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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Lage doch nicht so geklärt, daß ein Aufschwung in allen Zweigen der gewerb¬
lichen und produktiven Tätigkeit, wie er das Merkmal einer Hochkonjunktur zu
sein pflegt, mit Sicherheit festzustellen wäre. Prüft man die Angaben der
Statistik, so fehlt es allerdings nicht an Anzeichen für eine lebhafte wirtschaft¬
liche Entwicklung. Unsere Kohlenproduktion, die Roheisenerzeugung, die Absatz¬
ziffern des Stahlwerksverbandes, der Außenhandel Deutschlands, und endlich die
Eisenbahneinnahmen weisen im Jahre 1910 und noch mehr im I. Quartal des
laufenden Jahres Zahlen auf, welche die des Konjunkturjahres 1907 durchweg
erreichen, wenn nicht hinter sich lassen. Gleichwohl aber wollen die Klagen
über ungenügende Absatzverhältnisse, schlechte Preise und mangelnde Beschäfti¬
gung aus einzelnen Gewerbszweigen nicht verstummen. Die wirtschaftliche
Besserung, die in jenen Ziffern der Statistik zutage tritt, ist daher noch keine
allgemeine. Sieht man genauer zu, so sind es in der Tat nur die großen
gemischten Betriebe und die syndizierten Industriezweige, die sich des Vorteils
der wirtschaftlichen Entwicklung erfreuen, während andere sich noch in einer
recht schwierigen Lage befinden. Für die Börsentendenz sind nun freilich die
ersteren von ausschlaggebender Bedeutung. Es kann daher nicht wundernehmen,
daß wir die Jndustriepaviere in einer unaufhaltsamen Kurssteigerung begriffen
sehen und daß infolge des günstigen Kursstandes sich Neuemissionen, Kapitals¬
erhöhungen und Fusionen drängen wie nur jemals zuzeiten einer Hoch¬
konjunktur. Haben doch die beiden letzten Quartale für Neugründungen und
Kapitalserhöhungen einen Aufwand von rund 725 Millionen Mark -- hauptsächlich
für die Zwecke der elektrotechnischen und Montanindustrie -- erfordert, eine Ziffer,
die nur wenig hinter der des Jahres 1906/07 zurückbleibt. Bei diesen
Fusionen und Kapitalserhöhungen wiederholen sich auch bereits die Erscheinungen,
welche man bei früheren Hochkonjunkturen beobachten konnte, nämlich ein Zurück¬
treten der wirtschaftspolitischen Momente und eine Ausnutzung des hohen Aktien¬
agios zugunsten gewisser Spezialinteressen von Großaktionären oder Gläubigern.
Typisch hierfür sind zwei Fusionen der jüngsten Zeit: die des Eisenwerks
Kraft mit der niederrheinischen Hütte und die des Fassoneisen-
walzwerks Mannstädt mit der Sieg-Rheinischen Hütten-A.-G. In
beiden Fällen handelt es sich darum, daß ein wirtschaftlich hochentwickeltes
Unternehmen ein schwach fundiertes in sich aufnimmt, nicht um dadurch einen
Wettbewerb auszuschalten oder seine eigenen Produktionsbedingungen zu ver¬
bessern, sondern um den Gläubigern, die bei den schwächer fundierten Werken
erhebliche Kapitalien festgelegt haben, durch diese Fusion zu Hilfe zu kommen.
