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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

die ihr kein redlich Denkender abstreiten wird. Die Wiener Burg, die in
Sonnenthal und Mitterwurzer, in Baumeister und Charlotte Walter die sug¬
gestivsten Interpreten des schauspielerischen Heroismus besaß, war damals die
Bühne, die den Ton angab und ihrer ganzen Tradition nach angeben mußte.
In größeren oder kleineren Abständen folgten dann die Hoftheater von München,
Berlin, Dresden, Stuttgart. Der Maßstab für den Gegenwarts- und Kultur¬
wert einer Bühne war ausschließlich die Art und Weise, wie sie Shakespeare,
Schiller und allenfalls Grillparzer spielte. Das sogenannte moderne Konver¬
sationsstück, das sie mit den akademischen Mitteln einer überlieferten Sprechkunst
meisterte, wurde daneben an die Wand gedrückt. Was aber vollkommen fehlte,
war der Zusammenhang und das Zusammengehörigkeitsgefühl mit der leibhaftigen
Gegenwart, die doch wirklich ernst genug war, um tausend neue Probleme
auszulösen. So weit man sah und hörte, kein Abglanz und kein Widerklang
von dem, was den Menschen einer politisch und sozial und ökonomisch tief
durchfurchten Zeit die Köpfe heiß machte! Nicht das leiseste Echo weckte die
brausende Melodie eines Jahrhunderts, das man das deutsche zu nennen gelernt
hatte. Und nicht die Spur einer Verbindung knüpfte sich an zwischen dem heiß
pulsierenden Leben des Tages und den Schreibtischen weltentrückter Bühnen¬
schriftsteller und Regisseure.

In diese künstlerische Öde fuhr nun die neue proletarische Bewegung reinigend
wie ein Gewitter hinein. Mit sicherem Instinkt faßte sie den Gegner da, wo
er am leichtesten zu verletzen war: bei seiner Weltfremdheit, bei seiner in
Konvention erstarrten Form und bei seiner unsozialen Verlogenheit. Der Boden
war bereitet. Das Alte hatte abgewirtschaftet und brach denn auch prasselnd
wie morsches Holz beim ersten ernsthaften Anprall zusammen.

Natürlich wurde auch diese wie jede menschliche Bewegung nicht über Nacht
geboren. Die großen Anreger und Urbarmacher eines neuen Zeitalters hatten mit
stiller Zähigkeit Saatkörner gepflanzt, die nun allmählich aufgingen. In Deutschland
selbst hatte Nietzsche gesprochen und Anzengruber eine von Gesundheit und Farbe
strotzende Bauernkunst zum Leben erweckt, von Rußland drang die düstere Pracht und
der imposante Wahrheitsfanatismus der Dostojewski und Tolstoi, der Turgenjew
und Gogol herüber, und in Frankreich schrieben Zola und Flaubert das Schlag¬
wort vom Realismus in der Kunst auf ihr weithin flatterndes Panier. Die
mächtigste und nachhaltigste Befruchtung aber kam der deutschen Bühne aus
Norwegen. Das langsame, trotz lebhafter Widerstände nicht aufzuhaltende Vor¬
dringen Henrik Ibsens bedeutet für das deutsche Theater den Beginn einer
neuen und in ihren Resultaten nicht zu übersehenden Zeit. Und wenn man
sich schon an historische Daten klammern will, so mag man feststellen, daß die
dramatische Kunst unseres Zeitalters mit der stürmischen Berliner Aufführung
der "Gespenster" vom 9. Januar 1887 aus der Taufe gehoben wurde. Die
unerhörte psychologische Eindringlichkeit und der bohrende Wahrheitsdrang, womit
der grübelnde Norweger den Organismus einer durch und durch fauligen


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

die ihr kein redlich Denkender abstreiten wird. Die Wiener Burg, die in
Sonnenthal und Mitterwurzer, in Baumeister und Charlotte Walter die sug¬
gestivsten Interpreten des schauspielerischen Heroismus besaß, war damals die
Bühne, die den Ton angab und ihrer ganzen Tradition nach angeben mußte.
In größeren oder kleineren Abständen folgten dann die Hoftheater von München,
Berlin, Dresden, Stuttgart. Der Maßstab für den Gegenwarts- und Kultur¬
wert einer Bühne war ausschließlich die Art und Weise, wie sie Shakespeare,
Schiller und allenfalls Grillparzer spielte. Das sogenannte moderne Konver¬
sationsstück, das sie mit den akademischen Mitteln einer überlieferten Sprechkunst
meisterte, wurde daneben an die Wand gedrückt. Was aber vollkommen fehlte,
war der Zusammenhang und das Zusammengehörigkeitsgefühl mit der leibhaftigen
Gegenwart, die doch wirklich ernst genug war, um tausend neue Probleme
auszulösen. So weit man sah und hörte, kein Abglanz und kein Widerklang
von dem, was den Menschen einer politisch und sozial und ökonomisch tief
durchfurchten Zeit die Köpfe heiß machte! Nicht das leiseste Echo weckte die
brausende Melodie eines Jahrhunderts, das man das deutsche zu nennen gelernt
hatte. Und nicht die Spur einer Verbindung knüpfte sich an zwischen dem heiß
pulsierenden Leben des Tages und den Schreibtischen weltentrückter Bühnen¬
schriftsteller und Regisseure.

