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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Verschiebung ist wenig erfreulich. Aber sie entspricht durchaus der
großen Veränderung, die seit vierzig Jahren im politischen Denken der Nation
stattgefunden hat und auf die wir schon wiederholt hingewiesen haben. Alle
zentripetalen Kräfte haben sich verringert oder kommen doch in der Zusammen¬
setzung der Parteien nicht richtig zum Ausdruck. Die starke nationale Kraft, die
die Reichsgründung ermöglichte, ist in konfessioneller und sozialer oder ständischer
Beziehung gespalten, und es läßt sich zunächst schwer erkennen, in welcher
Richtung der Schwerpunkt des Reiches zu finden ist. Sind es wirtschaftliche
Fragen, die überragende Berücksichtigung fordern, sind es soziale, beanspruchen
Verfassungsfragen die nächste Sorge, oder genügen Operationen an einzelnen
Verwaltungskörpern? Die Fragen werden verschieden beantwortet werden je
nach der Stellung des Antwortenden zu den einzelnen Parteien. Der Sozial¬
demokrat wird so lange Verfassungs- und soziale Fragen als brennend bezeichnen,
bis er den Staatsorganismus in seine Hand bekommen hat; der Liberale
wird mit einem Überbleibsel des alten Doktrinarismus die Änderung der
Verfassung in freiheitlichen Sinne befürworten, während der Konser¬
vative durch Veränderungen in der Verwaltung die seit vierzig Jahren
frei gewordenen Kräfte in geregelte Bahnen zu führen hofft. Leider
werden nur die Fragen von den einzelnen Parteien nicht so konkret gestellt,
wie es hier geschieht. Besonders die Konservativen und Liberalen sind voll¬
ständig gefangen genommen durch wirtschaftliche Fragen, und so sind es auch
in erster Linie wirtschaftliche Wünsche, die die Stellung der allgemein national
genannten Parteien in allen Dingen beeinflussen. Dies Vordrängen wirtschaft¬
licher Fragen ist der Hauptgrund für die Schwäche der liberalen Parteien und
die wesentlichste Ursache für die außerordentliche Erstarkung des Zentrums und der
Sozialdemokratie, die beide sich in erster Linie von ideellen Gesichtspunkten,
wenn auch uns recht unsympathischen Charakters, leiten lassen. Im Hinblick
auf die neuen Wahlen ergeben sich aus solcher Überlegung nur wenig erfreuliche
Aussichten. Der Zentrumsturm wird unerschüttert bleiben, und die sozialdemo¬
kratische Partei dürfte einige Mandate, nicht etwa fünfzig, wie Schwarzseher
meinen, dazu erobern. Der Hauptkampf dürfte zwischen Konservativen und
Liberalen, geleitet durch den Bund der Landwirte und den Hansabund, geschlagen
werden. Zu wessen Gunsten er ausläuft, wird vielfach von örtlichen Verhältnissen
abhängen. Nachdem die Einigung der Liberalen vor acht Tagen endlich zustande
gekommen ist und nachdem sie sich geschlossen für den Schutz der nationalen Arbeit
erklärt haben, dürften die hauptsächlichsten Schwierigkeiten, die sich ihrem Sieg
im Lande entgegenstellten, geschwunden sein. Die Erbitterung gegen die Führer
der Konservativen ist selbst unter dem Großgrundbesitz so groß, daß nach dem
Fortfall der wirtschaftlichen Zweifel manche Zeichen, besonders in Oftelbien, für
einen vollen Sieg der Liberalen sprechen.

Solche Beobachtungen wirken auch auf das Verhalten der Männer um
Heydebrand. Es sind Verzweiflungsschritte, die die konservative Parteileitung


Reichsspiegcl

Die Verschiebung ist wenig erfreulich. Aber sie entspricht durchaus der
großen Veränderung, die seit vierzig Jahren im politischen Denken der Nation
stattgefunden hat und auf die wir schon wiederholt hingewiesen haben. Alle
zentripetalen Kräfte haben sich verringert oder kommen doch in der Zusammen¬
setzung der Parteien nicht richtig zum Ausdruck. Die starke nationale Kraft, die
die Reichsgründung ermöglichte, ist in konfessioneller und sozialer oder ständischer
Beziehung gespalten, und es läßt sich zunächst schwer erkennen, in welcher
Richtung der Schwerpunkt des Reiches zu finden ist. Sind es wirtschaftliche
Fragen, die überragende Berücksichtigung fordern, sind es soziale, beanspruchen
Verfassungsfragen die nächste Sorge, oder genügen Operationen an einzelnen
Verwaltungskörpern? Die Fragen werden verschieden beantwortet werden je
nach der Stellung des Antwortenden zu den einzelnen Parteien. Der Sozial¬
demokrat wird so lange Verfassungs- und soziale Fragen als brennend bezeichnen,
bis er den Staatsorganismus in seine Hand bekommen hat; der Liberale
wird mit einem Überbleibsel des alten Doktrinarismus die Änderung der
Verfassung in freiheitlichen Sinne befürworten, während der Konser¬
vative durch Veränderungen in der Verwaltung die seit vierzig Jahren
frei gewordenen Kräfte in geregelte Bahnen zu führen hofft. Leider
werden nur die Fragen von den einzelnen Parteien nicht so konkret gestellt,
wie es hier geschieht. Besonders die Konservativen und Liberalen sind voll¬
ständig gefangen genommen durch wirtschaftliche Fragen, und so sind es auch
in erster Linie wirtschaftliche Wünsche, die die Stellung der allgemein national
genannten Parteien in allen Dingen beeinflussen. Dies Vordrängen wirtschaft¬
licher Fragen ist der Hauptgrund für die Schwäche der liberalen Parteien und
die wesentlichste Ursache für die außerordentliche Erstarkung des Zentrums und der
Sozialdemokratie, die beide sich in erster Linie von ideellen Gesichtspunkten,
wenn auch uns recht unsympathischen Charakters, leiten lassen. Im Hinblick
auf die neuen Wahlen ergeben sich aus solcher Überlegung nur wenig erfreuliche
Aussichten. Der Zentrumsturm wird unerschüttert bleiben, und die sozialdemo¬
kratische Partei dürfte einige Mandate, nicht etwa fünfzig, wie Schwarzseher
meinen, dazu erobern. Der Hauptkampf dürfte zwischen Konservativen und
Liberalen, geleitet durch den Bund der Landwirte und den Hansabund, geschlagen
werden. Zu wessen Gunsten er ausläuft, wird vielfach von örtlichen Verhältnissen
abhängen. Nachdem die Einigung der Liberalen vor acht Tagen endlich zustande
gekommen ist und nachdem sie sich geschlossen für den Schutz der nationalen Arbeit
erklärt haben, dürften die hauptsächlichsten Schwierigkeiten, die sich ihrem Sieg
im Lande entgegenstellten, geschwunden sein. Die Erbitterung gegen die Führer
der Konservativen ist selbst unter dem Großgrundbesitz so groß, daß nach dem
Fortfall der wirtschaftlichen Zweifel manche Zeichen, besonders in Oftelbien, für
einen vollen Sieg der Liberalen sprechen.

