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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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der gleichen Lage befindet sich übrigens die russische Presse, soweit sie nicht von
der Regierung abhängig ist. -- Für Nußland ist die Erledigung der Jlifrage
im Sinne des Vertrages von 1881 bedeutsamer, als man gemeinhin annehmen
möchte. Die erwähnten Expeditionen haben nämlich festgestellt, daß sowohl der
japanische wie der nordamerikanische Handel an den Grenzen Turkestans unerwartet
stark zugenommen hat und aus verschiedenen Gründen, deren Erörterung hier zu weit
führen würde, eine Gefahr für den russischen im gesamten Siebenströmeland werden
könnte. Daher Rußlands im diplomatischen Verkehr nicht eben alltägliches Vorgehen
mit einem halben Ultimatum, das je nach Umständen jeden Augenblick hätte zu
einem Ultimatum gestempelt werden können. Chinas Diplomaten haben es
indessen nicht dazu kommen lassen. Entgegen sonstiger Übung ist die Antwort
sogar recht schnell erfolgt und zwar in versöhnlichem Sinne. China ist bereit, den
Wünschen Rußlands entgegenzukommen und an den Grundlagen des bestehenden
Vertrages festzuhalten, will aber von einer Erweiterung des Vertrages nichts
wissen. Nowoje Wremja, die auf die ersten Nachrichten aus Peking hin noch
am 22. Februar die chinesische Antwort als unzutreffend erklärte, gab schon
am 23. zu, die "ultimatumartige" Note habe ihren Zweck erreicht. Auch Rossiga,
die in Petersburg ähnliche Aufgaben zu erfüllen hat wie die norddeutsche
Allgemeine Zeitung in Berlin, gibt sich mit der Wendung der Dinge zufrieden,
aber sie benutzt die Gelegenheit, Japan gegen China aufzuhetzen, indem sie im
Anschluß an die Verhaftung eines japanischen Journalisten darauf aufmerksam
macht, wie sehr sich bei den Chinesen das Selbstbewußtsein gegenüber Japan
rege. Recht interessant! Auf der einen Seite wird eine Aktion in die Wege
geleitet, die geeignet ist, insbesondere japanische Interessen zu beeinträchtigen,
und auf der anderen wird China Japan gegenüber verdächtigt!

Wie immer, wenn Rußland seinen historischen Aufgaben in Asien
gerecht zu werden trachtet, erhob sich auch diesmal jenseits der Vogesen eine
ängstliche Stimme. Le Temps beschwert sich, die russische Regierung habe den
französischen Freunden von ihrem jüngsten Vorgehen zu spät Mitteilung gemacht;
es sei daher nicht möglich gewesen, einen Rat entgegen zu nehmen; Rußland
sei zu leicht bereit, den Ratschlägen Deutschlands zu folgen, wenn es sich um
asiatische Dinge handle. Das ist ein altes Lied. Seit mehr als dreißig Jahren
wird es von allen denen gesungen, die an das Wort glauben: Des Deutschen
Glück ist des Russen Unglück. Zu ihnen gehören vor allen Dingen die Träger
der französischen Revancheidee und jene russischen Politiker, die da meinen,
Preußen-Deutschland stehe der Entwicklung Rußlands zu einem westeuropäischen
Kultur- und Verfassungsstaat hinderlich im Wege. Wenn das Vorhandensein
eines innerlich wohl gefestigten Staates an der Westgrenze Rußlands allein
befähigt sein sollte, die innerstaatliche Fortentwicklung des Moskowiterreichs im
westeuropäischen Sinne aufzuhalten, dann allerdings trägt Preußen die ihm
zugeschriebene Schuld. Wenn aber die Auffassung besteht, daß die preußisch¬
deutsche Regierung in Petersburg maßgebende Ratschläge erteile, dann dürfen


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der gleichen Lage befindet sich übrigens die russische Presse, soweit sie nicht von
der Regierung abhängig ist. — Für Nußland ist die Erledigung der Jlifrage
im Sinne des Vertrages von 1881 bedeutsamer, als man gemeinhin annehmen
möchte. Die erwähnten Expeditionen haben nämlich festgestellt, daß sowohl der
japanische wie der nordamerikanische Handel an den Grenzen Turkestans unerwartet
stark zugenommen hat und aus verschiedenen Gründen, deren Erörterung hier zu weit
führen würde, eine Gefahr für den russischen im gesamten Siebenströmeland werden
könnte. Daher Rußlands im diplomatischen Verkehr nicht eben alltägliches Vorgehen
mit einem halben Ultimatum, das je nach Umständen jeden Augenblick hätte zu
einem Ultimatum gestempelt werden können. Chinas Diplomaten haben es
indessen nicht dazu kommen lassen. Entgegen sonstiger Übung ist die Antwort
sogar recht schnell erfolgt und zwar in versöhnlichem Sinne. China ist bereit, den
Wünschen Rußlands entgegenzukommen und an den Grundlagen des bestehenden
Vertrages festzuhalten, will aber von einer Erweiterung des Vertrages nichts
wissen. Nowoje Wremja, die auf die ersten Nachrichten aus Peking hin noch
am 22. Februar die chinesische Antwort als unzutreffend erklärte, gab schon
am 23. zu, die „ultimatumartige" Note habe ihren Zweck erreicht. Auch Rossiga,
die in Petersburg ähnliche Aufgaben zu erfüllen hat wie die norddeutsche
Allgemeine Zeitung in Berlin, gibt sich mit der Wendung der Dinge zufrieden,
aber sie benutzt die Gelegenheit, Japan gegen China aufzuhetzen, indem sie im
Anschluß an die Verhaftung eines japanischen Journalisten darauf aufmerksam
macht, wie sehr sich bei den Chinesen das Selbstbewußtsein gegenüber Japan
rege. Recht interessant! Auf der einen Seite wird eine Aktion in die Wege
geleitet, die geeignet ist, insbesondere japanische Interessen zu beeinträchtigen,
und auf der anderen wird China Japan gegenüber verdächtigt!

