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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Ratholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

Gelegenheiten sich ausführlich über das Verhältnis der katholischen Kirche zur
Wissenschaft ausgesprochen, so besonders in seiner Schrift "Das Prinzip des
Katholizismus und die Wissenschaft" (Freiburg i. B. 1897). Die Görres-
gesellschaft hat wohl ihre guten Gründe dafür, daß sie sich von der Pflege der
Theologie fernhält; in bezug auf sie gesteht v. Hertling selbst zu, daß hier die
wissenschaftliche Freiheit eingeschränkt sei durch die Überwachung von seiten des
kirchlichen Lehramts. "Die Offenbarungswahrheiten sind etwas Gegebenes --
für den, der sie in: Glauben ergreift. Sie sind zudem ein Abgeschlossenes und
Vollendetes. Sie können seit Christus keine Bereicherung erfahren, und es kann
ihr Bestand nicht verringert werden, ihren: Inhalt nach ist jede Veränderung
ausgeschlossen." v. Hertling verkennt auch nicht, daß dem, der den katholischen
Glauben nicht teilt, der an das Dogma gebundene katholische Theologe als ein
unfreier erscheinen muß. Es berührt gegenüber diesen: offenherzigen Zugeständnis
seltsam, wenn von katholischer Seite versichert wird, auch dem Theologen räume
die Kirche dieselbe Freiheit ein wie z. B. dem Logiker, dem Geschichts- und
Naturforscher. So erklärt Jos. Pohle in der Darstellung der "Christlich-
katholischen Dogmatik", die er für Hinnebergs "Kultur der Gegenwart" verfaßt
hat: "Gleich wie der Logiker mit Begriffen, der Historiker mit Tatsachen, der
Chemiker mit Atomen als einem Gegebenen anfängt, so arbeitet auch der
Dogmatiker mit dem in Schrift und Tradition hinterlegten Gotteswort als
seineni Material, welches der wissenschaftlichen Bearbeitung, Ausbeutung,
Begründung und Systematisierung harrt." Aber hier wird ganz Verschieden¬
artiges zusammengeworfen. Gewiß bilden -- neben anderem -- die Begriffe
für den Logiker den Ausgangspunkt und Stoff seiner Arbeit und insofern etwas
"Gegebenes". Aber das eigentliche Ziel seiner Arbeit ist festzustellen, wie die
Begriffe beschaffen sein müssen, damit das Denken, in dem sie vorkommen, ein
objektiv gültiges sei. Bei dieser Arbeit aber ist es dem Logiker von keinem
"Lehramt" vorgeschrieben, welche Sätze für ihn als unantastbar feststehen müssen.
Für den Historiker ferner sind die "Tatsachen" etwas "Gegebenes" nur insofern,
ob er der Überzeugung ist, daß der Inbegriff des geschichtlich Tatsächlichen
etwas Wirkliches ist, das auch vorhanden ist, wenn kein Historiker es erforscht
oder ergründet. Aber für die wissenschaftliche Forschung sind diese Tatsachen
eben erst festzustellen, und insofern sind sie nichts "Gegebenes". Und soweit
diese Feststellung schon durch frühere Forschungsarbeit geleistet ist, ist freie und
unbefangene Nachprüfung überall gefordert, wo Gründe dafür vorliegen. Für
den Chemiker endlich sind die Atome durchaus nichts "Gegebenes" (das bedeutet
hier: in der Erfahrung unmittelbar Vorliegendes),- vielniehr sind sie hypothetisch
angenommene Wirklichkeiten, durch welche die der Beobachtung zugänglichen
Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Würde es sich aber einmal heraus¬
stellen, daß sie dieser Aufgabe nicht vollständig genügen, so stände nichts im
Wege, die atomistische Hypothese umzugestalten oder durch eine andere zu
ersetzen.


