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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher Von
Fünfzehntes Kapitel: Der neue Beruf.

Nun war es Frühling geworden, wirklicher blauäugiger Frühling. Die
kleinen Rinnsale und Bächlein dehnten sich gewaltig, eilfertig und murmelnd
plätscherten sie im Flecken und um den Flecken herum, und es war ein Kichern und
Flüstern in ihnen, als ob der ganze Frühling in ihnen allein atmete.

Boris Stepanowitsch trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Das Graben
und Säen im kleinen Gärtchen hatte ihn müde gemacht, und die Arbeit wollte
nicht so vorwärts gehen wie sonst. Bol lag mit blinzelnden Augen in einer Ecke
des kleinen Gartcnfleckens und sah verwundert auf seinen Herrn, der seine Arbeit
ganz gegen seine Gewohnheit oft unterbrach und gedankenvoll vor sich hinblickte.

"Ja, ja, Bol, alter Freund," sagte er trübe lächelnd, "nun wird wohl die
Trennungsstunde für uns schlagen müssen."

Bol ließ ein leises Winseln vernehmen, als hätte er genau verstanden, was
sein Herr eben zu ihm gesagt hatte.

In den letzten Tagen war der Wunsch nach einer Veränderung seiner Verufs-
tätigkeit so groß in Okolitsch geworden, daß er nach reiflicher Überlegung nichts
Besseres wußte, als seinen Lehrposten im Flecken aufzugeben und in den Polizei¬
dienst zu treten. Er würde seine ganze Kraft daransetzen, möglichst schnell zu
avancieren, um in kürzester Zeit, wie der Staatsanwalt in Aussicht gestellt hatte,
Gehilfe des Kreischefs zu werden. Damit würde er die Kanzlei unter sich haben
und in dieser Stellung seiner Mutter dann wieder ein geordnetes Familienleben
bieten können. Allerdings dürfte bis dahin immer noch einige Zeit vergehen,
und es fiel ihm schwer aufs Herz, die alte Frau solange allein lassen zu müssen',
denn bevor er sie zu sich in die Stadt holen konnte, mußte er doch selbst erst festen
Boden unter den Füßen haben. Olga Andrejewna würde ihr gewiß während¬
dessen manches Stündchen vertreiben und die alte Frau nicht verlassen; das wußte
er. Und das Bewußtsein, diese beiden ihm teuersten Menschen so herzlich zusammen
zu wissen, würde ihn: seinen neuen Beruf erleichtern. Es bestand zwischen den
beiden Frauen schon jetzt ein so inniges Verhältnis, wie zwischen Mutter und
Tochter, das durch seine Abwesenheit gewiß nur noch enger und zutraulicher werden
würde. Und dann war Bol auch noch da-, der würde ein guter Wächter sein.
Schließlich könnte man vielleicht nachts noch der besseren Sicherheit wegen den
alten Soldaten einquartieren. So dachte er hin und her, wie alles wohl am besten
einzurichten wäre und wie er es seiner Mutter am schonendsten mitteilen könnte,
als ihre Stimme ihn plötzlich allem Grübeln entriß.

"Borenka, Borenka," rief die alte Frau, "wo steckst du nur solange?"

"Ja, Mamchen, ich komme schon", erwiderte er, ihr entgegeneilend.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm liebevoll in sein etwas
müdes Gesicht.

"Hast du dir nicht zuviel zugemutet, Boris?" fragte sie ängstlich, indem sie
mit der Hand leicht über sein volles Haar strich.


Im Flecken

Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas-v, Reyher Von
Fünfzehntes Kapitel: Der neue Beruf.

Nun war es Frühling geworden, wirklicher blauäugiger Frühling. Die
kleinen Rinnsale und Bächlein dehnten sich gewaltig, eilfertig und murmelnd
plätscherten sie im Flecken und um den Flecken herum, und es war ein Kichern und
Flüstern in ihnen, als ob der ganze Frühling in ihnen allein atmete.

Boris Stepanowitsch trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Das Graben
und Säen im kleinen Gärtchen hatte ihn müde gemacht, und die Arbeit wollte
nicht so vorwärts gehen wie sonst. Bol lag mit blinzelnden Augen in einer Ecke
des kleinen Gartcnfleckens und sah verwundert auf seinen Herrn, der seine Arbeit
ganz gegen seine Gewohnheit oft unterbrach und gedankenvoll vor sich hinblickte.

„Ja, ja, Bol, alter Freund," sagte er trübe lächelnd, „nun wird wohl die
Trennungsstunde für uns schlagen müssen."

Bol ließ ein leises Winseln vernehmen, als hätte er genau verstanden, was
sein Herr eben zu ihm gesagt hatte.

In den letzten Tagen war der Wunsch nach einer Veränderung seiner Verufs-
tätigkeit so groß in Okolitsch geworden, daß er nach reiflicher Überlegung nichts
Besseres wußte, als seinen Lehrposten im Flecken aufzugeben und in den Polizei¬
dienst zu treten. Er würde seine ganze Kraft daransetzen, möglichst schnell zu
avancieren, um in kürzester Zeit, wie der Staatsanwalt in Aussicht gestellt hatte,
Gehilfe des Kreischefs zu werden. Damit würde er die Kanzlei unter sich haben
und in dieser Stellung seiner Mutter dann wieder ein geordnetes Familienleben
bieten können. Allerdings dürfte bis dahin immer noch einige Zeit vergehen,
und es fiel ihm schwer aufs Herz, die alte Frau solange allein lassen zu müssen',
denn bevor er sie zu sich in die Stadt holen konnte, mußte er doch selbst erst festen
Boden unter den Füßen haben. Olga Andrejewna würde ihr gewiß während¬
dessen manches Stündchen vertreiben und die alte Frau nicht verlassen; das wußte
er. Und das Bewußtsein, diese beiden ihm teuersten Menschen so herzlich zusammen
zu wissen, würde ihn: seinen neuen Beruf erleichtern. Es bestand zwischen den
beiden Frauen schon jetzt ein so inniges Verhältnis, wie zwischen Mutter und
Tochter, das durch seine Abwesenheit gewiß nur noch enger und zutraulicher werden
würde. Und dann war Bol auch noch da-, der würde ein guter Wächter sein.
Schließlich könnte man vielleicht nachts noch der besseren Sicherheit wegen den
alten Soldaten einquartieren. So dachte er hin und her, wie alles wohl am besten
einzurichten wäre und wie er es seiner Mutter am schonendsten mitteilen könnte,
als ihre Stimme ihn plötzlich allem Grübeln entriß.

„Borenka, Borenka," rief die alte Frau, „wo steckst du nur solange?"

„Ja, Mamchen, ich komme schon", erwiderte er, ihr entgegeneilend.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm liebevoll in sein etwas
müdes Gesicht.

„Hast du dir nicht zuviel zugemutet, Boris?" fragte sie ängstlich, indem sie
mit der Hand leicht über sein volles Haar strich.


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[0296] Im Flecken Im Flecken Erzählung aus der russischen Provinz Alexander Andreas-v, Reyher Von Fünfzehntes Kapitel: Der neue Beruf. Nun war es Frühling geworden, wirklicher blauäugiger Frühling. Die kleinen Rinnsale und Bächlein dehnten sich gewaltig, eilfertig und murmelnd plätscherten sie im Flecken und um den Flecken herum, und es war ein Kichern und Flüstern in ihnen, als ob der ganze Frühling in ihnen allein atmete. Boris Stepanowitsch trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Das Graben und Säen im kleinen Gärtchen hatte ihn müde gemacht, und die Arbeit wollte nicht so vorwärts gehen wie sonst. Bol lag mit blinzelnden Augen in einer Ecke des kleinen Gartcnfleckens und sah verwundert auf seinen Herrn, der seine Arbeit ganz gegen seine Gewohnheit oft unterbrach und gedankenvoll vor sich hinblickte. „Ja, ja, Bol, alter Freund," sagte er trübe lächelnd, „nun wird wohl die Trennungsstunde für uns schlagen müssen." Bol ließ ein leises Winseln vernehmen, als hätte er genau verstanden, was sein Herr eben zu ihm gesagt hatte. In den letzten Tagen war der Wunsch nach einer Veränderung seiner Verufs- tätigkeit so groß in Okolitsch geworden, daß er nach reiflicher Überlegung nichts Besseres wußte, als seinen Lehrposten im Flecken aufzugeben und in den Polizei¬ dienst zu treten. Er würde seine ganze Kraft daransetzen, möglichst schnell zu avancieren, um in kürzester Zeit, wie der Staatsanwalt in Aussicht gestellt hatte, Gehilfe des Kreischefs zu werden. Damit würde er die Kanzlei unter sich haben und in dieser Stellung seiner Mutter dann wieder ein geordnetes Familienleben bieten können. Allerdings dürfte bis dahin immer noch einige Zeit vergehen, und es fiel ihm schwer aufs Herz, die alte Frau solange allein lassen zu müssen', denn bevor er sie zu sich in die Stadt holen konnte, mußte er doch selbst erst festen Boden unter den Füßen haben. Olga Andrejewna würde ihr gewiß während¬ dessen manches Stündchen vertreiben und die alte Frau nicht verlassen; das wußte er. Und das Bewußtsein, diese beiden ihm teuersten Menschen so herzlich zusammen zu wissen, würde ihn: seinen neuen Beruf erleichtern. Es bestand zwischen den beiden Frauen schon jetzt ein so inniges Verhältnis, wie zwischen Mutter und Tochter, das durch seine Abwesenheit gewiß nur noch enger und zutraulicher werden würde. Und dann war Bol auch noch da-, der würde ein guter Wächter sein. Schließlich könnte man vielleicht nachts noch der besseren Sicherheit wegen den alten Soldaten einquartieren. So dachte er hin und her, wie alles wohl am besten einzurichten wäre und wie er es seiner Mutter am schonendsten mitteilen könnte, als ihre Stimme ihn plötzlich allem Grübeln entriß. „Borenka, Borenka," rief die alte Frau, „wo steckst du nur solange?" „Ja, Mamchen, ich komme schon", erwiderte er, ihr entgegeneilend. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm liebevoll in sein etwas müdes Gesicht. „Hast du dir nicht zuviel zugemutet, Boris?" fragte sie ängstlich, indem sie mit der Hand leicht über sein volles Haar strich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/296>, abgerufen am 29.12.2024.