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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Gottfried als der Zergliederer menschlicher
Leidenschaft, oder- Vertiefung und Steigerung
des Lebensinhaltes in Meister Eckhart nach
der Seite des Erkennens hin, in Heinrich
Sense nach der Seite des Gefühls, in
Johannes Tnuler nach der Seite
des Willens und des Gesellschafts-
lebens. Auch die historischen Skizzen, die
Francke gibt, werden von den Gegnern Karl
Lamprechts nicht unwidersprochen bleiben. Das
alles ist aber nebensächlich; die vier großen
Perioden deutscher Kultur, die fortdauernde
Steigerung des Persönlichen Lebens und die
Entwicklung der Individualität sind meisterhaft
gezeichnet.

Francke stellt die Entwicklung der deut¬
schen Persönlichkeit i" bier Perioden dar. Für
jede Zeit werden mit glücklicher Hand die
markantesten Gestalten herausgegriffen und
scharf umrissen. Die Stürme der Völker¬
wanderung, dus Aufeinanderprallen und das
gegenseitige Sich-Zermalmen und Vermischen
der verschiedensten Stämme führen eine neue
nationaleEristenz herauf. In dieser Heidenzeit
liegt die Geburtsstunde der großen Volksepeiu
dn wachsen riesengroß die dämonisch nntur-
gcwaltigcn Gestalten Hagen und Wate heraus.
Am Ziel dieser Entwicklung steht die sagen¬
umwobene Person Karls des Großen; mit der
Kaiserlichen Akademie und den kühnen Bauten
in Aachen scheint eine karolingische Renaissance
sich zu bilden, selbständig und subjektiv.

Das von Karl begonnene Werk der Aus¬
breitung des Christentums wird von Rom
unterstützt; die Kirche wird mächtig und das
einst von Aachen aus regierte Reich löst sich
auf. Aber die deutsche Persönlichkeit erstarkt
nach und uach, sie vermag die römisch-christ¬
lichen Ideen zu verarbeiten und umzuwerten.
Die Dichter desHelianoS und der altsächsischen
Genesis haben lediglich christliche Namen über¬
nommen. Aus Otfrids deutschem Evangelien-
buch weht uns ein echt christlicher Geist an:
in seiner Dichterbrust sind Deutschtum und
Christentum eins geworden. Das nationale
Leben erstarkt im Kampf zwischen Kaisertum
und Papsttum. Die deutschnationale Ge¬
schichtsschreibung erwacht. Am Ende dieser
Epoche geht die Führung auf kulturellen
Gebiet von den Geistlichen auf das Rittertum
über.

[Spaltenumbruch]

Das Rittertum als solches, als soziale
Schicht -- nicht der einzelne Ritter als Per¬
sönlichkeit -- bedeutet im Anfang dieser dritten
Periode den kulturellen Fortschritt. Der litera¬
rische Ausdruck dieser Zeit, der Minnesang,
ist konventionell. Walther von der Vogelweide
zuerst vertritt in jeder Hinsicht das Persönliche
Element. Auch in der Heldensage wird die
subjektive Färbung stärker, sie wird modernisiert.
Rüdiger von Bcchlnrn, entschieden die sym¬
pathischeste Gestalt in der Katastrophe der
Nibelungen, wird mit Max Piccolomini ver¬
glichen, ein sehr glücklicher Gedanke. Rüdiger
schwankt vor der Katastrophe, ob er den
Freunden, denen er Treue geschworen, oder
dem Lehnsherrn und dessen Gemahlin, Kriem-
hild, folgen soll; Max Piccolomini muß
zwischen Freund und Vater wählen. Die
Seelenkämpfe beider Männer sind gleich stark
und vernichtend und beide Male meisterhaft
von den Dichtern dargestellt. Noch intensiver
siegt die Persönlichkeit über die Konvention
bei den drei großen höfischen Epikern. Sehr
gelungen ist der Vergleich, den Francke durch¬
führt zwischen Hartmanns armem Heinrich
und Goethes Iphigenie. Grandios ist die
Schilderung der nusbrechenden Leidenschaft
im Tristan, und mit schmerzlicher Resignation
sagt der Verfasser: "Kein anderes Werk der
mittelalterlichen Poesie erweckt so intensiv das
Bewußtsein von der Tragik menschlicher Ent¬
wicklung, die gerade dnrch ihre höchste Stei¬
gerung und Verfeinerung immer und immer
wieder zur Selbstzerstörung und zur Aufhebung
aller Kulturwerke hingetrieben wird." (S. 163.)

Mit dem Hervorbrechen persönlichster Eigen¬
art über alle Schranken der Konvention ist
eine neue Zeit heraufgekommen. Kaisertum
und Papsttum, im Kampfe gegenseitig
geschwächt, treten in ihrer kulturellen Bedeutung
zurück. LandeSsürstentum und Bürgertum
werden erste Machtfaktoren. Damit beginnt
die Demokratisierung adliger Gesinnung. Die
höchsteigenenPersönlichkeitswertcwerden frucht¬
bar gemacht für die Massen. Das Volk erlebt
einen ungeheuren kulturellen Fortschritt; durch
die Prediger aus den neuen Orden, durch die
Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts wird
die Demokratisierung des individualistischen
Prinzips angebahnt. Aus dem reichen Leben
des Volkes ergießen sich die Ströme des

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Gottfried als der Zergliederer menschlicher
Leidenschaft, oder- Vertiefung und Steigerung
des Lebensinhaltes in Meister Eckhart nach
der Seite des Erkennens hin, in Heinrich
Sense nach der Seite des Gefühls, in
Johannes Tnuler nach der Seite
des Willens und des Gesellschafts-
lebens. Auch die historischen Skizzen, die
Francke gibt, werden von den Gegnern Karl
Lamprechts nicht unwidersprochen bleiben. Das
alles ist aber nebensächlich; die vier großen
Perioden deutscher Kultur, die fortdauernde
Steigerung des Persönlichen Lebens und die
Entwicklung der Individualität sind meisterhaft
gezeichnet.

