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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Rcichsspiegel

sogenannter Schülerselbstmorde gesprochen werden; ferner ist einwandfrei fest¬
gestellt, daß die Zahl der Selbstmorde unter den Schülern der Gymnasien und
Realgymnasien im Verhältnis nicht größer sei als die bei Gleichaltrigen anderer
Kreise. Damit ist von den Schulen ein böses Odium genommen. Eine amt¬
liche Statistik weist nach, daß im Laufe der Jahre wiederholt auf ein Sinken
der Zahl ein schnelles Aufsteigen folgte. In den durch die Statistik erfaßten
31 Jahren sind insgesamt 463 Fälle von Schülerselbstmorden vorgekommen,
was einen jährlichen Durchschnitt von 15 Fällen ergibt. Dieser Durchschnitt
ist in den Jahren 1883, 1889, 1892, 1897, 1903, 1907, 1908 und 1910
erheblich überschritten, während die Jahre 1882, 1895, 1898 und 1904 wesentlich
darunter blieben. In den letzten drei Jahren waren zu verzeichnen 1908 28,
1909 24 und 1910 23 Fälle. Wenn diese Zahlen auch über den Jahres¬
durchschnitt erheblich hinausgehen, so ist dabei die außerordentliche Zunahme
der Schüler an höheren Lehranstalten zu berücksichtigen. Auf 100000 Schüler
entfallen in den letzten drei Jahren im Durchschnitt je 11 Fülle, eine Zahl,
die in früheren Jahren bereits sechsmal überschritten ist, am höchsten im
Jahre 1889. Die vorgekommenen Fälle verteilen sich nicht gleichmäßig auf
die Monarchie, vielmehr entfällt eine sehr hohe Zahl auf die großen Städte,
und zwar erheblich mehr, als nach der Schülerzahl zu erwarten wäre. Von
den in den letzten zehn Jahren vorgekommenen 210 Fällen entfallen 43 auf
Berlin. Während man früher annahm, daß die humanistischen Anstalten an
den Schülerselbstmorden in höherem Maße beteiligt wären, zeigt die Statistik
der letzten Jahre eine größere Zahl an den Realanstalten.

Durch die letzte Feststellung werden Ausführungen eines Berner Schul¬
mannes, Professor Herbertz, wenigstens teilweise widerlegt. Immerhin bleibt
noch ein gut Teil seiner Hinweise als berechtigt bestehen, wenn er den "Idealis¬
mus in jeder Form", den ethischen ebenso wie den ästhetischen, metaphysischen,
religiösen und künstlerischen, als Gefahrenträger bezeichnet.

"Nehmen wir", so schreibt Herr Herbertz, "einen Gymnasiasten an, der sich
in den Idealismus etwa der Schillerschen Lebensauffassung voll hineingelebt hat.
Nehmen wir an, daß ihm insbesondere der sittliche Idealismus des großen
Dichters zu einer sein Herz und seinen Geist erfüllenden Überzeugung geworden
ist. .Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die
Schuld' -- ist einem solchen Jüngling dann ein Wort, das er nicht nur im
Zusammenhang des Trauerspiels, dessen Abschluß es bildet, zu verstehen sucht,
sondern das für ihn eine sein ganzes eigenes Leben umspannende Bedeutung
besitzt. Nehmen wir nun weiter an, daß jener selbe Schüler in der Zeit der
beginnenden Pubertät -- wie viele tausend andere -- jenen bekannten Ver¬
fehlungen sich hingegeben habe, die mehr als eine bloße geschlechtliche Unart,
ckber weit weniger als ein Laster sind. Dann wird er in seiner durch die
Folgen der Verfehlungen noch gesteigerten Reizbarkeit und Empfindlichkeit seine
Lebensführung als .lasterhaft ansehen und sich mit den: Gedanken quälen, er


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sogenannter Schülerselbstmorde gesprochen werden; ferner ist einwandfrei fest¬
gestellt, daß die Zahl der Selbstmorde unter den Schülern der Gymnasien und
Realgymnasien im Verhältnis nicht größer sei als die bei Gleichaltrigen anderer
Kreise. Damit ist von den Schulen ein böses Odium genommen. Eine amt¬
liche Statistik weist nach, daß im Laufe der Jahre wiederholt auf ein Sinken
der Zahl ein schnelles Aufsteigen folgte. In den durch die Statistik erfaßten
31 Jahren sind insgesamt 463 Fälle von Schülerselbstmorden vorgekommen,
was einen jährlichen Durchschnitt von 15 Fällen ergibt. Dieser Durchschnitt
ist in den Jahren 1883, 1889, 1892, 1897, 1903, 1907, 1908 und 1910
erheblich überschritten, während die Jahre 1882, 1895, 1898 und 1904 wesentlich
darunter blieben. In den letzten drei Jahren waren zu verzeichnen 1908 28,
1909 24 und 1910 23 Fälle. Wenn diese Zahlen auch über den Jahres¬
durchschnitt erheblich hinausgehen, so ist dabei die außerordentliche Zunahme
der Schüler an höheren Lehranstalten zu berücksichtigen. Auf 100000 Schüler
entfallen in den letzten drei Jahren im Durchschnitt je 11 Fülle, eine Zahl,
die in früheren Jahren bereits sechsmal überschritten ist, am höchsten im
Jahre 1889. Die vorgekommenen Fälle verteilen sich nicht gleichmäßig auf
die Monarchie, vielmehr entfällt eine sehr hohe Zahl auf die großen Städte,
und zwar erheblich mehr, als nach der Schülerzahl zu erwarten wäre. Von
den in den letzten zehn Jahren vorgekommenen 210 Fällen entfallen 43 auf
Berlin. Während man früher annahm, daß die humanistischen Anstalten an
den Schülerselbstmorden in höherem Maße beteiligt wären, zeigt die Statistik
der letzten Jahre eine größere Zahl an den Realanstalten.

