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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Marokkanischer Brief

über ihn kommen, an ihm Rache nehmen und sein Hab und Gut verschlucken könnten.
Er bittet Dich deshalb inständig um Rat, welche Entschlüsse er in dieser unheilvollen
Lage fassen soll, und hofft von der starken Hilfe Gottes und von Deiner Weisheit, daß
sich alles zum Guten wenden möge.


In Freundschaft und mit Grusz
Hadsch......

Dies war es, was wir Dir mitzuteilen hatten.

Geschrieben in Fes am 5. schürt des Jahres 1328.

(..........)

Der obige Brief zeigt, wie augenblicklich Handelskreise in Marokko denken.

Um die Wende dieses Jahrhunderts ahnte wohl noch niemand, daß das
unserem Kontinent so nahe und doch so ferne Scherifenreich wenige Jahre später
fast den Brand eines Weltkrieges veranlaßt hätte!

Die deutsche Politik in Marokko hatte sich nach altem bismarckischem Rezept
von jeher darauf beschränkt, die Interessen unseres Handels nach Kräften zu
fördern und im übrigen ein wachsames Auge auf den wechselnden Einfluß
Englands und Frankreichs auf die marokkanische Negierung zu haben. Darüber
hinausgehende, etwa auf Kolonialerwerb gerichtete Ambitionen hat Deutschland
nie gehabt. Die Rivalität der beiden Westmächte in Marokko bildete einen
wichtigen Faktor der europäischen Gesamtpolitik, denn sie schien eine Einigung
dieser Mächte gegen Deutschland zu verhindern. In dem politischen Ränkespiel
in Fes war England, das in der Person des Schotten Kalb Maclean einen
hervorragenden Agenten besaß, fast immer der Gewinner und Frankreich ver¬
mochte trotz seiner Militärmission am Sultanshof nur sehr wenig Erfolge zu
erzielen. Als dritter Spieler am Marokkospiele versuchte sich -- wenn auch
gänzlich ohne Erfolg -- von Zeit zu Zeit Spanien; durch seine etwa zehn¬
tausend Kopfe starke Kolonie und seine "Presidios" hat es dort auch jetzt noch
die bei weiten: größten wirtschaftlichen Interessen. Die Situation änderte sich
mit einem Schlage durch die russischen Niederlagen in Ostasien, die das europäische
Gleichgewicht zugunsten Deutschlands zu verschieben drohten. Um den: vor¬
zubeugen, glaubte England auf jeden Fall, selbst um den Preis bedeutsamer
Zugeständnisse, zu einer "Entente" mit Frankreich gelangen zu müssen. So
schwer es auch dem britischen Egoismus fallen mochte, seine Vorherrschaft vor
den Toren Gibraltars aufzugeben, jetzt, wo es galt, Frankreich unter allen
Umständen auf die englische Seite hinüberzuziehen, erschien Marokko als
Morgengabe nicht zu groß und kurz entschlossen überließ man den Franzosen
das Sultanat des äußersten Westens gegen einige Kompensationen in Ägypten.

Durch eine Indiskretion in Fes kam der Handel zu den Ohren des
damaligen deutschen Konsulatsverwesers dort und sonnt zur Kenntnis des Aus¬
wärtigen Amtes. Inzwischen verdichtete sich die Verständigung zwischen England
und Frankreich zu dem Slbkommen vom 8. April 1904, durch das der französischen
Politik in Marokko unter folgenden Bedingungen freie Hand gelassen wurde:

1. Es sollte der 8then8 quo aufrechterhalten bleiben;


Marokkanischer Brief

über ihn kommen, an ihm Rache nehmen und sein Hab und Gut verschlucken könnten.
Er bittet Dich deshalb inständig um Rat, welche Entschlüsse er in dieser unheilvollen
Lage fassen soll, und hofft von der starken Hilfe Gottes und von Deiner Weisheit, daß
sich alles zum Guten wenden möge.


In Freundschaft und mit Grusz
Hadsch......

Dies war es, was wir Dir mitzuteilen hatten.

Geschrieben in Fes am 5. schürt des Jahres 1328.

(..........)

Der obige Brief zeigt, wie augenblicklich Handelskreise in Marokko denken.

Um die Wende dieses Jahrhunderts ahnte wohl noch niemand, daß das
unserem Kontinent so nahe und doch so ferne Scherifenreich wenige Jahre später
fast den Brand eines Weltkrieges veranlaßt hätte!

Die deutsche Politik in Marokko hatte sich nach altem bismarckischem Rezept
von jeher darauf beschränkt, die Interessen unseres Handels nach Kräften zu
fördern und im übrigen ein wachsames Auge auf den wechselnden Einfluß
Englands und Frankreichs auf die marokkanische Negierung zu haben. Darüber
hinausgehende, etwa auf Kolonialerwerb gerichtete Ambitionen hat Deutschland
nie gehabt. Die Rivalität der beiden Westmächte in Marokko bildete einen
wichtigen Faktor der europäischen Gesamtpolitik, denn sie schien eine Einigung
dieser Mächte gegen Deutschland zu verhindern. In dem politischen Ränkespiel
in Fes war England, das in der Person des Schotten Kalb Maclean einen
hervorragenden Agenten besaß, fast immer der Gewinner und Frankreich ver¬
mochte trotz seiner Militärmission am Sultanshof nur sehr wenig Erfolge zu
erzielen. Als dritter Spieler am Marokkospiele versuchte sich — wenn auch
gänzlich ohne Erfolg — von Zeit zu Zeit Spanien; durch seine etwa zehn¬
tausend Kopfe starke Kolonie und seine „Presidios" hat es dort auch jetzt noch
die bei weiten: größten wirtschaftlichen Interessen. Die Situation änderte sich
mit einem Schlage durch die russischen Niederlagen in Ostasien, die das europäische
Gleichgewicht zugunsten Deutschlands zu verschieben drohten. Um den: vor¬
zubeugen, glaubte England auf jeden Fall, selbst um den Preis bedeutsamer
Zugeständnisse, zu einer „Entente" mit Frankreich gelangen zu müssen. So
schwer es auch dem britischen Egoismus fallen mochte, seine Vorherrschaft vor
den Toren Gibraltars aufzugeben, jetzt, wo es galt, Frankreich unter allen
Umständen auf die englische Seite hinüberzuziehen, erschien Marokko als
Morgengabe nicht zu groß und kurz entschlossen überließ man den Franzosen
das Sultanat des äußersten Westens gegen einige Kompensationen in Ägypten.

Durch eine Indiskretion in Fes kam der Handel zu den Ohren des
damaligen deutschen Konsulatsverwesers dort und sonnt zur Kenntnis des Aus¬
wärtigen Amtes. Inzwischen verdichtete sich die Verständigung zwischen England
und Frankreich zu dem Slbkommen vom 8. April 1904, durch das der französischen
Politik in Marokko unter folgenden Bedingungen freie Hand gelassen wurde:

1. Es sollte der 8then8 quo aufrechterhalten bleiben;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/141>, abgerufen am 28.12.2024.