In dem einen Fall ist dieser Gläubiger Fürst Henkel-Donnersmarck, in dem
anderen Fall der Schaaffhausensche Bankverein. Der erstere mobilisiert auf
diese Weise eine Forderung von nicht weniger als 11 Millionen Mark an die
Niederrheinische Hütte, der Bankverein eine solche von annähernd 5 Millionen
Mark. Hier wie dort wird das Kapital der übernehmenden Gesellschaft so
stark verwässert, daß sie auf eine vollständig andere wirtschaftliche Basis


Reichsspiegel

Lage doch nicht so geklärt, daß ein Aufschwung in allen Zweigen der gewerb¬
lichen und produktiven Tätigkeit, wie er das Merkmal einer Hochkonjunktur zu
sein pflegt, mit Sicherheit festzustellen wäre. Prüft man die Angaben der
Statistik, so fehlt es allerdings nicht an Anzeichen für eine lebhafte wirtschaft¬
liche Entwicklung. Unsere Kohlenproduktion, die Roheisenerzeugung, die Absatz¬
ziffern des Stahlwerksverbandes, der Außenhandel Deutschlands, und endlich die
Eisenbahneinnahmen weisen im Jahre 1910 und noch mehr im I. Quartal des
laufenden Jahres Zahlen auf, welche die des Konjunkturjahres 1907 durchweg
erreichen, wenn nicht hinter sich lassen. Gleichwohl aber wollen die Klagen
über ungenügende Absatzverhältnisse, schlechte Preise und mangelnde Beschäfti¬
gung aus einzelnen Gewerbszweigen nicht verstummen. Die wirtschaftliche
Besserung, die in jenen Ziffern der Statistik zutage tritt, ist daher noch keine
allgemeine. Sieht man genauer zu, so sind es in der Tat nur die großen
gemischten Betriebe und die syndizierten Industriezweige, die sich des Vorteils
der wirtschaftlichen Entwicklung erfreuen, während andere sich noch in einer
recht schwierigen Lage befinden. Für die Börsentendenz sind nun freilich die
ersteren von ausschlaggebender Bedeutung. Es kann daher nicht wundernehmen,
daß wir die Jndustriepaviere in einer unaufhaltsamen Kurssteigerung begriffen
sehen und daß infolge des günstigen Kursstandes sich Neuemissionen, Kapitals¬
erhöhungen und Fusionen drängen wie nur jemals zuzeiten einer Hoch¬
konjunktur. Haben doch die beiden letzten Quartale für Neugründungen und
Kapitalserhöhungen einen Aufwand von rund 725 Millionen Mark — hauptsächlich
für die Zwecke der elektrotechnischen und Montanindustrie — erfordert, eine Ziffer,
die nur wenig hinter der des Jahres 1906/07 zurückbleibt. Bei diesen
Fusionen und Kapitalserhöhungen wiederholen sich auch bereits die Erscheinungen,
welche man bei früheren Hochkonjunkturen beobachten konnte, nämlich ein Zurück¬
treten der wirtschaftspolitischen Momente und eine Ausnutzung des hohen Aktien¬
agios zugunsten gewisser Spezialinteressen von Großaktionären oder Gläubigern.
Typisch hierfür sind zwei Fusionen der jüngsten Zeit: die des Eisenwerks
Kraft mit der niederrheinischen Hütte und die des Fassoneisen-
walzwerks Mannstädt mit der Sieg-Rheinischen Hütten-A.-G. In
beiden Fällen handelt es sich darum, daß ein wirtschaftlich hochentwickeltes
Unternehmen ein schwach fundiertes in sich aufnimmt, nicht um dadurch einen
Wettbewerb auszuschalten oder seine eigenen Produktionsbedingungen zu ver¬
bessern, sondern um den Gläubigern, die bei den schwächer fundierten Werken
erhebliche Kapitalien festgelegt haben, durch diese Fusion zu Hilfe zu kommen.