Durch die letzte Feststellung werden Ausführungen eines Berner Schul¬
mannes, Professor Herbertz, wenigstens teilweise widerlegt. Immerhin bleibt
noch ein gut Teil seiner Hinweise als berechtigt bestehen, wenn er den „Idealis¬
mus in jeder Form", den ethischen ebenso wie den ästhetischen, metaphysischen,
religiösen und künstlerischen, als Gefahrenträger bezeichnet.

„Nehmen wir", so schreibt Herr Herbertz, „einen Gymnasiasten an, der sich
in den Idealismus etwa der Schillerschen Lebensauffassung voll hineingelebt hat.
Nehmen wir an, daß ihm insbesondere der sittliche Idealismus des großen
Dichters zu einer sein Herz und seinen Geist erfüllenden Überzeugung geworden
ist. .Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die
Schuld' — ist einem solchen Jüngling dann ein Wort, das er nicht nur im
Zusammenhang des Trauerspiels, dessen Abschluß es bildet, zu verstehen sucht,
sondern das für ihn eine sein ganzes eigenes Leben umspannende Bedeutung
besitzt. Nehmen wir nun weiter an, daß jener selbe Schüler in der Zeit der
beginnenden Pubertät — wie viele tausend andere — jenen bekannten Ver¬
fehlungen sich hingegeben habe, die mehr als eine bloße geschlechtliche Unart,
ckber weit weniger als ein Laster sind. Dann wird er in seiner durch die
Folgen der Verfehlungen noch gesteigerten Reizbarkeit und Empfindlichkeit seine
Lebensführung als .lasterhaft ansehen und sich mit den: Gedanken quälen, er


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[0145] Rcichsspiegel sogenannter Schülerselbstmorde gesprochen werden; ferner ist einwandfrei fest¬ gestellt, daß die Zahl der Selbstmorde unter den Schülern der Gymnasien und Realgymnasien im Verhältnis nicht größer sei als die bei Gleichaltrigen anderer Kreise. Damit ist von den Schulen ein böses Odium genommen. Eine amt¬ liche Statistik weist nach, daß im Laufe der Jahre wiederholt auf ein Sinken der Zahl ein schnelles Aufsteigen folgte. In den durch die Statistik erfaßten 31 Jahren sind insgesamt 463 Fälle von Schülerselbstmorden vorgekommen, was einen jährlichen Durchschnitt von 15 Fällen ergibt. Dieser Durchschnitt ist in den Jahren 1883, 1889, 1892, 1897, 1903, 1907, 1908 und 1910 erheblich überschritten, während die Jahre 1882, 1895, 1898 und 1904 wesentlich darunter blieben. In den letzten drei Jahren waren zu verzeichnen 1908 28, 1909 24 und 1910 23 Fälle. Wenn diese Zahlen auch über den Jahres¬ durchschnitt erheblich hinausgehen, so ist dabei die außerordentliche Zunahme der Schüler an höheren Lehranstalten zu berücksichtigen. Auf 100000 Schüler entfallen in den letzten drei Jahren im Durchschnitt je 11 Fülle, eine Zahl, die in früheren Jahren bereits sechsmal überschritten ist, am höchsten im Jahre 1889. Die vorgekommenen Fälle verteilen sich nicht gleichmäßig auf die Monarchie, vielmehr entfällt eine sehr hohe Zahl auf die großen Städte, und zwar erheblich mehr, als nach der Schülerzahl zu erwarten wäre. Von den in den letzten zehn Jahren vorgekommenen 210 Fällen entfallen 43 auf Berlin. Während man früher annahm, daß die humanistischen Anstalten an den Schülerselbstmorden in höherem Maße beteiligt wären, zeigt die Statistik der letzten Jahre eine größere Zahl an den Realanstalten. Durch die letzte Feststellung werden Ausführungen eines Berner Schul¬ mannes, Professor Herbertz, wenigstens teilweise widerlegt. Immerhin bleibt noch ein gut Teil seiner Hinweise als berechtigt bestehen, wenn er den „Idealis¬ mus in jeder Form", den ethischen ebenso wie den ästhetischen, metaphysischen, religiösen und künstlerischen, als Gefahrenträger bezeichnet. „Nehmen wir", so schreibt Herr Herbertz, „einen Gymnasiasten an, der sich in den Idealismus etwa der Schillerschen Lebensauffassung voll hineingelebt hat. Nehmen wir an, daß ihm insbesondere der sittliche Idealismus des großen Dichters zu einer sein Herz und seinen Geist erfüllenden Überzeugung geworden ist. .Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Übel größtes aber ist die Schuld' — ist einem solchen Jüngling dann ein Wort, das er nicht nur im Zusammenhang des Trauerspiels, dessen Abschluß es bildet, zu verstehen sucht, sondern das für ihn eine sein ganzes eigenes Leben umspannende Bedeutung besitzt. Nehmen wir nun weiter an, daß jener selbe Schüler in der Zeit der beginnenden Pubertät — wie viele tausend andere — jenen bekannten Ver¬ fehlungen sich hingegeben habe, die mehr als eine bloße geschlechtliche Unart, ckber weit weniger als ein Laster sind. Dann wird er in seiner durch die Folgen der Verfehlungen noch gesteigerten Reizbarkeit und Empfindlichkeit seine Lebensführung als .lasterhaft ansehen und sich mit den: Gedanken quälen, er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/145>, abgerufen am 29.06.2024.