In diese künstlerische Öde fuhr nun die neue proletarische Bewegung reinigend
wie ein Gewitter hinein. Mit sicherem Instinkt faßte sie den Gegner da, wo
er am leichtesten zu verletzen war: bei seiner Weltfremdheit, bei seiner in
Konvention erstarrten Form und bei seiner unsozialen Verlogenheit. Der Boden
war bereitet. Das Alte hatte abgewirtschaftet und brach denn auch prasselnd
wie morsches Holz beim ersten ernsthaften Anprall zusammen.

Natürlich wurde auch diese wie jede menschliche Bewegung nicht über Nacht
geboren. Die großen Anreger und Urbarmacher eines neuen Zeitalters hatten mit
stiller Zähigkeit Saatkörner gepflanzt, die nun allmählich aufgingen. In Deutschland
selbst hatte Nietzsche gesprochen und Anzengruber eine von Gesundheit und Farbe
strotzende Bauernkunst zum Leben erweckt, von Rußland drang die düstere Pracht und
der imposante Wahrheitsfanatismus der Dostojewski und Tolstoi, der Turgenjew
und Gogol herüber, und in Frankreich schrieben Zola und Flaubert das Schlag¬
wort vom Realismus in der Kunst auf ihr weithin flatterndes Panier. Die
mächtigste und nachhaltigste Befruchtung aber kam der deutschen Bühne aus
Norwegen. Das langsame, trotz lebhafter Widerstände nicht aufzuhaltende Vor¬
dringen Henrik Ibsens bedeutet für das deutsche Theater den Beginn einer
neuen und in ihren Resultaten nicht zu übersehenden Zeit. Und wenn man
sich schon an historische Daten klammern will, so mag man feststellen, daß die
dramatische Kunst unseres Zeitalters mit der stürmischen Berliner Aufführung
der „Gespenster" vom 9. Januar 1887 aus der Taufe gehoben wurde. Die
unerhörte psychologische Eindringlichkeit und der bohrende Wahrheitsdrang, womit
der grübelnde Norweger den Organismus einer durch und durch fauligen


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[0081] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren die ihr kein redlich Denkender abstreiten wird. Die Wiener Burg, die in Sonnenthal und Mitterwurzer, in Baumeister und Charlotte Walter die sug¬ gestivsten Interpreten des schauspielerischen Heroismus besaß, war damals die Bühne, die den Ton angab und ihrer ganzen Tradition nach angeben mußte. In größeren oder kleineren Abständen folgten dann die Hoftheater von München, Berlin, Dresden, Stuttgart. Der Maßstab für den Gegenwarts- und Kultur¬ wert einer Bühne war ausschließlich die Art und Weise, wie sie Shakespeare, Schiller und allenfalls Grillparzer spielte. Das sogenannte moderne Konver¬ sationsstück, das sie mit den akademischen Mitteln einer überlieferten Sprechkunst meisterte, wurde daneben an die Wand gedrückt. Was aber vollkommen fehlte, war der Zusammenhang und das Zusammengehörigkeitsgefühl mit der leibhaftigen Gegenwart, die doch wirklich ernst genug war, um tausend neue Probleme auszulösen. So weit man sah und hörte, kein Abglanz und kein Widerklang von dem, was den Menschen einer politisch und sozial und ökonomisch tief durchfurchten Zeit die Köpfe heiß machte! Nicht das leiseste Echo weckte die brausende Melodie eines Jahrhunderts, das man das deutsche zu nennen gelernt hatte. Und nicht die Spur einer Verbindung knüpfte sich an zwischen dem heiß pulsierenden Leben des Tages und den Schreibtischen weltentrückter Bühnen¬ schriftsteller und Regisseure. In diese künstlerische Öde fuhr nun die neue proletarische Bewegung reinigend wie ein Gewitter hinein. Mit sicherem Instinkt faßte sie den Gegner da, wo er am leichtesten zu verletzen war: bei seiner Weltfremdheit, bei seiner in Konvention erstarrten Form und bei seiner unsozialen Verlogenheit. Der Boden war bereitet. Das Alte hatte abgewirtschaftet und brach denn auch prasselnd wie morsches Holz beim ersten ernsthaften Anprall zusammen. Natürlich wurde auch diese wie jede menschliche Bewegung nicht über Nacht geboren. Die großen Anreger und Urbarmacher eines neuen Zeitalters hatten mit stiller Zähigkeit Saatkörner gepflanzt, die nun allmählich aufgingen. In Deutschland selbst hatte Nietzsche gesprochen und Anzengruber eine von Gesundheit und Farbe strotzende Bauernkunst zum Leben erweckt, von Rußland drang die düstere Pracht und der imposante Wahrheitsfanatismus der Dostojewski und Tolstoi, der Turgenjew und Gogol herüber, und in Frankreich schrieben Zola und Flaubert das Schlag¬ wort vom Realismus in der Kunst auf ihr weithin flatterndes Panier. Die mächtigste und nachhaltigste Befruchtung aber kam der deutschen Bühne aus Norwegen. Das langsame, trotz lebhafter Widerstände nicht aufzuhaltende Vor¬ dringen Henrik Ibsens bedeutet für das deutsche Theater den Beginn einer neuen und in ihren Resultaten nicht zu übersehenden Zeit. Und wenn man sich schon an historische Daten klammern will, so mag man feststellen, daß die dramatische Kunst unseres Zeitalters mit der stürmischen Berliner Aufführung der „Gespenster" vom 9. Januar 1887 aus der Taufe gehoben wurde. Die unerhörte psychologische Eindringlichkeit und der bohrende Wahrheitsdrang, womit der grübelnde Norweger den Organismus einer durch und durch fauligen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/81>, abgerufen am 24.07.2024.