Solche Beobachtungen wirken auch auf das Verhalten der Männer um
Heydebrand. Es sind Verzweiflungsschritte, die die konservative Parteileitung


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[0656] Reichsspiegcl Die Verschiebung ist wenig erfreulich. Aber sie entspricht durchaus der großen Veränderung, die seit vierzig Jahren im politischen Denken der Nation stattgefunden hat und auf die wir schon wiederholt hingewiesen haben. Alle zentripetalen Kräfte haben sich verringert oder kommen doch in der Zusammen¬ setzung der Parteien nicht richtig zum Ausdruck. Die starke nationale Kraft, die die Reichsgründung ermöglichte, ist in konfessioneller und sozialer oder ständischer Beziehung gespalten, und es läßt sich zunächst schwer erkennen, in welcher Richtung der Schwerpunkt des Reiches zu finden ist. Sind es wirtschaftliche Fragen, die überragende Berücksichtigung fordern, sind es soziale, beanspruchen Verfassungsfragen die nächste Sorge, oder genügen Operationen an einzelnen Verwaltungskörpern? Die Fragen werden verschieden beantwortet werden je nach der Stellung des Antwortenden zu den einzelnen Parteien. Der Sozial¬ demokrat wird so lange Verfassungs- und soziale Fragen als brennend bezeichnen, bis er den Staatsorganismus in seine Hand bekommen hat; der Liberale wird mit einem Überbleibsel des alten Doktrinarismus die Änderung der Verfassung in freiheitlichen Sinne befürworten, während der Konser¬ vative durch Veränderungen in der Verwaltung die seit vierzig Jahren frei gewordenen Kräfte in geregelte Bahnen zu führen hofft. Leider werden nur die Fragen von den einzelnen Parteien nicht so konkret gestellt, wie es hier geschieht. Besonders die Konservativen und Liberalen sind voll¬ ständig gefangen genommen durch wirtschaftliche Fragen, und so sind es auch in erster Linie wirtschaftliche Wünsche, die die Stellung der allgemein national genannten Parteien in allen Dingen beeinflussen. Dies Vordrängen wirtschaft¬ licher Fragen ist der Hauptgrund für die Schwäche der liberalen Parteien und die wesentlichste Ursache für die außerordentliche Erstarkung des Zentrums und der Sozialdemokratie, die beide sich in erster Linie von ideellen Gesichtspunkten, wenn auch uns recht unsympathischen Charakters, leiten lassen. Im Hinblick auf die neuen Wahlen ergeben sich aus solcher Überlegung nur wenig erfreuliche Aussichten. Der Zentrumsturm wird unerschüttert bleiben, und die sozialdemo¬ kratische Partei dürfte einige Mandate, nicht etwa fünfzig, wie Schwarzseher meinen, dazu erobern. Der Hauptkampf dürfte zwischen Konservativen und Liberalen, geleitet durch den Bund der Landwirte und den Hansabund, geschlagen werden. Zu wessen Gunsten er ausläuft, wird vielfach von örtlichen Verhältnissen abhängen. Nachdem die Einigung der Liberalen vor acht Tagen endlich zustande gekommen ist und nachdem sie sich geschlossen für den Schutz der nationalen Arbeit erklärt haben, dürften die hauptsächlichsten Schwierigkeiten, die sich ihrem Sieg im Lande entgegenstellten, geschwunden sein. Die Erbitterung gegen die Führer der Konservativen ist selbst unter dem Großgrundbesitz so groß, daß nach dem Fortfall der wirtschaftlichen Zweifel manche Zeichen, besonders in Oftelbien, für einen vollen Sieg der Liberalen sprechen. Solche Beobachtungen wirken auch auf das Verhalten der Männer um Heydebrand. Es sind Verzweiflungsschritte, die die konservative Parteileitung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/656>, abgerufen am 28.12.2024.