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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Der rote Rausch

Nicht mehr fortgehen müssen, nicht mehr fort von hier, . . Gaston fühlte
eine heiße Welle von innen heraufdrangen und in die Augen steigen. Gaston,
der hochtrabende, eitle, prahlerische, seelengute Gaston hätte beinahe geweint wie
ein verlassenes Kniiblein.

"Der General!"

Die Soldaten sprangen auf. Meuterer, Eidbrüchige, Fahnenflüchtige --
sie standen in strammer Haltung, erwartend, fast demütig, als der General auf
sie zuritt.

Die armen Burschen!

Und ist es nicht Vater Marcellin, der neben dem Pferd des Generals einher¬
schreitet? Vater Marcellin, aus Paris zurückgekehrt, die "Garantien" in der Tasche,
zurückgekehrt, den Krieg zu beenden, ein Friedensengel! Einzelne Zurufe erschallten
ohne Echo, der Herzschlag der Frende stand still, so lähmend wirkte das plötzliche
Erscheinen des hohen Offiziers.

Er redete auf die Soldaten ermahnend ein, mild, väterlich, fast zärtlich, wie
man aus unartige Kinder einredet. Kein Vorwurf, keine Drohung, kein Befehlen!
Die sanften, vorsichtigen Worte wirkten mehr, sie wirkten sonderbar. Er sagte es
nicht, aber die einfachen Seelen fühlten plötzlich die ungeheure Schuld, die sie auf
sich geladen: schimpflichen Verrat, die Fahne mit unverlöschlicher Schmach bedeckt,
ein Verbrechen, nur mit dem Tod zu sühnen. . .

Man sah einen Abgrund vor sich und darin die zerbrochene Ehre, das ver¬
wirkte Leben, wo man vorher den Ruhmeshügel, von dem die Sache der Liebe
und des eigenen Volkes winkte, zu erblicken vermeinte. In dem dumpfen Erkennen
war die Gewißheit, daß die unsichtbaren Gewalten mehr Kraft hatten als die
sichtbaren. .. Pflichten, wenn auch verhaßt und widerwillig angenommen, alle
Sittengesetze, der ganze soziale Vertrag innerhalb einer Zeit mit all ihren falschen
und wahren Idealen, selbst die Irrtümer der Zeit gehörten zu diesen unsichtbaren
Gewalten, den wirklichsten, zwingendsten, unwiderstehlichsten, die Schicksale
schaffen, Schuld hervorrufen, Sühne fordern und das große menschliche Drama
erzeugen.

Hier war kein Entrinnen: gehorchte man der Natur, erhob das beleidigte
Sittengesetz den Rächerarm; war man der abstrakten Forderung der Zeit und
ihren Irrtümern Untertan, so strafte uns die Natur für die Untreue; meistens
aber liegen die Dinge so kompliziert, daß Sitte gegen Sitte, Gesetz gegen Gesetz,
Triebe gegen Triebe stehen, und daß die seltenste der Künste, die Lebenskunst,
dazu gehört, die Gegensätze zu versöhnen.

Das war die Tragödie der jungen Soldaten, die Tragödie der Winzer, die
Tragödie des Landes.

Es gibt keine Schuld, der nicht auf der großen Weltwage ihr genaues, voll-
gestrichenes Maß an Sühne zugewogen wird.

Nun ließ sich Vater Marcellin hören. Gaston kam übel weg bei der Straf-
rede, aber auch die Winzer kriegten ihr Teil ab.

"Was ist mit Marcellin geschehen? Ist er bei übler Laune? Der Winzer¬
apostel! Der voll heiligen Eifers für die Sache des Volkes war? Er schilt uns!
Warum? Gut, wir wollen hören!"

Es gab wenig Zufriedene unter den Winzern.


Der rote Rausch

Nicht mehr fortgehen müssen, nicht mehr fort von hier, . . Gaston fühlte
eine heiße Welle von innen heraufdrangen und in die Augen steigen. Gaston,
der hochtrabende, eitle, prahlerische, seelengute Gaston hätte beinahe geweint wie
ein verlassenes Kniiblein.

„Der General!"

Die Soldaten sprangen auf. Meuterer, Eidbrüchige, Fahnenflüchtige —
sie standen in strammer Haltung, erwartend, fast demütig, als der General auf
sie zuritt.

Die armen Burschen!

Und ist es nicht Vater Marcellin, der neben dem Pferd des Generals einher¬
schreitet? Vater Marcellin, aus Paris zurückgekehrt, die „Garantien" in der Tasche,
zurückgekehrt, den Krieg zu beenden, ein Friedensengel! Einzelne Zurufe erschallten
ohne Echo, der Herzschlag der Frende stand still, so lähmend wirkte das plötzliche
Erscheinen des hohen Offiziers.

Er redete auf die Soldaten ermahnend ein, mild, väterlich, fast zärtlich, wie
man aus unartige Kinder einredet. Kein Vorwurf, keine Drohung, kein Befehlen!
Die sanften, vorsichtigen Worte wirkten mehr, sie wirkten sonderbar. Er sagte es
nicht, aber die einfachen Seelen fühlten plötzlich die ungeheure Schuld, die sie auf
sich geladen: schimpflichen Verrat, die Fahne mit unverlöschlicher Schmach bedeckt,
ein Verbrechen, nur mit dem Tod zu sühnen. . .