Wie immer, wenn Rußland seinen historischen Aufgaben in Asien
gerecht zu werden trachtet, erhob sich auch diesmal jenseits der Vogesen eine
ängstliche Stimme. Le Temps beschwert sich, die russische Regierung habe den
französischen Freunden von ihrem jüngsten Vorgehen zu spät Mitteilung gemacht;
es sei daher nicht möglich gewesen, einen Rat entgegen zu nehmen; Rußland
sei zu leicht bereit, den Ratschlägen Deutschlands zu folgen, wenn es sich um
asiatische Dinge handle. Das ist ein altes Lied. Seit mehr als dreißig Jahren
wird es von allen denen gesungen, die an das Wort glauben: Des Deutschen
Glück ist des Russen Unglück. Zu ihnen gehören vor allen Dingen die Träger
der französischen Revancheidee und jene russischen Politiker, die da meinen,
Preußen-Deutschland stehe der Entwicklung Rußlands zu einem westeuropäischen
Kultur- und Verfassungsstaat hinderlich im Wege. Wenn das Vorhandensein
eines innerlich wohl gefestigten Staates an der Westgrenze Rußlands allein
befähigt sein sollte, die innerstaatliche Fortentwicklung des Moskowiterreichs im
westeuropäischen Sinne aufzuhalten, dann allerdings trägt Preußen die ihm
zugeschriebene Schuld. Wenn aber die Auffassung besteht, daß die preußisch¬
deutsche Regierung in Petersburg maßgebende Ratschläge erteile, dann dürfen


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[0459] Reichsspicgel der gleichen Lage befindet sich übrigens die russische Presse, soweit sie nicht von der Regierung abhängig ist. — Für Nußland ist die Erledigung der Jlifrage im Sinne des Vertrages von 1881 bedeutsamer, als man gemeinhin annehmen möchte. Die erwähnten Expeditionen haben nämlich festgestellt, daß sowohl der japanische wie der nordamerikanische Handel an den Grenzen Turkestans unerwartet stark zugenommen hat und aus verschiedenen Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, eine Gefahr für den russischen im gesamten Siebenströmeland werden könnte. Daher Rußlands im diplomatischen Verkehr nicht eben alltägliches Vorgehen mit einem halben Ultimatum, das je nach Umständen jeden Augenblick hätte zu einem Ultimatum gestempelt werden können. Chinas Diplomaten haben es indessen nicht dazu kommen lassen. Entgegen sonstiger Übung ist die Antwort sogar recht schnell erfolgt und zwar in versöhnlichem Sinne. China ist bereit, den Wünschen Rußlands entgegenzukommen und an den Grundlagen des bestehenden Vertrages festzuhalten, will aber von einer Erweiterung des Vertrages nichts wissen. Nowoje Wremja, die auf die ersten Nachrichten aus Peking hin noch am 22. Februar die chinesische Antwort als unzutreffend erklärte, gab schon am 23. zu, die „ultimatumartige" Note habe ihren Zweck erreicht. Auch Rossiga, die in Petersburg ähnliche Aufgaben zu erfüllen hat wie die norddeutsche Allgemeine Zeitung in Berlin, gibt sich mit der Wendung der Dinge zufrieden, aber sie benutzt die Gelegenheit, Japan gegen China aufzuhetzen, indem sie im Anschluß an die Verhaftung eines japanischen Journalisten darauf aufmerksam macht, wie sehr sich bei den Chinesen das Selbstbewußtsein gegenüber Japan rege. Recht interessant! Auf der einen Seite wird eine Aktion in die Wege geleitet, die geeignet ist, insbesondere japanische Interessen zu beeinträchtigen, und auf der anderen wird China Japan gegenüber verdächtigt! Wie immer, wenn Rußland seinen historischen Aufgaben in Asien gerecht zu werden trachtet, erhob sich auch diesmal jenseits der Vogesen eine ängstliche Stimme. Le Temps beschwert sich, die russische Regierung habe den französischen Freunden von ihrem jüngsten Vorgehen zu spät Mitteilung gemacht; es sei daher nicht möglich gewesen, einen Rat entgegen zu nehmen; Rußland sei zu leicht bereit, den Ratschlägen Deutschlands zu folgen, wenn es sich um asiatische Dinge handle. Das ist ein altes Lied. Seit mehr als dreißig Jahren wird es von allen denen gesungen, die an das Wort glauben: Des Deutschen Glück ist des Russen Unglück. Zu ihnen gehören vor allen Dingen die Träger der französischen Revancheidee und jene russischen Politiker, die da meinen, Preußen-Deutschland stehe der Entwicklung Rußlands zu einem westeuropäischen Kultur- und Verfassungsstaat hinderlich im Wege. Wenn das Vorhandensein eines innerlich wohl gefestigten Staates an der Westgrenze Rußlands allein befähigt sein sollte, die innerstaatliche Fortentwicklung des Moskowiterreichs im westeuropäischen Sinne aufzuhalten, dann allerdings trägt Preußen die ihm zugeschriebene Schuld. Wenn aber die Auffassung besteht, daß die preußisch¬ deutsche Regierung in Petersburg maßgebende Ratschläge erteile, dann dürfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/459>, abgerufen am 29.12.2024.