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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühncnknnst in den letzten zwanzig Jahren

Entschließungen beeinflußt haben kann, entzieht sich unserer Kenntnis. Sicher scheint
aber nach Schneiders Untersuchungen, daß nicht erst die (daselbst nicht mehr er¬
wähnte) Eingabe Bleichröders, die Ende des Jahres 1878 eine englische Schutz¬
zollära prophezeite*), ausschlaggebend gewesen sein kann. Denn schon bald nach
Delbrücks Rücktritt gab Bismarck der Wirtschaftspolitik die neue Richtung. Es
ist bezeichnend, daß wiederum Österreichs Haltung die (wie wir sahen)
indirekte Schuld an Bismarcks langjähriger Freihandelspolitik trug, auch die
neue Wirtschaftspolitik veranlaßte: ein interessantes Beispiel für die enge Ver¬
knüpfung unserer neuesten Geschichte mit den Geschicken unseres Bruderstaates!
Denn in der Tat liegt der Beginn der deutschen Schutzzollära in dem Moment,
wo Bismarcks Verhandlungen über den Handelsvertrag mit Österreich scheiterten**).




Deutsche Vühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren
von Dr. Arthur Westpha

er Schauspieler soll, nach Hamlets Wort, dem Jahrhundert und
dem Körper der Zeit den Abdruck ihrer Gestalt zeigen. Umgekehrt
könnte man sagen: Die Tiefe und der Ernst einer Zeitbewegung
läßt sich an der Intensität ermessen, mit der sie von der wunder¬
lichen Welt des Theaters reflektiert wird. Das klingt vielleicht paradox.
Und es ist auch nur zum Teil richtig. Es hat Zeiten gegeben, in denen die
Bühne jeder Berührung mit dem vorwärts flutenden Leben ängstlich aus dem
Wege ging und besorgt die Augen zukniff, sobald sie merkte, daß der Wind
etwas schärfer zu pfeifen begann. Aber das sind, bei Licht besehen, vorüber¬
gehende Erscheinungen, die der Wucht geschichtlich begründeter Entwicklungen
nicht standzuhalten vermochten. Auch die Bühne hat. wie alles auf dieser Welt,
noch jedesmal vor dem unbarmherzigen Gesetz der Kausalität kapitulieren müssen.

Unsere Zeit, deren wesentliches Merkmal ein fieberhaft beschleunigter Puls¬
schlag ist, hat diesen Beweis mehr als einmal erbracht. Das deutsche Theater
hat in den letzten zwanzig Jahren eine vielgestaltige Entwicklung durchlaufen,
welche die jeweilig diskutierten ästhetischen Fragen in allen ihren Einzelheiten
und mit der Treue eines blankgeputzten Spiegels wiedergab. In diesem bereit¬
willigen Reagieren auf Zeitströmungen liegt Großes und Kleines dicht bei-




-) Tiedemmm, "Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei", "Is.
Dabei war anfangs August sein Standpunkt: "Wir geben die Hoffnung auf
Konzessionen Österreichs nicht auf und sind bor allein eifrig bemüht, die Beibehalung des
VeredlungsberkchrS zwischen den beiden Staaten zu sichern. Wir werden, wenn die öster¬
reichischen Tanfvorschlage nach wie vor unannehmbar bleiben sollten, unsere Forderungen
hierauf borzugsweisc richten" "Poschinger, "Also sprach Bismarck" II Ma 191t^ S. 277)-
Deutsche Bühncnknnst in den letzten zwanzig Jahren

Entschließungen beeinflußt haben kann, entzieht sich unserer Kenntnis. Sicher scheint
aber nach Schneiders Untersuchungen, daß nicht erst die (daselbst nicht mehr er¬
wähnte) Eingabe Bleichröders, die Ende des Jahres 1878 eine englische Schutz¬
zollära prophezeite*), ausschlaggebend gewesen sein kann. Denn schon bald nach
Delbrücks Rücktritt gab Bismarck der Wirtschaftspolitik die neue Richtung. Es
ist bezeichnend, daß wiederum Österreichs Haltung die (wie wir sahen)
indirekte Schuld an Bismarcks langjähriger Freihandelspolitik trug, auch die
neue Wirtschaftspolitik veranlaßte: ein interessantes Beispiel für die enge Ver¬
knüpfung unserer neuesten Geschichte mit den Geschicken unseres Bruderstaates!
Denn in der Tat liegt der Beginn der deutschen Schutzzollära in dem Moment,
wo Bismarcks Verhandlungen über den Handelsvertrag mit Österreich scheiterten**).




Deutsche Vühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren
von Dr. Arthur Westpha

er Schauspieler soll, nach Hamlets Wort, dem Jahrhundert und
dem Körper der Zeit den Abdruck ihrer Gestalt zeigen. Umgekehrt
könnte man sagen: Die Tiefe und der Ernst einer Zeitbewegung
läßt sich an der Intensität ermessen, mit der sie von der wunder¬
lichen Welt des Theaters reflektiert wird. Das klingt vielleicht paradox.
Und es ist auch nur zum Teil richtig. Es hat Zeiten gegeben, in denen die
Bühne jeder Berührung mit dem vorwärts flutenden Leben ängstlich aus dem
Wege ging und besorgt die Augen zukniff, sobald sie merkte, daß der Wind
etwas schärfer zu pfeifen begann. Aber das sind, bei Licht besehen, vorüber¬
gehende Erscheinungen, die der Wucht geschichtlich begründeter Entwicklungen
nicht standzuhalten vermochten. Auch die Bühne hat. wie alles auf dieser Welt,
noch jedesmal vor dem unbarmherzigen Gesetz der Kausalität kapitulieren müssen.

Unsere Zeit, deren wesentliches Merkmal ein fieberhaft beschleunigter Puls¬
schlag ist, hat diesen Beweis mehr als einmal erbracht. Das deutsche Theater
hat in den letzten zwanzig Jahren eine vielgestaltige Entwicklung durchlaufen,
welche die jeweilig diskutierten ästhetischen Fragen in allen ihren Einzelheiten
und mit der Treue eines blankgeputzten Spiegels wiedergab. In diesem bereit¬
willigen Reagieren auf Zeitströmungen liegt Großes und Kleines dicht bei-




-) Tiedemmm, „Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei", »Is.
Dabei war anfangs August sein Standpunkt: „Wir geben die Hoffnung auf
Konzessionen Österreichs nicht auf und sind bor allein eifrig bemüht, die Beibehalung des
VeredlungsberkchrS zwischen den beiden Staaten zu sichern. Wir werden, wenn die öster¬
reichischen Tanfvorschlage nach wie vor unannehmbar bleiben sollten, unsere Forderungen
hierauf borzugsweisc richten" «Poschinger, „Also sprach Bismarck" II Ma 191t^ S. 277)-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/78>, abgerufen am 24.07.2024.