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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Der religiöse Hintergrund der Drewsschen "Lhristusmythe"

durch die Unvernunft der Natur, seinem Leiden in der Welt, zu entgehen sucht,
indem er sich selbst und die feindliche Welt als abhängig denkt von einer über¬
geordneten Welt. Dadurch zieht er seiner Abhängigkeit von der Natur Schranken.
Der Glaube an einen persönlichen Gott, der die Welt geschaffen habe, scheitert
an der bösen Beschaffenheit der Welt, die ihn freilich nicht berührt, aber ihn zu
einem gefühllosen Zuschauer der Leiden der von ihm in die Welt gesetzten
empfindenden Wesen stempelt. Deshalb ist' der Monotheismus eigentlich im
Grunde Monosatanismus. Ein bewußter, persönlicher Gott, der mit Willen und
Absicht dieser Welt das Dasein gegeben hätte, müßte ein böses Wesen sein.
Man muß Gott vielmehr als unbewußt denken. Auch würde Persönlichkeit und
Selbstbewußtsein nicht ohne Beschränkung möglich sein, er ist aber vielmehr das
Absolute. Gott ist das unbewußte Grundwesen der Welt, an dem alles teil hat,
was existiert. Er ist der Grund der Welt, er ist auch der Grund meines Wesens
und Daseins. Hinter meinen: bewußten Ich, das eine scheinbare Einzelexistenz
für sich führt, liegt mein eigentliches Wesen, mein "Selbst", ein unbewußter
Grund, aus dem alles emporsteigt, was in das Licht des Bewußtseins tritt.
Dieses unbewußte "Selbst" und die Gottheit sind identisch. Wenn ich also in
die tiefsten Tiefen meines Wesens mich hinabsenke, bis zu ihren: dunklen Grund,
begegne ich Gott, vielmehr finde ich als den Grund meines Wesens, als mein
Selbst, Gott vor. Gott und mein Selbst sind identisch. "Der Mensch, der
unmittelbar aus seinem sinnlich bestimmten Selbst, seinem Ich heraus zur
Erlösung gelangen kann, überwindet die Welt, sowie er als den tiefsten und
wahren Grund seines eigenen Wesens nicht das empirisch begründete Ich, sondern
Gott in seiner Absolutheit begreift." So ist Religion das Bewußtsein des
Menschen von sich selbst, von der göttlichen Natur dieses Selbst oder der
Identität desselben mit dem Absoluten. In der Erhebung zu diesem Bewußtsein
der Identität des Selbst mit Gott besteht die "Erlösung". Der Mensch wird
frei von der Gebundenheit an seine zufällige empirische Erscheinung mitsamt
ihrer Verflochtenheit in die Welt. Da Gott und mein Selbst identisch sind, so
ist es einerlei, ob ich sage, daß der Mensch sich nur insofern erlösen kann, als
Gott ihn erlöst, oder daß Gott den Menschen nur insofern erlösen kann, als er
sich selbst erlöst. Ja, indeni der Mensch sich selbst erlöst, erlöst er Gott in sich.

Hier tritt die Verwandtschaft unseres Philosophen mit E. v. Hartmann in
aller Deutlichkeit hervor. Das Absolute trägt in sich den vernunftlosen, blinden
Willen und die vernünftige Idee. Der unselige Wille reißt das Absolute in
das leidvolle Dasein, während die Idee an der Zurückführung desselben aus
der Unseligkeit des Daseins arbeitet. Im Geiste des Menschen erwacht das
Absolute zum Bewußtsein. In diesem Lichte erkennt es seine Unseligkeit und
findet durch Verneinung des Daseins wieder den Weg zurück zur ursprünglichen
Ruhe der Unbewußtheit. So ringt sich nach Drews im religiösen Verhältnis
nicht bloß der Mensch von den Fesseln der Naturbedingtheit und der damit
gegebenen Leiden los, sondern Gott selbst ringt sich im Menschen von diesen


