lernen schließlich die verschiedenen Wörter in anderer Weise zu Sätzen verbinden, als wir es in unserer Sprache gewohnt sind. Wie natürlich oder künstlich die Sprache, die wir lernen, entstanden ist, ist uns gleichgültig, soweit das bloße Lernen der Wörter und Formen in Betracht kommt. Wem es in der Hauptsache darauf ankommt, sich in einer fremden Sprache mit einem anderen zu verständigen, sei es. daß sie dessen Muttersprache, sei es, daß sie Grenzbotsn II 1911 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/213>, abgerufen am 03.07.2024.