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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Roichssxiegel

Angelegenheit zu geben. Wer nicht selbst Zeuge der Zwischenträgereien gewesen
ist, wird sich kaum ein Bild davon machen können, in welchem Umfange der
Fall Bernhard die Gemüter bewegt, und welch ein häßlicher, in manchen Fällen
geradezu gemeiner Klatsch durch die Salons, Behörden, Hörsäle und Redaktionen
der Presse gegangen ist. Nachdem die Angelegenheit aber in der Budget¬
kommission eingehend behandelt worden ist, sei wenigstens auf den wichtigsten
Punkt hingewiesen. Die Darstellung des Kultusministeriums in der Budget¬
kommission bringt nicht voll zur Geltung, wie weit Bernhard in Abhängigkeit
von diesem Ministerium gehandelt hat. Das Ministerium selbst hat nach Auf¬
fassung eines der Redner in der Kommission einen Fehler begangen, indem es
eine an sich löbliche Absicht, die Einführung von Konkurrenzvorlesungen auch für
die Staatswissenschaften, nicht offen erkämpfte, sondern dazu sich der Person des
jungen Ordinarius bediente. Durch den am 24. Dezember 1910 festgesetzten
Turnus hätte demnach das Ministerium auch tatsächlich einen Sieg errungen.
Ob aber der Sieg nicht durch den zweieinhalb Jahr währenden Streit, der nun
in einen Rattenkönig von Einzelfällen auszulaufen droht, zu teuer erkauft ist,
wollen wir nicht untersuchen. Wird Professor Bernhard die Kraft finden, gemieden
von allen Mitgliedern seiner Fakultät, die Verhältnisse zu überwinden? Das
ist eine andere Frage; er müßte geradezu eine Heroennatur sein. In: übrigen
ist es auch heute noch kaum möglich, die volle Wahrheit öffentlich auszusprechen,
weil eine Reihe von persönlichen Momenten, die die Hauptsache in dem ganzen
Streit spielen, nicht greifbar ist. Die Zeit muß da manches heilen und in
milderem Lichte erscheinen lassen, als es eben noch möglich ist.

Im Reichstage hat es anläßlich des Etats für den Staatssekretär des
Innern eine große Wirtschaftsdebatte gegeben. Politisch von hoher Bedeutung
waren die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Stresemann über die
Stellung der Nationalliberalen zum Schutzzoll. Wie bekannt, werden
die Nationalliberalen seitens des Bundes der Landwirte freihändlerischer Gelüste
geziehen. Demgegenüber stellte Stresemann fest, daß seine Partei im Gegenteil
nunmehr einiger über die Notwendigkeit des Schutzes der nationalen Arbeit sei,
als wie es früher der Fall gewesen. Eine solche Feststellung war gerade in:
Hinblick auf die Bemühungen der Nationalliberalen, im agrarischen Osten festen
Fuß zu fassen, notwendig. Unsere Landwirtschaft kann noch für geraume Zeit
des Zollschutzes, insbesondere auf Getreide, nicht entbehren. Das gilt noch
besonders im Hinblick auf die Konsolidierung der Verhältnisse im Innern Ru߬
lands. Der Übergang der russischen Bauern vom Gemeindebesitz zum Individual-
besitz muß notgedrungen zu einer Intensivierung der Landwirtschaft und damit
zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion führen. Gewiß wird ein
Teil der Mehrproduktion zunächst zur besseren Ernährung der eigenen Bevölkerung,
insonderheit der Bauern selbst benutzt werden, so daß sie zunächst nicht auf den
Markt drücken dürfte. Aber es scheint uns doch wie eine Unterschätzung der
jüngsten Bcmcrnreformen, wenn behauptet wird, daß im russischen Getreideexport


Roichssxiegel

Angelegenheit zu geben. Wer nicht selbst Zeuge der Zwischenträgereien gewesen
ist, wird sich kaum ein Bild davon machen können, in welchem Umfange der
Fall Bernhard die Gemüter bewegt, und welch ein häßlicher, in manchen Fällen
geradezu gemeiner Klatsch durch die Salons, Behörden, Hörsäle und Redaktionen
der Presse gegangen ist. Nachdem die Angelegenheit aber in der Budget¬
kommission eingehend behandelt worden ist, sei wenigstens auf den wichtigsten
Punkt hingewiesen. Die Darstellung des Kultusministeriums in der Budget¬
kommission bringt nicht voll zur Geltung, wie weit Bernhard in Abhängigkeit
von diesem Ministerium gehandelt hat. Das Ministerium selbst hat nach Auf¬
fassung eines der Redner in der Kommission einen Fehler begangen, indem es
eine an sich löbliche Absicht, die Einführung von Konkurrenzvorlesungen auch für
die Staatswissenschaften, nicht offen erkämpfte, sondern dazu sich der Person des
jungen Ordinarius bediente. Durch den am 24. Dezember 1910 festgesetzten
Turnus hätte demnach das Ministerium auch tatsächlich einen Sieg errungen.
Ob aber der Sieg nicht durch den zweieinhalb Jahr währenden Streit, der nun
in einen Rattenkönig von Einzelfällen auszulaufen droht, zu teuer erkauft ist,
wollen wir nicht untersuchen. Wird Professor Bernhard die Kraft finden, gemieden
von allen Mitgliedern seiner Fakultät, die Verhältnisse zu überwinden? Das
ist eine andere Frage; er müßte geradezu eine Heroennatur sein. In: übrigen
ist es auch heute noch kaum möglich, die volle Wahrheit öffentlich auszusprechen,
weil eine Reihe von persönlichen Momenten, die die Hauptsache in dem ganzen
Streit spielen, nicht greifbar ist. Die Zeit muß da manches heilen und in
milderem Lichte erscheinen lassen, als es eben noch möglich ist.

Im Reichstage hat es anläßlich des Etats für den Staatssekretär des
Innern eine große Wirtschaftsdebatte gegeben. Politisch von hoher Bedeutung
waren die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Stresemann über die
Stellung der Nationalliberalen zum Schutzzoll. Wie bekannt, werden
die Nationalliberalen seitens des Bundes der Landwirte freihändlerischer Gelüste
geziehen. Demgegenüber stellte Stresemann fest, daß seine Partei im Gegenteil
nunmehr einiger über die Notwendigkeit des Schutzes der nationalen Arbeit sei,
als wie es früher der Fall gewesen. Eine solche Feststellung war gerade in:
Hinblick auf die Bemühungen der Nationalliberalen, im agrarischen Osten festen
Fuß zu fassen, notwendig. Unsere Landwirtschaft kann noch für geraume Zeit
des Zollschutzes, insbesondere auf Getreide, nicht entbehren. Das gilt noch
besonders im Hinblick auf die Konsolidierung der Verhältnisse im Innern Ru߬
lands. Der Übergang der russischen Bauern vom Gemeindebesitz zum Individual-
besitz muß notgedrungen zu einer Intensivierung der Landwirtschaft und damit
zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion führen. Gewiß wird ein
Teil der Mehrproduktion zunächst zur besseren Ernährung der eigenen Bevölkerung,
insonderheit der Bauern selbst benutzt werden, so daß sie zunächst nicht auf den
Markt drücken dürfte. Aber es scheint uns doch wie eine Unterschätzung der
jüngsten Bcmcrnreformen, wenn behauptet wird, daß im russischen Getreideexport


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/609>, abgerufen am 24.07.2024.