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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

scheint mir auch daraus hervorzugehen, daß nunmehr die Anwälte der kirchlichen
Ansprüche ihre Zuflucht zu dem Gebiet des "Übervernünftigen" nehmen, indem
sie mis erklären, der Glaube sei eben auch eine göttliche "Gnade", und jeder
erhalte von Gott hinreichende Gnade, um im Glauben ausharren zu können.
Natürlich liegt darin für den, welchem mit dem göttlichen Charakter der Kirche
auch ihre Lehre über Gott und göttliche Gnade zweifelhaft geworden ist, gar
nichts Überzeugendes.

So steht denn der Zweifelnde hier vor einem schweren Konflikt: die Kirche
verbietet ihm jeden ernsthaften, jeden wirklichen Zweifel; sein Wahrheitssinn und
also sein Gewissen aber verbieten ihm, einen Glauben als von Gott geoffenbart
innerlich anzuerkennen, von dessen Wahrheit er sich noch nicht durch eigene
Prüfung überzeugt hat.

Aber ist es wirklich für die Kirche aus ihren Prinzipien heraus notwendig,
den nach Wahrheit ringenden Menschen in einen solchen inneren Zwiespalt
hineinzustoßen? Im Grunde handelt es sich hier ja lediglich um ihre päda¬
gogische Aufgabe. Sie könnte ja sehr wohl an ihrer Überzeugung festhalten,
von Christus gestiftet zu sein und göttliche Offenbarung den Menschen zu ver¬
mitteln, und trotzdem scheint es möglich, ja notwendig, daß sie in viel weiter¬
gehenden Maße die Schwierigkeiten der subjektiven Aneignung ihres Lehrinhalts
in Berücksichtigung ziehe. Tieferer Einblick in das Wesen geistiger Entwicklung
zeigt, daß wir "durch Irrtum zur Wahrheit reifen". Was dem Geist wirklich
zu eigen werden, was ihn innerlich fördern und befruchten soll, das muß von
ihm erworben und erarbeitet werden in freier Tätigkeit, und das ist kaum
möglich ohne Fehlgriff, ohne Einseitigkeit, ohne Irrtum. Die geistig führenden
Schichten eines Kulturvolkes innerlich bei sich festzuhalten und die immer neu
heranwachsenden Generationen in freier und gesunder innerer Entwicklung in
den Geist des Glaubens Hineinzugeleiten, das stellt freilich an die kirchliche
Pädagogik viel schwierigere und feinere Aufgaben als die äußerliche Diszipli¬
nierung breiter Massen von minderer Kultur -- womit nicht gesagt sein soll,
daß auch nur die letztere Aufgabe stets befriedigend von der Kirche gelöst worden
sei und gelöst werde.

Schleiermacher Hat mit Recht zwei pädagogische Maximen als grundlegende
bezeichnet: das "Behüter" und das "Gewährenlassen". In der katholischen
Kirche scheint mindestens seit der Reformation ausschließlich die erste herrschend
geworden zu sein, und damit zugleich der Geist der Ängstlichkeit, des Mißtrauens,
der Verketzerungssucht. Es verrät das aber kein großes Vertrauen auf die
überzeugende Wahrheit und die lebenerhöhende Kraft der eigenen Lehre. In
ganz anderem Grade würde ein solches hervortreten, wenn die Kirche den
Grundsatz gelten ließe: Möge jeder meinen Anspruch, Trägerin göttlicher Offen¬
barung zu sein, prüfen, so ernst und so andauernd, als er nur will; ich verlange
von niemand Glauben, der ihn mir nicht mit innerer Wahrhaftigkeit gern und
freiwillig entgegenbringt; ich bin aber überzeugt, daß der ehrlich Wahrheit


Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

scheint mir auch daraus hervorzugehen, daß nunmehr die Anwälte der kirchlichen
Ansprüche ihre Zuflucht zu dem Gebiet des „Übervernünftigen" nehmen, indem
sie mis erklären, der Glaube sei eben auch eine göttliche „Gnade", und jeder
erhalte von Gott hinreichende Gnade, um im Glauben ausharren zu können.
Natürlich liegt darin für den, welchem mit dem göttlichen Charakter der Kirche
auch ihre Lehre über Gott und göttliche Gnade zweifelhaft geworden ist, gar
nichts Überzeugendes.

So steht denn der Zweifelnde hier vor einem schweren Konflikt: die Kirche
verbietet ihm jeden ernsthaften, jeden wirklichen Zweifel; sein Wahrheitssinn und
also sein Gewissen aber verbieten ihm, einen Glauben als von Gott geoffenbart
innerlich anzuerkennen, von dessen Wahrheit er sich noch nicht durch eigene
Prüfung überzeugt hat.

