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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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hervorstechendste Zug dieser Träger der Masseninstinkte ist ihr wenig ausgebildeter
Verantwortlichkeitssinn. Sie wissen gar nicht, um welche große Dinge es sich
in der Politik der Patrizier handelt: um nichts weniger als um Sein oder
Nichtsein des Staates; sie denken nur an die kleinliche Tagespolitik des haupt¬
städtischen Pöbels, an Wahlkämpfe, Stimmensammeln und Wahlerfolge. Keine
Ahnung haben sie von der Forderung: Das Vaterland über die Partei! Was
macht es thuen, daß die Volsker zu den Waffen greifen? Sie haben, wie der
Stier fürs rote Tuch, nur Augen für ihren Gegner und seinen Stolz. "War
je ein Mensch so stolz wie Marcius?" fragt Sicinius, als die Nachricht vom
Ausbruch des Krieges auf das Forum gekommen ist. Brutus wünscht: "Ver¬
schling' ihn dieser Krieg!", und doch weiß er, daß alle Hoffnung Roms auf
Marcius steht. Sie spötteln über die Rüstungen der Patrizier, die für das
gemeinsame Vaterland kämpfen wollen; dieser Spott bei ernsten Dingen ist eine
bezeichnende Gewohnheit der Masse.

Die beiden Tribunen sind kurzsichtig und gedankenlos und können nicht
über ihren Horizont hinwegsehen. Sie sind mit der Volksmasse ein schwankendes
Rohr im Winde, von jedem Luftzug, der von oben kommt, hin und her bewegt.
Nicht ihr Verdienst hat sie emporgebracht, sondern die Stimmung der Menge,
die das wahre Verdienst nicht anerkannte.

Und heute? Ob wohl eine Zeit mehr als die unsere unter dem Zeichen
der Massenwirkungen steht? Ob wohl eine Zeit weniger als die unsere das
Recht der einzelnen Persönlichkeit, dieses Grundprinzip des wahren Aristokratismus
gegenüber dem Recht der Masse, gelten läßt?

Gegen eine Politik, die sich auf die Menge gründet, und die insbesondere
in der Partei der Demokratie ihren Ausdruck gefunden hat. erhebt sich freilich
auch in unserer Zeit der Geist der aristokratischen Persönlichkeit, wie ihn Shake¬
speare im Koriolan darstellt, wie ihn die Größten aller Zeiten vertreten haben,
wie ihm Schiller Sprache verleiht, wenn er im Demetrius das Wort prägt: "Was ist
die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen."

Hier möchte der Augenblick sein, daran zu erinnern, daß der Liberalismus
sich auf seine Quellen besinne und die Grundlinien seines Programms einer
vorsichtigen Revision unterziehe. Zugunsten der Gleichheit und Freiheit im
Volk, im Trachten nach Menschenrechten und Volksrechten hat man oft vergessen,
daß Gleichheit und Freiheit und Menschenrechte erst in der einzelnen Persön¬
lichkeit in Erscheinung treten. Der Liberalismus hat, wenn er leben will, den
Aristokratismus der Persönlichkeit nötig und sollte deshalb am wenigsten denen
gegenüber feindselig auftreten, die in einer Partei zusammengeschlossen die
Aristokratie als eine ephemere Erscheinung des wahren Aristokratismus reprä¬
sentieren. Hier sind die Grundlinien eines Blocks, wie ihn Bülow sich dachte,
und wie er in dieser und jener Gestalt immer einmal wiederkehren wird.

Und ebenso sollte die Politik der Konservativen einmal Einkehr halten und
sich darauf besinnen, daß der Wert eines einzelnen mehr wiegen kann als


Aoriolcin

hervorstechendste Zug dieser Träger der Masseninstinkte ist ihr wenig ausgebildeter
Verantwortlichkeitssinn. Sie wissen gar nicht, um welche große Dinge es sich
in der Politik der Patrizier handelt: um nichts weniger als um Sein oder
Nichtsein des Staates; sie denken nur an die kleinliche Tagespolitik des haupt¬
städtischen Pöbels, an Wahlkämpfe, Stimmensammeln und Wahlerfolge. Keine
Ahnung haben sie von der Forderung: Das Vaterland über die Partei! Was
macht es thuen, daß die Volsker zu den Waffen greifen? Sie haben, wie der
Stier fürs rote Tuch, nur Augen für ihren Gegner und seinen Stolz. „War
je ein Mensch so stolz wie Marcius?" fragt Sicinius, als die Nachricht vom
Ausbruch des Krieges auf das Forum gekommen ist. Brutus wünscht: „Ver¬
schling' ihn dieser Krieg!", und doch weiß er, daß alle Hoffnung Roms auf
Marcius steht. Sie spötteln über die Rüstungen der Patrizier, die für das
gemeinsame Vaterland kämpfen wollen; dieser Spott bei ernsten Dingen ist eine
bezeichnende Gewohnheit der Masse.

Die beiden Tribunen sind kurzsichtig und gedankenlos und können nicht
über ihren Horizont hinwegsehen. Sie sind mit der Volksmasse ein schwankendes
Rohr im Winde, von jedem Luftzug, der von oben kommt, hin und her bewegt.
Nicht ihr Verdienst hat sie emporgebracht, sondern die Stimmung der Menge,
die das wahre Verdienst nicht anerkannte.

Und heute? Ob wohl eine Zeit mehr als die unsere unter dem Zeichen
der Massenwirkungen steht? Ob wohl eine Zeit weniger als die unsere das
Recht der einzelnen Persönlichkeit, dieses Grundprinzip des wahren Aristokratismus
gegenüber dem Recht der Masse, gelten läßt?

Gegen eine Politik, die sich auf die Menge gründet, und die insbesondere
in der Partei der Demokratie ihren Ausdruck gefunden hat. erhebt sich freilich
auch in unserer Zeit der Geist der aristokratischen Persönlichkeit, wie ihn Shake¬
speare im Koriolan darstellt, wie ihn die Größten aller Zeiten vertreten haben,
wie ihm Schiller Sprache verleiht, wenn er im Demetrius das Wort prägt: „Was ist
die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen."

Hier möchte der Augenblick sein, daran zu erinnern, daß der Liberalismus
sich auf seine Quellen besinne und die Grundlinien seines Programms einer
vorsichtigen Revision unterziehe. Zugunsten der Gleichheit und Freiheit im
Volk, im Trachten nach Menschenrechten und Volksrechten hat man oft vergessen,
daß Gleichheit und Freiheit und Menschenrechte erst in der einzelnen Persön¬
lichkeit in Erscheinung treten. Der Liberalismus hat, wenn er leben will, den
Aristokratismus der Persönlichkeit nötig und sollte deshalb am wenigsten denen
gegenüber feindselig auftreten, die in einer Partei zusammengeschlossen die
Aristokratie als eine ephemere Erscheinung des wahren Aristokratismus reprä¬
sentieren. Hier sind die Grundlinien eines Blocks, wie ihn Bülow sich dachte,
und wie er in dieser und jener Gestalt immer einmal wiederkehren wird.

Und ebenso sollte die Politik der Konservativen einmal Einkehr halten und
sich darauf besinnen, daß der Wert eines einzelnen mehr wiegen kann als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/19>, abgerufen am 28.12.2024.