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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Ein Herr?" fragte der Bezirksaufseher mürrisch den Zehntner, der mit
der Meldung eintrat, "Notwendig, sagt er? Jeder, der mit irgend einem Unsinn
erscheint, versichert immer, er habe etwas Notwendiges. Nun, meinetwegen, mag
er hereinkommen."

Er war im Begriff, sich zu waschen. Ein Dienstmädchen stand mit einen:
Kruge neben ihm. Er hatte sich über die Schüssel gebeugt. Das Mädchen goß
ihm etwas Wasser in die aneinander gepreßten hohlen Hände. Er netzte sich
damit das Gesicht und den Kopf und schob dann wieder die Hände hin.
Dabei sprudelte er ganz über die Gebühr, räusperte sich, stöhnte und machte einen
Spektakel, als ob er jedesmal nicht mit einer Handvoll, sondern mit einem Eimer
Wasser hantierte.

"Was haben Sie Notwendiges?" fragte er unwirsch dazwischen. "Sagen
Sie es schnell. Ich fahre gleich weg. Aufhalten lasse ich mich nicht. Aber warten
Sie. Beim Waschen kann ich nicht hören."

Okolitsch lächelte und schwieg, um das Ende der lärmenden Anfeuchtung
abzuwarten. Eilig war die Sache ja nicht mehr, seitdem er den Aufseher vor
sich sah, denn zu sagen hatte er nichts, und auf Bescheid machte er ebenfalls
keinen Anspruch.

"Was stehen Sie da und reden nicht!" fuhr der Beamte auf. "Sie stören
mich und tun dann, als ob Ihnen der Mund zugenäht wäre."

"Ich habe Zeit," versetzte Okolitsch.

"Aber ich habe keine Zeit, hole Sie der Teufel!" schrie der Mann, indem er
sich niedriger beugte. "Maschka, den Rest gieße mir auf den Kopf."

Das Mädchen goß langsam. Er sing daS von dem Wirbel niederfließende
Wasser mit den Handflächen auf und rieb damit das Gesicht mit einer Art
von Gebrüll. Der Krug war leer.

"Wenn er stumm ist, mag er gehen, woher er gekommen ist," sprach der
Aufseher. "Zehntner, sage ihm, daß er sich packe."

Er strich und preßte mit den Handflächen, um die Feuchtigkeit soviel wie
möglich von den Haaren und der Haut zu entfernen, während das Mädchen das
Handtuch von der Wand holte. Der Zehntner trat zu Okolitsch und begann leise:

"Sagen Sie schnell, Herr, was Sie nötig haben. Jetzt kann er schon hören.
Sonst . . ."

Da hatte der Aufseher sich aber bereits aufgerichtet und das Handtuch
empfangen. Indem er es ausbreitete, um es zu benutzen, kam er zum Fenster,
wo der junge Mann stand.

"Was denken Sie sich eigentlich?" fiel er dem Zehntner in die Rede.
"Glauben Sie, daß ich -- Ah, Sie sind es, Herr -- Herr -- richtig, Okolitsch!
Sehen Sie, ich erinnere mich Ihres Namens. Entschuldigen Sie. Ich war
gerade beim Waschen. Sie kommen wegen des Diebstahls bei dem Hauptmann
Schejin? Ja, mein Herr, da gebe ich fast die Hoffnung auf. Abgehetzt habe ich
mich wegen der Sache! Bei Gott, ich bin um ein halbes Pud leichter geworden.
Dreiundvierzigtausend! Was ist das für ein schweres Geld! Aber wenig Hoffnung,
wenig Hoffnung."

"Ich habe Ihnen dieses Kuvert einzuhändigen," sagte Okolitsch mit einer
Verbeugung.


Im Flecken

„Ein Herr?" fragte der Bezirksaufseher mürrisch den Zehntner, der mit
der Meldung eintrat, „Notwendig, sagt er? Jeder, der mit irgend einem Unsinn
erscheint, versichert immer, er habe etwas Notwendiges. Nun, meinetwegen, mag
er hereinkommen."

Er war im Begriff, sich zu waschen. Ein Dienstmädchen stand mit einen:
Kruge neben ihm. Er hatte sich über die Schüssel gebeugt. Das Mädchen goß
ihm etwas Wasser in die aneinander gepreßten hohlen Hände. Er netzte sich
damit das Gesicht und den Kopf und schob dann wieder die Hände hin.
Dabei sprudelte er ganz über die Gebühr, räusperte sich, stöhnte und machte einen
Spektakel, als ob er jedesmal nicht mit einer Handvoll, sondern mit einem Eimer
Wasser hantierte.

„Was haben Sie Notwendiges?" fragte er unwirsch dazwischen. „Sagen
Sie es schnell. Ich fahre gleich weg. Aufhalten lasse ich mich nicht. Aber warten
Sie. Beim Waschen kann ich nicht hören."

Okolitsch lächelte und schwieg, um das Ende der lärmenden Anfeuchtung
abzuwarten. Eilig war die Sache ja nicht mehr, seitdem er den Aufseher vor
sich sah, denn zu sagen hatte er nichts, und auf Bescheid machte er ebenfalls
keinen Anspruch.

„Was stehen Sie da und reden nicht!" fuhr der Beamte auf. „Sie stören
mich und tun dann, als ob Ihnen der Mund zugenäht wäre."

„Ich habe Zeit," versetzte Okolitsch.

„Aber ich habe keine Zeit, hole Sie der Teufel!" schrie der Mann, indem er
sich niedriger beugte. „Maschka, den Rest gieße mir auf den Kopf."