Aber ist es wirklich für die Kirche aus ihren Prinzipien heraus notwendig,
den nach Wahrheit ringenden Menschen in einen solchen inneren Zwiespalt
hineinzustoßen? Im Grunde handelt es sich hier ja lediglich um ihre päda¬
gogische Aufgabe. Sie könnte ja sehr wohl an ihrer Überzeugung festhalten,
von Christus gestiftet zu sein und göttliche Offenbarung den Menschen zu ver¬
mitteln, und trotzdem scheint es möglich, ja notwendig, daß sie in viel weiter¬
gehenden Maße die Schwierigkeiten der subjektiven Aneignung ihres Lehrinhalts
in Berücksichtigung ziehe. Tieferer Einblick in das Wesen geistiger Entwicklung
zeigt, daß wir „durch Irrtum zur Wahrheit reifen". Was dem Geist wirklich
zu eigen werden, was ihn innerlich fördern und befruchten soll, das muß von
ihm erworben und erarbeitet werden in freier Tätigkeit, und das ist kaum
möglich ohne Fehlgriff, ohne Einseitigkeit, ohne Irrtum. Die geistig führenden
Schichten eines Kulturvolkes innerlich bei sich festzuhalten und die immer neu
heranwachsenden Generationen in freier und gesunder innerer Entwicklung in
den Geist des Glaubens Hineinzugeleiten, das stellt freilich an die kirchliche
Pädagogik viel schwierigere und feinere Aufgaben als die äußerliche Diszipli¬
nierung breiter Massen von minderer Kultur — womit nicht gesagt sein soll,
daß auch nur die letztere Aufgabe stets befriedigend von der Kirche gelöst worden
sei und gelöst werde.

Schleiermacher Hat mit Recht zwei pädagogische Maximen als grundlegende
bezeichnet: das „Behüter" und das „Gewährenlassen". In der katholischen
Kirche scheint mindestens seit der Reformation ausschließlich die erste herrschend
geworden zu sein, und damit zugleich der Geist der Ängstlichkeit, des Mißtrauens,
der Verketzerungssucht. Es verrät das aber kein großes Vertrauen auf die
überzeugende Wahrheit und die lebenerhöhende Kraft der eigenen Lehre. In
ganz anderem Grade würde ein solches hervortreten, wenn die Kirche den
Grundsatz gelten ließe: Möge jeder meinen Anspruch, Trägerin göttlicher Offen¬
barung zu sein, prüfen, so ernst und so andauernd, als er nur will; ich verlange
von niemand Glauben, der ihn mir nicht mit innerer Wahrhaftigkeit gern und
freiwillig entgegenbringt; ich bin aber überzeugt, daß der ehrlich Wahrheit


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[0373] Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens scheint mir auch daraus hervorzugehen, daß nunmehr die Anwälte der kirchlichen Ansprüche ihre Zuflucht zu dem Gebiet des „Übervernünftigen" nehmen, indem sie mis erklären, der Glaube sei eben auch eine göttliche „Gnade", und jeder erhalte von Gott hinreichende Gnade, um im Glauben ausharren zu können. Natürlich liegt darin für den, welchem mit dem göttlichen Charakter der Kirche auch ihre Lehre über Gott und göttliche Gnade zweifelhaft geworden ist, gar nichts Überzeugendes. So steht denn der Zweifelnde hier vor einem schweren Konflikt: die Kirche verbietet ihm jeden ernsthaften, jeden wirklichen Zweifel; sein Wahrheitssinn und also sein Gewissen aber verbieten ihm, einen Glauben als von Gott geoffenbart innerlich anzuerkennen, von dessen Wahrheit er sich noch nicht durch eigene Prüfung überzeugt hat. Aber ist es wirklich für die Kirche aus ihren Prinzipien heraus notwendig, den nach Wahrheit ringenden Menschen in einen solchen inneren Zwiespalt hineinzustoßen? Im Grunde handelt es sich hier ja lediglich um ihre päda¬ gogische Aufgabe. Sie könnte ja sehr wohl an ihrer Überzeugung festhalten, von Christus gestiftet zu sein und göttliche Offenbarung den Menschen zu ver¬ mitteln, und trotzdem scheint es möglich, ja notwendig, daß sie in viel weiter¬ gehenden Maße die Schwierigkeiten der subjektiven Aneignung ihres Lehrinhalts in Berücksichtigung ziehe. Tieferer Einblick in das Wesen geistiger Entwicklung zeigt, daß wir „durch Irrtum zur Wahrheit reifen". Was dem Geist wirklich zu eigen werden, was ihn innerlich fördern und befruchten soll, das muß von ihm erworben und erarbeitet werden in freier Tätigkeit, und das ist kaum möglich ohne Fehlgriff, ohne Einseitigkeit, ohne Irrtum. Die geistig führenden Schichten eines Kulturvolkes innerlich bei sich festzuhalten und die immer neu heranwachsenden Generationen in freier und gesunder innerer Entwicklung in den Geist des Glaubens Hineinzugeleiten, das stellt freilich an die kirchliche Pädagogik viel schwierigere und feinere Aufgaben als die äußerliche Diszipli¬ nierung breiter Massen von minderer Kultur — womit nicht gesagt sein soll, daß auch nur die letztere Aufgabe stets befriedigend von der Kirche gelöst worden sei und gelöst werde. Schleiermacher Hat mit Recht zwei pädagogische Maximen als grundlegende bezeichnet: das „Behüter" und das „Gewährenlassen". In der katholischen Kirche scheint mindestens seit der Reformation ausschließlich die erste herrschend geworden zu sein, und damit zugleich der Geist der Ängstlichkeit, des Mißtrauens, der Verketzerungssucht. Es verrät das aber kein großes Vertrauen auf die überzeugende Wahrheit und die lebenerhöhende Kraft der eigenen Lehre. In ganz anderem Grade würde ein solches hervortreten, wenn die Kirche den Grundsatz gelten ließe: Möge jeder meinen Anspruch, Trägerin göttlicher Offen¬ barung zu sein, prüfen, so ernst und so andauernd, als er nur will; ich verlange von niemand Glauben, der ihn mir nicht mit innerer Wahrhaftigkeit gern und freiwillig entgegenbringt; ich bin aber überzeugt, daß der ehrlich Wahrheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/373>, abgerufen am 24.07.2024.