Der religiöse Hintergrund der Drewsschen „Lhristusmythe"

durch die Unvernunft der Natur, seinem Leiden in der Welt, zu entgehen sucht,
indem er sich selbst und die feindliche Welt als abhängig denkt von einer über¬
geordneten Welt. Dadurch zieht er seiner Abhängigkeit von der Natur Schranken.
Der Glaube an einen persönlichen Gott, der die Welt geschaffen habe, scheitert
an der bösen Beschaffenheit der Welt, die ihn freilich nicht berührt, aber ihn zu
einem gefühllosen Zuschauer der Leiden der von ihm in die Welt gesetzten
empfindenden Wesen stempelt. Deshalb ist' der Monotheismus eigentlich im
Grunde Monosatanismus. Ein bewußter, persönlicher Gott, der mit Willen und
Absicht dieser Welt das Dasein gegeben hätte, müßte ein böses Wesen sein.
Man muß Gott vielmehr als unbewußt denken. Auch würde Persönlichkeit und
Selbstbewußtsein nicht ohne Beschränkung möglich sein, er ist aber vielmehr das
Absolute. Gott ist das unbewußte Grundwesen der Welt, an dem alles teil hat,
was existiert. Er ist der Grund der Welt, er ist auch der Grund meines Wesens
und Daseins. Hinter meinen: bewußten Ich, das eine scheinbare Einzelexistenz
für sich führt, liegt mein eigentliches Wesen, mein „Selbst", ein unbewußter
Grund, aus dem alles emporsteigt, was in das Licht des Bewußtseins tritt.
Dieses unbewußte „Selbst" und die Gottheit sind identisch. Wenn ich also in
die tiefsten Tiefen meines Wesens mich hinabsenke, bis zu ihren: dunklen Grund,
begegne ich Gott, vielmehr finde ich als den Grund meines Wesens, als mein
Selbst, Gott vor. Gott und mein Selbst sind identisch. „Der Mensch, der
unmittelbar aus seinem sinnlich bestimmten Selbst, seinem Ich heraus zur
Erlösung gelangen kann, überwindet die Welt, sowie er als den tiefsten und
wahren Grund seines eigenen Wesens nicht das empirisch begründete Ich, sondern
Gott in seiner Absolutheit begreift." So ist Religion das Bewußtsein des
Menschen von sich selbst, von der göttlichen Natur dieses Selbst oder der
Identität desselben mit dem Absoluten. In der Erhebung zu diesem Bewußtsein
der Identität des Selbst mit Gott besteht die „Erlösung". Der Mensch wird
frei von der Gebundenheit an seine zufällige empirische Erscheinung mitsamt
ihrer Verflochtenheit in die Welt. Da Gott und mein Selbst identisch sind, so
ist es einerlei, ob ich sage, daß der Mensch sich nur insofern erlösen kann, als
Gott ihn erlöst, oder daß Gott den Menschen nur insofern erlösen kann, als er
sich selbst erlöst. Ja, indeni der Mensch sich selbst erlöst, erlöst er Gott in sich.

Hier tritt die Verwandtschaft unseres Philosophen mit E. v. Hartmann in
aller Deutlichkeit hervor. Das Absolute trägt in sich den vernunftlosen, blinden
Willen und die vernünftige Idee. Der unselige Wille reißt das Absolute in
das leidvolle Dasein, während die Idee an der Zurückführung desselben aus
der Unseligkeit des Daseins arbeitet. Im Geiste des Menschen erwacht das
Absolute zum Bewußtsein. In diesem Lichte erkennt es seine Unseligkeit und
findet durch Verneinung des Daseins wieder den Weg zurück zur ursprünglichen
Ruhe der Unbewußtheit. So ringt sich nach Drews im religiösen Verhältnis
nicht bloß der Mensch von den Fesseln der Naturbedingtheit und der damit
gegebenen Leiden los, sondern Gott selbst ringt sich im Menschen von diesen


