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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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durch die Offiziösen -- hat die Mehrheitsparteien des Reichstags von 1907
ihrer gemeinsamen Aufgabe beraubt. Infolgedessen mußte mit logischer Not¬
wendigkeit das eintreten, was eingetreten ist. Aus den Trümmern der Finanz¬
reform mußte jede Partei das für sich zusammensuchen, dessen sie bedürfte, um
den Wahlkampf in Ehren bestehen zu können. Denn wir haben nun einmal
organisierte Parteien und ein durchaus demokratisches Wahlrecht. Das aus den
vorhandenen Verhältnissen sich ergebende "Muß" scheint der Leiter der Reichs¬
politik nicht genügend schwer bewertet zu haben, scheint aber auch seitens der
Mittelparteien, seitens der Freikonservativen und Nationalliberalen anfänglich
nicht ernst genug genommen worden zu sein. Andernfalls mußten die Mittel¬
parteien ihre Organisationen anders verwerten, als wie es geschehen. Welche
aufopfernde und selbstlose Arbeit ist gerade von dieser Seite im Landtage geleistet
worden! Wie unermüdlich sind Männer wie v. Dewitz, Friedberg, Schiffer und
noch mancher andere seit Beginn der preußischen Wahlrechtsverhandlungen bis
eben jetzt zum 14. Februar bemüht gewesen, einen moäus vivenäi, eine Basis
für gemeinsames Arbeiten mit denen um Hendebrand zu finden und auszubauen!
Alles umsonst! Die Ereignisse, anders: die im Dezember 1907 entfesselten
Kräfte sind stärker gewesen als der gute Wille. Das Schwergewicht der Politik
ist aus den Parlamenten hinaus verlegt ins Land, in die Bezirksorganisationen
der Parteien, in die Vorstandssitzungen der wirtschaftlichen Verbände. Draußen
im Lande bereitet sich das Schicksal der Parteien und damit auch die Zukunft
der deutscheu inneren Politik vor, nicht liegt es in der Arbeit der Kommissionen
oder in den Abstimmungen des Plenums, nicht in den Stuben der Negierungs-
gebnude. Darum folgt auch das Land nicht mehr den Weisungen der Fraktionen,
sondern umgekehrt: die Fraktionen müssen, ob sie wollen oder nicht, sich nach
dem richten, was ihnen von draußen zugerufen wird. Das ist das vorläufige
Ergebnis der Politik des Herrn v. Bethmann.

Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob diese bedauerliche Demo¬
kratisierung unseres gesamten politischen Lebens unterblieben wäre, wenn
z. B. der Reichstag schon im Sommer 1909 heimgeschickt worden wäre oder
wenn die Regierung energischer, als es geschehen, in die Arbeiten des Reichs¬
tages und preußischen Landtages eingegriffen hätte. Nur in einem Punkte scheint
uns hier ein Hinweis erforderlich: die elsaß-lothringische Verfassungs¬
angelegenheit mußte zweifellos einen anderen Verlauf nehmen, wenn der
Herr Reichskanzler von vornherein bestimmter dasjenige als ein moll me tanMre
bezeichnet hätte, was er festhalten wollte. Von unseren, Standpunkt aus könnten
wir mit dem vorläufigen Verlauf der Angelegenheit nur zufrieden sein, denn
nun ist noch in letzter Stunde und gerade im Hinblick auf die zutage getretenen
auseinanderstrebenden Neigungen der Möglichkeit wieder Raum gegeben, Freunde
einer Einverleibung der Reichslande in Preußen zu sammeln. Es sind keine
preußischen Chauvinisten, die die "Verpreußung" fordern. Es sind vielfach, sogar
in der Mehrzahl Männer, die den preußischen König nicht ihren Landesherrn


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durch die Offiziösen — hat die Mehrheitsparteien des Reichstags von 1907
ihrer gemeinsamen Aufgabe beraubt. Infolgedessen mußte mit logischer Not¬
wendigkeit das eintreten, was eingetreten ist. Aus den Trümmern der Finanz¬
reform mußte jede Partei das für sich zusammensuchen, dessen sie bedürfte, um
den Wahlkampf in Ehren bestehen zu können. Denn wir haben nun einmal
organisierte Parteien und ein durchaus demokratisches Wahlrecht. Das aus den
vorhandenen Verhältnissen sich ergebende „Muß" scheint der Leiter der Reichs¬
politik nicht genügend schwer bewertet zu haben, scheint aber auch seitens der
Mittelparteien, seitens der Freikonservativen und Nationalliberalen anfänglich
nicht ernst genug genommen worden zu sein. Andernfalls mußten die Mittel¬
parteien ihre Organisationen anders verwerten, als wie es geschehen. Welche
aufopfernde und selbstlose Arbeit ist gerade von dieser Seite im Landtage geleistet
worden! Wie unermüdlich sind Männer wie v. Dewitz, Friedberg, Schiffer und
noch mancher andere seit Beginn der preußischen Wahlrechtsverhandlungen bis
eben jetzt zum 14. Februar bemüht gewesen, einen moäus vivenäi, eine Basis
für gemeinsames Arbeiten mit denen um Hendebrand zu finden und auszubauen!
Alles umsonst! Die Ereignisse, anders: die im Dezember 1907 entfesselten
Kräfte sind stärker gewesen als der gute Wille. Das Schwergewicht der Politik
ist aus den Parlamenten hinaus verlegt ins Land, in die Bezirksorganisationen
der Parteien, in die Vorstandssitzungen der wirtschaftlichen Verbände. Draußen
im Lande bereitet sich das Schicksal der Parteien und damit auch die Zukunft
der deutscheu inneren Politik vor, nicht liegt es in der Arbeit der Kommissionen
oder in den Abstimmungen des Plenums, nicht in den Stuben der Negierungs-
gebnude. Darum folgt auch das Land nicht mehr den Weisungen der Fraktionen,
sondern umgekehrt: die Fraktionen müssen, ob sie wollen oder nicht, sich nach
dem richten, was ihnen von draußen zugerufen wird. Das ist das vorläufige
Ergebnis der Politik des Herrn v. Bethmann.

Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob diese bedauerliche Demo¬
kratisierung unseres gesamten politischen Lebens unterblieben wäre, wenn
z. B. der Reichstag schon im Sommer 1909 heimgeschickt worden wäre oder
wenn die Regierung energischer, als es geschehen, in die Arbeiten des Reichs¬
tages und preußischen Landtages eingegriffen hätte. Nur in einem Punkte scheint
uns hier ein Hinweis erforderlich: die elsaß-lothringische Verfassungs¬
angelegenheit mußte zweifellos einen anderen Verlauf nehmen, wenn der
Herr Reichskanzler von vornherein bestimmter dasjenige als ein moll me tanMre
bezeichnet hätte, was er festhalten wollte. Von unseren, Standpunkt aus könnten
wir mit dem vorläufigen Verlauf der Angelegenheit nur zufrieden sein, denn
nun ist noch in letzter Stunde und gerade im Hinblick auf die zutage getretenen
auseinanderstrebenden Neigungen der Möglichkeit wieder Raum gegeben, Freunde
einer Einverleibung der Reichslande in Preußen zu sammeln. Es sind keine
preußischen Chauvinisten, die die „Verpreußung" fordern. Es sind vielfach, sogar
in der Mehrzahl Männer, die den preußischen König nicht ihren Landesherrn


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[0408] Rcichsspicgcl durch die Offiziösen — hat die Mehrheitsparteien des Reichstags von 1907 ihrer gemeinsamen Aufgabe beraubt. Infolgedessen mußte mit logischer Not¬ wendigkeit das eintreten, was eingetreten ist. Aus den Trümmern der Finanz¬ reform mußte jede Partei das für sich zusammensuchen, dessen sie bedürfte, um den Wahlkampf in Ehren bestehen zu können. Denn wir haben nun einmal organisierte Parteien und ein durchaus demokratisches Wahlrecht. Das aus den vorhandenen Verhältnissen sich ergebende „Muß" scheint der Leiter der Reichs¬ politik nicht genügend schwer bewertet zu haben, scheint aber auch seitens der Mittelparteien, seitens der Freikonservativen und Nationalliberalen anfänglich nicht ernst genug genommen worden zu sein. Andernfalls mußten die Mittel¬ parteien ihre Organisationen anders verwerten, als wie es geschehen. Welche aufopfernde und selbstlose Arbeit ist gerade von dieser Seite im Landtage geleistet worden! Wie unermüdlich sind Männer wie v. Dewitz, Friedberg, Schiffer und noch mancher andere seit Beginn der preußischen Wahlrechtsverhandlungen bis eben jetzt zum 14. Februar bemüht gewesen, einen moäus vivenäi, eine Basis für gemeinsames Arbeiten mit denen um Hendebrand zu finden und auszubauen! Alles umsonst! Die Ereignisse, anders: die im Dezember 1907 entfesselten Kräfte sind stärker gewesen als der gute Wille. Das Schwergewicht der Politik ist aus den Parlamenten hinaus verlegt ins Land, in die Bezirksorganisationen der Parteien, in die Vorstandssitzungen der wirtschaftlichen Verbände. Draußen im Lande bereitet sich das Schicksal der Parteien und damit auch die Zukunft der deutscheu inneren Politik vor, nicht liegt es in der Arbeit der Kommissionen oder in den Abstimmungen des Plenums, nicht in den Stuben der Negierungs- gebnude. Darum folgt auch das Land nicht mehr den Weisungen der Fraktionen, sondern umgekehrt: die Fraktionen müssen, ob sie wollen oder nicht, sich nach dem richten, was ihnen von draußen zugerufen wird. Das ist das vorläufige Ergebnis der Politik des Herrn v. Bethmann. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, ob diese bedauerliche Demo¬ kratisierung unseres gesamten politischen Lebens unterblieben wäre, wenn z. B. der Reichstag schon im Sommer 1909 heimgeschickt worden wäre oder wenn die Regierung energischer, als es geschehen, in die Arbeiten des Reichs¬ tages und preußischen Landtages eingegriffen hätte. Nur in einem Punkte scheint uns hier ein Hinweis erforderlich: die elsaß-lothringische Verfassungs¬ angelegenheit mußte zweifellos einen anderen Verlauf nehmen, wenn der Herr Reichskanzler von vornherein bestimmter dasjenige als ein moll me tanMre bezeichnet hätte, was er festhalten wollte. Von unseren, Standpunkt aus könnten wir mit dem vorläufigen Verlauf der Angelegenheit nur zufrieden sein, denn nun ist noch in letzter Stunde und gerade im Hinblick auf die zutage getretenen auseinanderstrebenden Neigungen der Möglichkeit wieder Raum gegeben, Freunde einer Einverleibung der Reichslande in Preußen zu sammeln. Es sind keine preußischen Chauvinisten, die die „Verpreußung" fordern. Es sind vielfach, sogar in der Mehrzahl Männer, die den preußischen König nicht ihren Landesherrn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/408>, abgerufen am 24.07.2024.