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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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aller empfangenen Anregung hier schließlich doch mehr den Menschen Chiavacci
schätzen lernt als den Dichter.

Der leistet trotz so weiten Ausgreifens sein Gutes und Dauerndes dennoch
einzig auf dem umgrenzten Felde des Wiener Volksschriftstellers, dem er reichlich
viele Früchte abgewinnt*). Ja, eigentlich ist er ein echterer Volksschriftsteller
als Friedrich Schlögl, obschon dessen Bildung und Interessen viel entschiedener
auf den Wiener Kreis beschränkt waren. Denn Schlögl steht über dem Wiener
Volk, das er ausschließlich betrachtet, Chiavacci aber steht mitten drin, den
Wienern verkettet durch seine Haupteigenschaft, aus der dichterisch sein Bestes
und sein Allerschlimmstes fließt: durch seine allzu weiche Güte. Der lautere
Mann besitzt keineswegs jene abscheuliche Gemütlichkeit, in der sich Tränenwollust
mit Roheit verbindet; ihm ist es mit seiner Rührung immer ernst, aber er hat
eben einigermaßen das von Schlögl gehaßte "Faible für obligates Rührei".
Dies hindert ihn vielfach, aus gegebenen Tatsachen die notwendigen Konsequenzen
zu ziehen. Gar zu gern läßt er einen verlorenen Sohn spätestens am sechzigsten
Geburtstag der Mutter gebessert heimkehren, einem Versinkenden in letzter Not
edle Retter erstehen; allzu lieb ist es ihm, das Kind eines Raubmörders vor
gesellschaftlicher Achtung zu bewahren, indem er zu guterletzt offenbar werden
läßt, daß der Vater in einem Wahnsinnsanfall gehandelt, daß er nichts geraubt
und den "Ermordeten" gar nicht wesentlich verletzt hat. In solcher Kraßheit
freilich sind diese Entgleisungen nicht übermäßig häufig, und ein geringes Quantum
Rührseligkeit nimmt man wohl mit in den Kauf, da es fast den einzigen Mangel
der sonst in ihrer bescheidenen Art vortrefflichen Novelletten bildet.

Mit besonderer Vorliebe und Anmut versenkt sich Chiavacci in die Kinder¬
welt. Jungen und Mädchen, Säuglinge und Halberwachsene stehen seinem
Herzen gleich nahe. Er weiß viele kleine harmlose Geschichten von ihren
Spielen, Unarten, Heldentaten. Im Grunde sind es meist Dinge, die bei der
Berliner oder Pariser Jugend kaum anders vorkommen; aber indem der Dichter
die Umgebung, Stadt wie Menschen, jedesmal aufs liebevollste mitzeichnet,
indem er aufs sorglichste dem Dialekt nachgeht, gibt er den reizenden Kleinig¬
keiten doch ihren besonderen Wiener Anstrich und somit auch die Würde kultur¬
historischen Bedenkens.

Und oftmals drängen sich in die Spiele der Kinder die Sorgen der
Großen. Es sind ja fast immer arme Leute und nicht Friedrich Schlögls
satte Bürger, die Chiavacci darstellt. Immer wieder wird ausgemalt, wie sich
die Mutter und die halbwüchsige Tochter plagen, mit wenigen Kreuzern den
Tagesbedarf zu schaffen, wie viel Kopfzerbrechen und Not die größeren Aus¬
gaben verursachen. Die halbe Gasse versammelt sich in neidischer Aufregung
bei der Greißlerin, denn "dö Gasserischen lassen si Holz und Kost'n führ'n!"



*) Zahlreiche Bünde sind bei A, Bonz in Stuttgart erschienen, eine gute Auswahl ist
durch die Rectum-Bibliothek bequem zugänglich. Das gleiche gilt für die Arbeiten des später
erwähnten E. Pvtzl,
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aller empfangenen Anregung hier schließlich doch mehr den Menschen Chiavacci
schätzen lernt als den Dichter.

Der leistet trotz so weiten Ausgreifens sein Gutes und Dauerndes dennoch
einzig auf dem umgrenzten Felde des Wiener Volksschriftstellers, dem er reichlich
viele Früchte abgewinnt*). Ja, eigentlich ist er ein echterer Volksschriftsteller
als Friedrich Schlögl, obschon dessen Bildung und Interessen viel entschiedener
auf den Wiener Kreis beschränkt waren. Denn Schlögl steht über dem Wiener
Volk, das er ausschließlich betrachtet, Chiavacci aber steht mitten drin, den
Wienern verkettet durch seine Haupteigenschaft, aus der dichterisch sein Bestes
und sein Allerschlimmstes fließt: durch seine allzu weiche Güte. Der lautere
Mann besitzt keineswegs jene abscheuliche Gemütlichkeit, in der sich Tränenwollust
mit Roheit verbindet; ihm ist es mit seiner Rührung immer ernst, aber er hat
eben einigermaßen das von Schlögl gehaßte „Faible für obligates Rührei".
Dies hindert ihn vielfach, aus gegebenen Tatsachen die notwendigen Konsequenzen
zu ziehen. Gar zu gern läßt er einen verlorenen Sohn spätestens am sechzigsten
Geburtstag der Mutter gebessert heimkehren, einem Versinkenden in letzter Not
edle Retter erstehen; allzu lieb ist es ihm, das Kind eines Raubmörders vor
gesellschaftlicher Achtung zu bewahren, indem er zu guterletzt offenbar werden
läßt, daß der Vater in einem Wahnsinnsanfall gehandelt, daß er nichts geraubt
und den „Ermordeten" gar nicht wesentlich verletzt hat. In solcher Kraßheit
freilich sind diese Entgleisungen nicht übermäßig häufig, und ein geringes Quantum
Rührseligkeit nimmt man wohl mit in den Kauf, da es fast den einzigen Mangel
der sonst in ihrer bescheidenen Art vortrefflichen Novelletten bildet.