Grenzboten I 1911 46
Ratholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

Gelegenheiten sich ausführlich über das Verhältnis der katholischen Kirche zur
Wissenschaft ausgesprochen, so besonders in seiner Schrift „Das Prinzip des
Katholizismus und die Wissenschaft" (Freiburg i. B. 1897). Die Görres-
gesellschaft hat wohl ihre guten Gründe dafür, daß sie sich von der Pflege der
Theologie fernhält; in bezug auf sie gesteht v. Hertling selbst zu, daß hier die
wissenschaftliche Freiheit eingeschränkt sei durch die Überwachung von seiten des
kirchlichen Lehramts. „Die Offenbarungswahrheiten sind etwas Gegebenes —
für den, der sie in: Glauben ergreift. Sie sind zudem ein Abgeschlossenes und
Vollendetes. Sie können seit Christus keine Bereicherung erfahren, und es kann
ihr Bestand nicht verringert werden, ihren: Inhalt nach ist jede Veränderung
ausgeschlossen." v. Hertling verkennt auch nicht, daß dem, der den katholischen
Glauben nicht teilt, der an das Dogma gebundene katholische Theologe als ein
unfreier erscheinen muß. Es berührt gegenüber diesen: offenherzigen Zugeständnis
seltsam, wenn von katholischer Seite versichert wird, auch dem Theologen räume
die Kirche dieselbe Freiheit ein wie z. B. dem Logiker, dem Geschichts- und
Naturforscher. So erklärt Jos. Pohle in der Darstellung der „Christlich-
katholischen Dogmatik", die er für Hinnebergs „Kultur der Gegenwart" verfaßt
hat: „Gleich wie der Logiker mit Begriffen, der Historiker mit Tatsachen, der
Chemiker mit Atomen als einem Gegebenen anfängt, so arbeitet auch der
Dogmatiker mit dem in Schrift und Tradition hinterlegten Gotteswort als
seineni Material, welches der wissenschaftlichen Bearbeitung, Ausbeutung,
Begründung und Systematisierung harrt." Aber hier wird ganz Verschieden¬
artiges zusammengeworfen. Gewiß bilden — neben anderem — die Begriffe
für den Logiker den Ausgangspunkt und Stoff seiner Arbeit und insofern etwas
„Gegebenes". Aber das eigentliche Ziel seiner Arbeit ist festzustellen, wie die
Begriffe beschaffen sein müssen, damit das Denken, in dem sie vorkommen, ein
objektiv gültiges sei. Bei dieser Arbeit aber ist es dem Logiker von keinem
„Lehramt" vorgeschrieben, welche Sätze für ihn als unantastbar feststehen müssen.
Für den Historiker ferner sind die „Tatsachen" etwas „Gegebenes" nur insofern,
ob er der Überzeugung ist, daß der Inbegriff des geschichtlich Tatsächlichen
etwas Wirkliches ist, das auch vorhanden ist, wenn kein Historiker es erforscht
oder ergründet. Aber für die wissenschaftliche Forschung sind diese Tatsachen
eben erst festzustellen, und insofern sind sie nichts „Gegebenes". Und soweit
diese Feststellung schon durch frühere Forschungsarbeit geleistet ist, ist freie und
unbefangene Nachprüfung überall gefordert, wo Gründe dafür vorliegen. Für
den Chemiker endlich sind die Atome durchaus nichts „Gegebenes" (das bedeutet
hier: in der Erfahrung unmittelbar Vorliegendes),- vielniehr sind sie hypothetisch
angenommene Wirklichkeiten, durch welche die der Beobachtung zugänglichen
Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Würde es sich aber einmal heraus¬
stellen, daß sie dieser Aufgabe nicht vollständig genügen, so stände nichts im
Wege, die atomistische Hypothese umzugestalten oder durch eine andere zu
ersetzen.


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[0375] Ratholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens Gelegenheiten sich ausführlich über das Verhältnis der katholischen Kirche zur Wissenschaft ausgesprochen, so besonders in seiner Schrift „Das Prinzip des Katholizismus und die Wissenschaft" (Freiburg i. B. 1897). Die Görres- gesellschaft hat wohl ihre guten Gründe dafür, daß sie sich von der Pflege der Theologie fernhält; in bezug auf sie gesteht v. Hertling selbst zu, daß hier die wissenschaftliche Freiheit eingeschränkt sei durch die Überwachung von seiten des kirchlichen Lehramts. „Die Offenbarungswahrheiten sind etwas Gegebenes — für den, der sie in: Glauben ergreift. Sie sind zudem ein Abgeschlossenes und Vollendetes. Sie können seit Christus keine Bereicherung erfahren, und es kann ihr Bestand nicht verringert werden, ihren: Inhalt nach ist jede Veränderung ausgeschlossen." v. Hertling verkennt auch nicht, daß dem, der den katholischen Glauben nicht teilt, der an das Dogma gebundene katholische Theologe als ein unfreier erscheinen muß. Es berührt gegenüber diesen: offenherzigen Zugeständnis seltsam, wenn von katholischer Seite versichert wird, auch dem Theologen räume die Kirche dieselbe Freiheit ein wie z. B. dem Logiker, dem Geschichts- und Naturforscher. So erklärt Jos. Pohle in der Darstellung der „Christlich- katholischen Dogmatik", die er für Hinnebergs „Kultur der Gegenwart" verfaßt hat: „Gleich wie der Logiker mit Begriffen, der Historiker mit Tatsachen, der Chemiker mit Atomen als einem Gegebenen anfängt, so arbeitet auch der Dogmatiker mit dem in Schrift und Tradition hinterlegten Gotteswort als seineni Material, welches der wissenschaftlichen Bearbeitung, Ausbeutung, Begründung und Systematisierung harrt." Aber hier wird ganz Verschieden¬ artiges zusammengeworfen. Gewiß bilden — neben anderem — die Begriffe für den Logiker den Ausgangspunkt und Stoff seiner Arbeit und insofern etwas „Gegebenes". Aber das eigentliche Ziel seiner Arbeit ist festzustellen, wie die Begriffe beschaffen sein müssen, damit das Denken, in dem sie vorkommen, ein objektiv gültiges sei. Bei dieser Arbeit aber ist es dem Logiker von keinem „Lehramt" vorgeschrieben, welche Sätze für ihn als unantastbar feststehen müssen. Für den Historiker ferner sind die „Tatsachen" etwas „Gegebenes" nur insofern, ob er der Überzeugung ist, daß der Inbegriff des geschichtlich Tatsächlichen etwas Wirkliches ist, das auch vorhanden ist, wenn kein Historiker es erforscht oder ergründet. Aber für die wissenschaftliche Forschung sind diese Tatsachen eben erst festzustellen, und insofern sind sie nichts „Gegebenes". Und soweit diese Feststellung schon durch frühere Forschungsarbeit geleistet ist, ist freie und unbefangene Nachprüfung überall gefordert, wo Gründe dafür vorliegen. Für den Chemiker endlich sind die Atome durchaus nichts „Gegebenes" (das bedeutet hier: in der Erfahrung unmittelbar Vorliegendes),- vielniehr sind sie hypothetisch angenommene Wirklichkeiten, durch welche die der Beobachtung zugänglichen Naturerscheinungen erklärt werden sollen. Würde es sich aber einmal heraus¬ stellen, daß sie dieser Aufgabe nicht vollständig genügen, so stände nichts im Wege, die atomistische Hypothese umzugestalten oder durch eine andere zu ersetzen. Grenzboten I 1911 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/375>, abgerufen am 24.07.2024.