Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Geselligkeit, Gesellige'citsformen und Gcselligkeitssurrogate Mehr aber noch als Amerikanismus, Sport und Reiselust erwürgt die stetig Nun wäre es unrecht, wenn man bei einer Betrachtung über Geselligkeit So sind denn die Aussichten auf eine Wiedergeburt der Geselligkeit sehr Grenzboten I 1911 22
Geselligkeit, Gesellige'citsformen und Gcselligkeitssurrogate Mehr aber noch als Amerikanismus, Sport und Reiselust erwürgt die stetig Nun wäre es unrecht, wenn man bei einer Betrachtung über Geselligkeit So sind denn die Aussichten auf eine Wiedergeburt der Geselligkeit sehr Grenzboten I 1911 22
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0183" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317796"/> <fw type="header" place="top"> Geselligkeit, Gesellige'citsformen und Gcselligkeitssurrogate</fw><lb/> <p xml:id="ID_850"> Mehr aber noch als Amerikanismus, Sport und Reiselust erwürgt die stetig<lb/> fortschreitende, immer leichter zugänglich werdende Bildung die klassische Geselligkeit.<lb/> Das klingt barock, vielleicht sogar albern, erweist sich aber bei näherer Be¬<lb/> trachtung als richtig. Wenn Voltaire, d'Alembert, Grimm, Benjamin Konstant usw.<lb/> in unseren Tagen lebten, so würden sie sicher ihre Dichtungen, Philosophien<lb/> und Romane nicht im Hause einer ältlichen Dame vor einem kleinen Auditorium<lb/> vorlesen, sondern sie ließen sich von einem smarten Unternehmer zu einträg¬<lb/> lichen Vortragsreisen verpflichten. Und wenn ein Diplomat heutzutage ein<lb/> wertvolles Geheim-Tagebuch besitzt, das er durchaus nicht geheim halten<lb/> will, so findet er ein halbes Dutzend Revuen, die sich um das Manuskript<lb/> reißen ... Die geistreichsten Leute der Nation sagen dem Zuhörer vom<lb/> Katheder oder von der Redaktion aus in Wort und Schrift, was von<lb/> allen Dingen der Welt zu denken und zu halten sei. Er, der Zuhörer,<lb/> braucht gar nichts zu tun, sich nicht mit Abfassung einer eigenen Meinung<lb/> oder gar deren Stilisierung zu plagen. Er braucht nur sein Eintrittsgeld zu<lb/> zahlen, ja unter Umständen nur die Tasse Kaffee im Kaffeehaus, zu der er<lb/> die Zeitungen und Zeitschriften gratis geliefert bekommt. Er braucht sich nur<lb/> hinzusetzen, zu hören oder zu lesen, und wird mit Anregungen, Meinungen und<lb/> Kontroversen einfach genudelt. ... Da die Geselligkeit alten Stils oder viel¬<lb/> mehr ihre Anregungen solcher Art parzelliert und in die Öffentlichkeit geschleudert<lb/> worden sind, scheint es mir unmöglich, daraus je wieder ein harmonisches<lb/> Ganzes zusammenzuschweißen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß<lb/> Sportsleute, Weltbummler, vielbeschäftigte Journalisten, Gelehrte und Vortrags-<lb/> reisende, daß ein mit allen Bildungsreizen überfüttertes Publikum wieder zu<lb/> der Gebundenheit des Salons und seiner Geselligkeit zurückkehren sollte. Es kann<lb/> es um so weniger, als die parzellierte Geselligkeit eben gerade für stark arbeitende<lb/> Menschen äußerst bequem ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_851"> Nun wäre es unrecht, wenn man bei einer Betrachtung über Geselligkeit<lb/> eine spezifisch moderne Form der Geselligkeit übersehen wollte — den süddeutschen<lb/> Fasching. Man kann über seine Moral denken, wie man will, aber man kann<lb/> nicht leugnen, daß auch seine heiteren Vereinigungen Werte geschaffen haben,<lb/> die über den Tag hinaus leben. Wenn er natürlich auch keine selbständige,<lb/> geistige Tat bedeutet, wenn auch kein Mensch je daran denken wird, ein Masken¬<lb/> oder Künstlerfest als Ersatz für den Salon zu betrachten, so darf man doch<lb/> nicht übersehen, daß er unsere Zeichner, unsere Dichter, unsere Mode, ja unser<lb/> Wirtschaftsleben inspiriert und beeinflußt hat, und darum muß er eigentlich als<lb/> die einzige originelle Geselligkeitsform oder, wenn man will, das einzig originelle<lb/> Geselligkeitssurrogat bezeichnet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_852" next="#ID_853"> So sind denn die Aussichten auf eine Wiedergeburt der Geselligkeit sehr<lb/> gering, denn die erlesene Geselligkeit, die wir gern haben möchten, die echte<lb/> Tochter des achtzehnten Jahrhunderts, ist nur mehr ein schöner Leichnam, dem<lb/> alle Reformvorschläge ebensowenig zu neuem Leben verhelfen werden, wie sämtliche</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1911 22</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0183]
Geselligkeit, Gesellige'citsformen und Gcselligkeitssurrogate
Mehr aber noch als Amerikanismus, Sport und Reiselust erwürgt die stetig
fortschreitende, immer leichter zugänglich werdende Bildung die klassische Geselligkeit.