Mit besonderer Vorliebe und Anmut versenkt sich Chiavacci in die Kinder¬
welt. Jungen und Mädchen, Säuglinge und Halberwachsene stehen seinem
Herzen gleich nahe. Er weiß viele kleine harmlose Geschichten von ihren
Spielen, Unarten, Heldentaten. Im Grunde sind es meist Dinge, die bei der
Berliner oder Pariser Jugend kaum anders vorkommen; aber indem der Dichter
die Umgebung, Stadt wie Menschen, jedesmal aufs liebevollste mitzeichnet,
indem er aufs sorglichste dem Dialekt nachgeht, gibt er den reizenden Kleinig¬
keiten doch ihren besonderen Wiener Anstrich und somit auch die Würde kultur¬
historischen Bedenkens.

Und oftmals drängen sich in die Spiele der Kinder die Sorgen der
Großen. Es sind ja fast immer arme Leute und nicht Friedrich Schlögls
satte Bürger, die Chiavacci darstellt. Immer wieder wird ausgemalt, wie sich
die Mutter und die halbwüchsige Tochter plagen, mit wenigen Kreuzern den
Tagesbedarf zu schaffen, wie viel Kopfzerbrechen und Not die größeren Aus¬
gaben verursachen. Die halbe Gasse versammelt sich in neidischer Aufregung
bei der Greißlerin, denn „dö Gasserischen lassen si Holz und Kost'n führ'n!"



*) Zahlreiche Bünde sind bei A, Bonz in Stuttgart erschienen, eine gute Auswahl ist
durch die Rectum-Bibliothek bequem zugänglich. Das gleiche gilt für die Arbeiten des später
erwähnten E. Pvtzl,
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[0236] Zwischen Alt- und ^Jen-U?im aller empfangenen Anregung hier schließlich doch mehr den Menschen Chiavacci schätzen lernt als den Dichter. Der leistet trotz so weiten Ausgreifens sein Gutes und Dauerndes dennoch einzig auf dem umgrenzten Felde des Wiener Volksschriftstellers, dem er reichlich viele Früchte abgewinnt*). Ja, eigentlich ist er ein echterer Volksschriftsteller als Friedrich Schlögl, obschon dessen Bildung und Interessen viel entschiedener auf den Wiener Kreis beschränkt waren. Denn Schlögl steht über dem Wiener Volk, das er ausschließlich betrachtet, Chiavacci aber steht mitten drin, den Wienern verkettet durch seine Haupteigenschaft, aus der dichterisch sein Bestes und sein Allerschlimmstes fließt: durch seine allzu weiche Güte. Der lautere Mann besitzt keineswegs jene abscheuliche Gemütlichkeit, in der sich Tränenwollust mit Roheit verbindet; ihm ist es mit seiner Rührung immer ernst, aber er hat eben einigermaßen das von Schlögl gehaßte „Faible für obligates Rührei". Dies hindert ihn vielfach, aus gegebenen Tatsachen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Gar zu gern läßt er einen verlorenen Sohn spätestens am sechzigsten Geburtstag der Mutter gebessert heimkehren, einem Versinkenden in letzter Not edle Retter erstehen; allzu lieb ist es ihm, das Kind eines Raubmörders vor gesellschaftlicher Achtung zu bewahren, indem er zu guterletzt offenbar werden läßt, daß der Vater in einem Wahnsinnsanfall gehandelt, daß er nichts geraubt und den „Ermordeten" gar nicht wesentlich verletzt hat. In solcher Kraßheit freilich sind diese Entgleisungen nicht übermäßig häufig, und ein geringes Quantum Rührseligkeit nimmt man wohl mit in den Kauf, da es fast den einzigen Mangel der sonst in ihrer bescheidenen Art vortrefflichen Novelletten bildet. Mit besonderer Vorliebe und Anmut versenkt sich Chiavacci in die Kinder¬ welt. Jungen und Mädchen, Säuglinge und Halberwachsene stehen seinem Herzen gleich nahe. Er weiß viele kleine harmlose Geschichten von ihren Spielen, Unarten, Heldentaten. Im Grunde sind es meist Dinge, die bei der Berliner oder Pariser Jugend kaum anders vorkommen; aber indem der Dichter die Umgebung, Stadt wie Menschen, jedesmal aufs liebevollste mitzeichnet, indem er aufs sorglichste dem Dialekt nachgeht, gibt er den reizenden Kleinig¬ keiten doch ihren besonderen Wiener Anstrich und somit auch die Würde kultur¬ historischen Bedenkens. Und oftmals drängen sich in die Spiele der Kinder die Sorgen der Großen. Es sind ja fast immer arme Leute und nicht Friedrich Schlögls satte Bürger, die Chiavacci darstellt. Immer wieder wird ausgemalt, wie sich die Mutter und die halbwüchsige Tochter plagen, mit wenigen Kreuzern den Tagesbedarf zu schaffen, wie viel Kopfzerbrechen und Not die größeren Aus¬ gaben verursachen. Die halbe Gasse versammelt sich in neidischer Aufregung bei der Greißlerin, denn „dö Gasserischen lassen si Holz und Kost'n führ'n!" *) Zahlreiche Bünde sind bei A, Bonz in Stuttgart erschienen, eine gute Auswahl ist durch die Rectum-Bibliothek bequem zugänglich. Das gleiche gilt für die Arbeiten des später erwähnten E. Pvtzl,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/236>, abgerufen am 29.12.2024.