Man sah einen Abgrund vor sich und darin die zerbrochene Ehre, das ver¬
wirkte Leben, wo man vorher den Ruhmeshügel, von dem die Sache der Liebe
und des eigenen Volkes winkte, zu erblicken vermeinte. In dem dumpfen Erkennen
war die Gewißheit, daß die unsichtbaren Gewalten mehr Kraft hatten als die
sichtbaren. .. Pflichten, wenn auch verhaßt und widerwillig angenommen, alle
Sittengesetze, der ganze soziale Vertrag innerhalb einer Zeit mit all ihren falschen
und wahren Idealen, selbst die Irrtümer der Zeit gehörten zu diesen unsichtbaren
Gewalten, den wirklichsten, zwingendsten, unwiderstehlichsten, die Schicksale
schaffen, Schuld hervorrufen, Sühne fordern und das große menschliche Drama
erzeugen.

Hier war kein Entrinnen: gehorchte man der Natur, erhob das beleidigte
Sittengesetz den Rächerarm; war man der abstrakten Forderung der Zeit und
ihren Irrtümern Untertan, so strafte uns die Natur für die Untreue; meistens
aber liegen die Dinge so kompliziert, daß Sitte gegen Sitte, Gesetz gegen Gesetz,
Triebe gegen Triebe stehen, und daß die seltenste der Künste, die Lebenskunst,
dazu gehört, die Gegensätze zu versöhnen.

Das war die Tragödie der jungen Soldaten, die Tragödie der Winzer, die
Tragödie des Landes.

Es gibt keine Schuld, der nicht auf der großen Weltwage ihr genaues, voll-
gestrichenes Maß an Sühne zugewogen wird.

Nun ließ sich Vater Marcellin hören. Gaston kam übel weg bei der Straf-
rede, aber auch die Winzer kriegten ihr Teil ab.

„Was ist mit Marcellin geschehen? Ist er bei übler Laune? Der Winzer¬
apostel! Der voll heiligen Eifers für die Sache des Volkes war? Er schilt uns!
Warum? Gut, wir wollen hören!"

Es gab wenig Zufriedene unter den Winzern.


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[0183] Der rote Rausch Nicht mehr fortgehen müssen, nicht mehr fort von hier, . . Gaston fühlte eine heiße Welle von innen heraufdrangen und in die Augen steigen. Gaston, der hochtrabende, eitle, prahlerische, seelengute Gaston hätte beinahe geweint wie ein verlassenes Kniiblein. „Der General!" Die Soldaten sprangen auf. Meuterer, Eidbrüchige, Fahnenflüchtige — sie standen in strammer Haltung, erwartend, fast demütig, als der General auf sie zuritt. Die armen Burschen! Und ist es nicht Vater Marcellin, der neben dem Pferd des Generals einher¬ schreitet? Vater Marcellin, aus Paris zurückgekehrt, die „Garantien" in der Tasche, zurückgekehrt, den Krieg zu beenden, ein Friedensengel! Einzelne Zurufe erschallten ohne Echo, der Herzschlag der Frende stand still, so lähmend wirkte das plötzliche Erscheinen des hohen Offiziers. Er redete auf die Soldaten ermahnend ein, mild, väterlich, fast zärtlich, wie man aus unartige Kinder einredet. Kein Vorwurf, keine Drohung, kein Befehlen! Die sanften, vorsichtigen Worte wirkten mehr, sie wirkten sonderbar. Er sagte es nicht, aber die einfachen Seelen fühlten plötzlich die ungeheure Schuld, die sie auf sich geladen: schimpflichen Verrat, die Fahne mit unverlöschlicher Schmach bedeckt, ein Verbrechen, nur mit dem Tod zu sühnen. . . Man sah einen Abgrund vor sich und darin die zerbrochene Ehre, das ver¬ wirkte Leben, wo man vorher den Ruhmeshügel, von dem die Sache der Liebe und des eigenen Volkes winkte, zu erblicken vermeinte. In dem dumpfen Erkennen war die Gewißheit, daß die unsichtbaren Gewalten mehr Kraft hatten als die sichtbaren. .. Pflichten, wenn auch verhaßt und widerwillig angenommen, alle Sittengesetze, der ganze soziale Vertrag innerhalb einer Zeit mit all ihren falschen und wahren Idealen, selbst die Irrtümer der Zeit gehörten zu diesen unsichtbaren Gewalten, den wirklichsten, zwingendsten, unwiderstehlichsten, die Schicksale schaffen, Schuld hervorrufen, Sühne fordern und das große menschliche Drama erzeugen. Hier war kein Entrinnen: gehorchte man der Natur, erhob das beleidigte Sittengesetz den Rächerarm; war man der abstrakten Forderung der Zeit und ihren Irrtümern Untertan, so strafte uns die Natur für die Untreue; meistens aber liegen die Dinge so kompliziert, daß Sitte gegen Sitte, Gesetz gegen Gesetz, Triebe gegen Triebe stehen, und daß die seltenste der Künste, die Lebenskunst, dazu gehört, die Gegensätze zu versöhnen. Das war die Tragödie der jungen Soldaten, die Tragödie der Winzer, die Tragödie des Landes. Es gibt keine Schuld, der nicht auf der großen Weltwage ihr genaues, voll- gestrichenes Maß an Sühne zugewogen wird. Nun ließ sich Vater Marcellin hören. Gaston kam übel weg bei der Straf- rede, aber auch die Winzer kriegten ihr Teil ab. „Was ist mit Marcellin geschehen? Ist er bei übler Laune? Der Winzer¬ apostel! Der voll heiligen Eifers für die Sache des Volkes war? Er schilt uns! Warum? Gut, wir wollen hören!" Es gab wenig Zufriedene unter den Winzern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/183>, abgerufen am 03.07.2024.