Das Mädchen goß langsam. Er sing daS von dem Wirbel niederfließende
Wasser mit den Handflächen auf und rieb damit das Gesicht mit einer Art
von Gebrüll. Der Krug war leer.

„Wenn er stumm ist, mag er gehen, woher er gekommen ist," sprach der
Aufseher. „Zehntner, sage ihm, daß er sich packe."

Er strich und preßte mit den Handflächen, um die Feuchtigkeit soviel wie
möglich von den Haaren und der Haut zu entfernen, während das Mädchen das
Handtuch von der Wand holte. Der Zehntner trat zu Okolitsch und begann leise:

„Sagen Sie schnell, Herr, was Sie nötig haben. Jetzt kann er schon hören.
Sonst . . ."

Da hatte der Aufseher sich aber bereits aufgerichtet und das Handtuch
empfangen. Indem er es ausbreitete, um es zu benutzen, kam er zum Fenster,
wo der junge Mann stand.

„Was denken Sie sich eigentlich?" fiel er dem Zehntner in die Rede.
„Glauben Sie, daß ich — Ah, Sie sind es, Herr — Herr — richtig, Okolitsch!
Sehen Sie, ich erinnere mich Ihres Namens. Entschuldigen Sie. Ich war
gerade beim Waschen. Sie kommen wegen des Diebstahls bei dem Hauptmann
Schejin? Ja, mein Herr, da gebe ich fast die Hoffnung auf. Abgehetzt habe ich
mich wegen der Sache! Bei Gott, ich bin um ein halbes Pud leichter geworden.
Dreiundvierzigtausend! Was ist das für ein schweres Geld! Aber wenig Hoffnung,
wenig Hoffnung."

„Ich habe Ihnen dieses Kuvert einzuhändigen," sagte Okolitsch mit einer
Verbeugung.


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[0153] Im Flecken „Ein Herr?" fragte der Bezirksaufseher mürrisch den Zehntner, der mit der Meldung eintrat, „Notwendig, sagt er? Jeder, der mit irgend einem Unsinn erscheint, versichert immer, er habe etwas Notwendiges. Nun, meinetwegen, mag er hereinkommen." Er war im Begriff, sich zu waschen. Ein Dienstmädchen stand mit einen: Kruge neben ihm. Er hatte sich über die Schüssel gebeugt. Das Mädchen goß ihm etwas Wasser in die aneinander gepreßten hohlen Hände. Er netzte sich damit das Gesicht und den Kopf und schob dann wieder die Hände hin. Dabei sprudelte er ganz über die Gebühr, räusperte sich, stöhnte und machte einen Spektakel, als ob er jedesmal nicht mit einer Handvoll, sondern mit einem Eimer Wasser hantierte. „Was haben Sie Notwendiges?" fragte er unwirsch dazwischen. „Sagen Sie es schnell. Ich fahre gleich weg. Aufhalten lasse ich mich nicht. Aber warten Sie. Beim Waschen kann ich nicht hören." Okolitsch lächelte und schwieg, um das Ende der lärmenden Anfeuchtung abzuwarten. Eilig war die Sache ja nicht mehr, seitdem er den Aufseher vor sich sah, denn zu sagen hatte er nichts, und auf Bescheid machte er ebenfalls keinen Anspruch. „Was stehen Sie da und reden nicht!" fuhr der Beamte auf. „Sie stören mich und tun dann, als ob Ihnen der Mund zugenäht wäre." „Ich habe Zeit," versetzte Okolitsch. „Aber ich habe keine Zeit, hole Sie der Teufel!" schrie der Mann, indem er sich niedriger beugte. „Maschka, den Rest gieße mir auf den Kopf." Das Mädchen goß langsam. Er sing daS von dem Wirbel niederfließende Wasser mit den Handflächen auf und rieb damit das Gesicht mit einer Art von Gebrüll. Der Krug war leer. „Wenn er stumm ist, mag er gehen, woher er gekommen ist," sprach der Aufseher. „Zehntner, sage ihm, daß er sich packe." Er strich und preßte mit den Handflächen, um die Feuchtigkeit soviel wie möglich von den Haaren und der Haut zu entfernen, während das Mädchen das Handtuch von der Wand holte. Der Zehntner trat zu Okolitsch und begann leise: „Sagen Sie schnell, Herr, was Sie nötig haben. Jetzt kann er schon hören. Sonst . . ." Da hatte der Aufseher sich aber bereits aufgerichtet und das Handtuch empfangen. Indem er es ausbreitete, um es zu benutzen, kam er zum Fenster, wo der junge Mann stand. „Was denken Sie sich eigentlich?" fiel er dem Zehntner in die Rede. „Glauben Sie, daß ich — Ah, Sie sind es, Herr — Herr — richtig, Okolitsch! Sehen Sie, ich erinnere mich Ihres Namens. Entschuldigen Sie. Ich war gerade beim Waschen. Sie kommen wegen des Diebstahls bei dem Hauptmann Schejin? Ja, mein Herr, da gebe ich fast die Hoffnung auf. Abgehetzt habe ich mich wegen der Sache! Bei Gott, ich bin um ein halbes Pud leichter geworden. Dreiundvierzigtausend! Was ist das für ein schweres Geld! Aber wenig Hoffnung, wenig Hoffnung." „Ich habe Ihnen dieses Kuvert einzuhändigen," sagte Okolitsch mit einer Verbeugung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/153>, abgerufen am 28.12.2024.