Francke stellt die Entwicklung der deut¬
schen Persönlichkeit i» bier Perioden dar. Für
jede Zeit werden mit glücklicher Hand die
markantesten Gestalten herausgegriffen und
scharf umrissen. Die Stürme der Völker¬
wanderung, dus Aufeinanderprallen und das
gegenseitige Sich-Zermalmen und Vermischen
der verschiedensten Stämme führen eine neue
nationaleEristenz herauf. In dieser Heidenzeit
liegt die Geburtsstunde der großen Volksepeiu
dn wachsen riesengroß die dämonisch nntur-
gcwaltigcn Gestalten Hagen und Wate heraus.
Am Ziel dieser Entwicklung steht die sagen¬
umwobene Person Karls des Großen; mit der
Kaiserlichen Akademie und den kühnen Bauten
in Aachen scheint eine karolingische Renaissance
sich zu bilden, selbständig und subjektiv.

Das von Karl begonnene Werk der Aus¬
breitung des Christentums wird von Rom
unterstützt; die Kirche wird mächtig und das
einst von Aachen aus regierte Reich löst sich
auf. Aber die deutsche Persönlichkeit erstarkt
nach und uach, sie vermag die römisch-christ¬
lichen Ideen zu verarbeiten und umzuwerten.
Die Dichter desHelianoS und der altsächsischen
Genesis haben lediglich christliche Namen über¬
nommen. Aus Otfrids deutschem Evangelien-
buch weht uns ein echt christlicher Geist an:
in seiner Dichterbrust sind Deutschtum und
Christentum eins geworden. Das nationale
Leben erstarkt im Kampf zwischen Kaisertum
und Papsttum. Die deutschnationale Ge¬
schichtsschreibung erwacht. Am Ende dieser
Epoche geht die Führung auf kulturellen
Gebiet von den Geistlichen auf das Rittertum
über.

[Spaltenumbruch]

Das Rittertum als solches, als soziale
Schicht — nicht der einzelne Ritter als Per¬
sönlichkeit — bedeutet im Anfang dieser dritten
Periode den kulturellen Fortschritt. Der litera¬
rische Ausdruck dieser Zeit, der Minnesang,
ist konventionell. Walther von der Vogelweide
zuerst vertritt in jeder Hinsicht das Persönliche
Element. Auch in der Heldensage wird die
subjektive Färbung stärker, sie wird modernisiert.
Rüdiger von Bcchlnrn, entschieden die sym¬
pathischeste Gestalt in der Katastrophe der
Nibelungen, wird mit Max Piccolomini ver¬
glichen, ein sehr glücklicher Gedanke. Rüdiger
schwankt vor der Katastrophe, ob er den
Freunden, denen er Treue geschworen, oder
dem Lehnsherrn und dessen Gemahlin, Kriem-
hild, folgen soll; Max Piccolomini muß
zwischen Freund und Vater wählen. Die
Seelenkämpfe beider Männer sind gleich stark
und vernichtend und beide Male meisterhaft
von den Dichtern dargestellt. Noch intensiver
siegt die Persönlichkeit über die Konvention
bei den drei großen höfischen Epikern. Sehr
gelungen ist der Vergleich, den Francke durch¬
führt zwischen Hartmanns armem Heinrich
und Goethes Iphigenie. Grandios ist die
Schilderung der nusbrechenden Leidenschaft
im Tristan, und mit schmerzlicher Resignation
sagt der Verfasser: „Kein anderes Werk der
mittelalterlichen Poesie erweckt so intensiv das
Bewußtsein von der Tragik menschlicher Ent¬
wicklung, die gerade dnrch ihre höchste Stei¬
gerung und Verfeinerung immer und immer
wieder zur Selbstzerstörung und zur Aufhebung
aller Kulturwerke hingetrieben wird." (S. 163.)

Mit dem Hervorbrechen persönlichster Eigen¬
art über alle Schranken der Konvention ist
eine neue Zeit heraufgekommen. Kaisertum
und Papsttum, im Kampfe gegenseitig
geschwächt, treten in ihrer kulturellen Bedeutung
zurück. LandeSsürstentum und Bürgertum
werden erste Machtfaktoren. Damit beginnt
die Demokratisierung adliger Gesinnung. Die
höchsteigenenPersönlichkeitswertcwerden frucht¬
bar gemacht für die Massen. Das Volk erlebt
einen ungeheuren kulturellen Fortschritt; durch
die Prediger aus den neuen Orden, durch die
Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts wird
die Demokratisierung des individualistischen
Prinzips angebahnt. Aus dem reichen Leben
des Volkes ergießen sich die Ströme des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/405>, abgerufen am 04.07.2024.