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[0581] Der religiöse Hintergrund der Drewsschen „Lhristusmythe" durch die Unvernunft der Natur, seinem Leiden in der Welt, zu entgehen sucht, indem er sich selbst und die feindliche Welt als abhängig denkt von einer über¬ geordneten Welt. Dadurch zieht er seiner Abhängigkeit von der Natur Schranken. Der Glaube an einen persönlichen Gott, der die Welt geschaffen habe, scheitert an der bösen Beschaffenheit der Welt, die ihn freilich nicht berührt, aber ihn zu einem gefühllosen Zuschauer der Leiden der von ihm in die Welt gesetzten empfindenden Wesen stempelt. Deshalb ist' der Monotheismus eigentlich im Grunde Monosatanismus. Ein bewußter, persönlicher Gott, der mit Willen und Absicht dieser Welt das Dasein gegeben hätte, müßte ein böses Wesen sein. Man muß Gott vielmehr als unbewußt denken. Auch würde Persönlichkeit und Selbstbewußtsein nicht ohne Beschränkung möglich sein, er ist aber vielmehr das Absolute. Gott ist das unbewußte Grundwesen der Welt, an dem alles teil hat, was existiert. Er ist der Grund der Welt, er ist auch der Grund meines Wesens und Daseins. Hinter meinen: bewußten Ich, das eine scheinbare Einzelexistenz für sich führt, liegt mein eigentliches Wesen, mein „Selbst", ein unbewußter Grund, aus dem alles emporsteigt, was in das Licht des Bewußtseins tritt. Dieses unbewußte „Selbst" und die Gottheit sind identisch. Wenn ich also in die tiefsten Tiefen meines Wesens mich hinabsenke, bis zu ihren: dunklen Grund, begegne ich Gott, vielmehr finde ich als den Grund meines Wesens, als mein Selbst, Gott vor. Gott und mein Selbst sind identisch. „Der Mensch, der unmittelbar aus seinem sinnlich bestimmten Selbst, seinem Ich heraus zur Erlösung gelangen kann, überwindet die Welt, sowie er als den tiefsten und wahren Grund seines eigenen Wesens nicht das empirisch begründete Ich, sondern Gott in seiner Absolutheit begreift." So ist Religion das Bewußtsein des Menschen von sich selbst, von der göttlichen Natur dieses Selbst oder der Identität desselben mit dem Absoluten. In der Erhebung zu diesem Bewußtsein der Identität des Selbst mit Gott besteht die „Erlösung". Der Mensch wird frei von der Gebundenheit an seine zufällige empirische Erscheinung mitsamt ihrer Verflochtenheit in die Welt. Da Gott und mein Selbst identisch sind, so ist es einerlei, ob ich sage, daß der Mensch sich nur insofern erlösen kann, als Gott ihn erlöst, oder daß Gott den Menschen nur insofern erlösen kann, als er sich selbst erlöst. Ja, indeni der Mensch sich selbst erlöst, erlöst er Gott in sich. Hier tritt die Verwandtschaft unseres Philosophen mit E. v. Hartmann in aller Deutlichkeit hervor. Das Absolute trägt in sich den vernunftlosen, blinden Willen und die vernünftige Idee. Der unselige Wille reißt das Absolute in das leidvolle Dasein, während die Idee an der Zurückführung desselben aus der Unseligkeit des Daseins arbeitet. Im Geiste des Menschen erwacht das Absolute zum Bewußtsein. In diesem Lichte erkennt es seine Unseligkeit und findet durch Verneinung des Daseins wieder den Weg zurück zur ursprünglichen Ruhe der Unbewußtheit. So ringt sich nach Drews im religiösen Verhältnis nicht bloß der Mensch von den Fesseln der Naturbedingtheit und der damit gegebenen Leiden los, sondern Gott selbst ringt sich im Menschen von diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/581>, abgerufen am 24.07.2024.