In dem einen Fall ist dieser Gläubiger Fürst Henkel-Donnersmarck, in dem
anderen Fall der Schaaffhausensche Bankverein. Der erstere mobilisiert auf
diese Weise eine Forderung von nicht weniger als 11 Millionen Mark an die
Niederrheinische Hütte, der Bankverein eine solche von annähernd 5 Millionen
Mark. Hier wie dort wird das Kapital der übernehmenden Gesellschaft so
stark verwässert, daß sie auf eine vollständig andere wirtschaftliche Basis


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[0104] Reichsspiegel Lage doch nicht so geklärt, daß ein Aufschwung in allen Zweigen der gewerb¬ lichen und produktiven Tätigkeit, wie er das Merkmal einer Hochkonjunktur zu sein pflegt, mit Sicherheit festzustellen wäre. Prüft man die Angaben der Statistik, so fehlt es allerdings nicht an Anzeichen für eine lebhafte wirtschaft¬ liche Entwicklung. Unsere Kohlenproduktion, die Roheisenerzeugung, die Absatz¬ ziffern des Stahlwerksverbandes, der Außenhandel Deutschlands, und endlich die Eisenbahneinnahmen weisen im Jahre 1910 und noch mehr im I. Quartal des laufenden Jahres Zahlen auf, welche die des Konjunkturjahres 1907 durchweg erreichen, wenn nicht hinter sich lassen. Gleichwohl aber wollen die Klagen über ungenügende Absatzverhältnisse, schlechte Preise und mangelnde Beschäfti¬ gung aus einzelnen Gewerbszweigen nicht verstummen. Die wirtschaftliche Besserung, die in jenen Ziffern der Statistik zutage tritt, ist daher noch keine allgemeine. Sieht man genauer zu, so sind es in der Tat nur die großen gemischten Betriebe und die syndizierten Industriezweige, die sich des Vorteils der wirtschaftlichen Entwicklung erfreuen, während andere sich noch in einer recht schwierigen Lage befinden. Für die Börsentendenz sind nun freilich die ersteren von ausschlaggebender Bedeutung. Es kann daher nicht wundernehmen, daß wir die Jndustriepaviere in einer unaufhaltsamen Kurssteigerung begriffen sehen und daß infolge des günstigen Kursstandes sich Neuemissionen, Kapitals¬ erhöhungen und Fusionen drängen wie nur jemals zuzeiten einer Hoch¬ konjunktur. Haben doch die beiden letzten Quartale für Neugründungen und Kapitalserhöhungen einen Aufwand von rund 725 Millionen Mark — hauptsächlich für die Zwecke der elektrotechnischen und Montanindustrie — erfordert, eine Ziffer, die nur wenig hinter der des Jahres 1906/07 zurückbleibt. Bei diesen Fusionen und Kapitalserhöhungen wiederholen sich auch bereits die Erscheinungen, welche man bei früheren Hochkonjunkturen beobachten konnte, nämlich ein Zurück¬ treten der wirtschaftspolitischen Momente und eine Ausnutzung des hohen Aktien¬ agios zugunsten gewisser Spezialinteressen von Großaktionären oder Gläubigern. Typisch hierfür sind zwei Fusionen der jüngsten Zeit: die des Eisenwerks Kraft mit der niederrheinischen Hütte und die des Fassoneisen- walzwerks Mannstädt mit der Sieg-Rheinischen Hütten-A.-G. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß ein wirtschaftlich hochentwickeltes Unternehmen ein schwach fundiertes in sich aufnimmt, nicht um dadurch einen Wettbewerb auszuschalten oder seine eigenen Produktionsbedingungen zu ver¬ bessern, sondern um den Gläubigern, die bei den schwächer fundierten Werken erhebliche Kapitalien festgelegt haben, durch diese Fusion zu Hilfe zu kommen. In dem einen Fall ist dieser Gläubiger Fürst Henkel-Donnersmarck, in dem anderen Fall der Schaaffhausensche Bankverein. Der erstere mobilisiert auf diese Weise eine Forderung von nicht weniger als 11 Millionen Mark an die Niederrheinische Hütte, der Bankverein eine solche von annähernd 5 Millionen Mark. Hier wie dort wird das Kapital der übernehmenden Gesellschaft so stark verwässert, daß sie auf eine vollständig andere wirtschaftliche Basis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/104>, abgerufen am 22.07.2024.