Das klingt barock, vielleicht sogar albern, erweist sich aber bei näherer Be¬
trachtung als richtig. Wenn Voltaire, d'Alembert, Grimm, Benjamin Konstant usw.
in unseren Tagen lebten, so würden sie sicher ihre Dichtungen, Philosophien
und Romane nicht im Hause einer ältlichen Dame vor einem kleinen Auditorium
vorlesen, sondern sie ließen sich von einem smarten Unternehmer zu einträg¬
lichen Vortragsreisen verpflichten. Und wenn ein Diplomat heutzutage ein
wertvolles Geheim-Tagebuch besitzt, das er durchaus nicht geheim halten
will, so findet er ein halbes Dutzend Revuen, die sich um das Manuskript
reißen ... Die geistreichsten Leute der Nation sagen dem Zuhörer vom
Katheder oder von der Redaktion aus in Wort und Schrift, was von
allen Dingen der Welt zu denken und zu halten sei. Er, der Zuhörer,
braucht gar nichts zu tun, sich nicht mit Abfassung einer eigenen Meinung
oder gar deren Stilisierung zu plagen. Er braucht nur sein Eintrittsgeld zu
zahlen, ja unter Umständen nur die Tasse Kaffee im Kaffeehaus, zu der er
die Zeitungen und Zeitschriften gratis geliefert bekommt. Er braucht sich nur
hinzusetzen, zu hören oder zu lesen, und wird mit Anregungen, Meinungen und
Kontroversen einfach genudelt. ... Da die Geselligkeit alten Stils oder viel¬
mehr ihre Anregungen solcher Art parzelliert und in die Öffentlichkeit geschleudert
worden sind, scheint es mir unmöglich, daraus je wieder ein harmonisches
Ganzes zusammenzuschweißen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß
Sportsleute, Weltbummler, vielbeschäftigte Journalisten, Gelehrte und Vortrags-
reisende, daß ein mit allen Bildungsreizen überfüttertes Publikum wieder zu
der Gebundenheit des Salons und seiner Geselligkeit zurückkehren sollte. Es kann
es um so weniger, als die parzellierte Geselligkeit eben gerade für stark arbeitende
Menschen äußerst bequem ist.
Nun wäre es unrecht, wenn man bei einer Betrachtung über Geselligkeit
eine spezifisch moderne Form der Geselligkeit übersehen wollte — den süddeutschen
Fasching. Man kann über seine Moral denken, wie man will, aber man kann
nicht leugnen, daß auch seine heiteren Vereinigungen Werte geschaffen haben,
die über den Tag hinaus leben. Wenn er natürlich auch keine selbständige,
geistige Tat bedeutet, wenn auch kein Mensch je daran denken wird, ein Masken¬
oder Künstlerfest als Ersatz für den Salon zu betrachten, so darf man doch
nicht übersehen, daß er unsere Zeichner, unsere Dichter, unsere Mode, ja unser
Wirtschaftsleben inspiriert und beeinflußt hat, und darum muß er eigentlich als
die einzige originelle Geselligkeitsform oder, wenn man will, das einzig originelle
Geselligkeitssurrogat bezeichnet werden.
So sind denn die Aussichten auf eine Wiedergeburt der Geselligkeit sehr
gering, denn die erlesene Geselligkeit, die wir gern haben möchten, die echte
Tochter des achtzehnten Jahrhunderts, ist nur mehr ein schöner Leichnam, dem
alle Reformvorschläge ebensowenig zu neuem Leben verhelfen werden, wie sämtliche
Grenzboten I 1911 22
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |