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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

unsern Geschmack auch heute noch die starken Wurzeln seiner Kraft -- hier,
und nicht, wie man glauben könnte, in der Wiedergabe eines "Lear", "Hamlet".
"Othello". "Fiesko", "Don Carlos" oder einer "Judith". Denn damit kommen
wir auf die negativen Seiten dieser Begabung, und zwar gleich auf ihren
wichtigsten Punkt: Max Reinhardt hat dem zeitlosen al fre8Lo-Gemälde der
Weltliteratur gegenüber noch jedesmal versagt. Trotz ehrlichsten Ringens,
riesigen Fleißes und aufopferungsvollster Hingabe ist es ihm bis heute
nicht gelungen, die klassische Tragödie größten Stils restlos zu erschöpfen.
Hier gibt er Detail statt Fülle und Größe, Hysterie statt Leidenschaft, Krampf
statt Temperament und Treibhausluft statt Sonnenwärme. Hier liegen augen¬
scheinlich die Grenzen seiner Begabung -- vorausgesetzt natürlich, daß dieser
Cagliostro des Theaters nicht doch noch eines Tages das Unmögliche möglich
macht.

Genaue Kenner seiner Begabung hatten dies Schicksal vorausgesagt. Seine
auf koloristische und artistische Wirkungen gestellte Kunst brachte den Glauben
an die Kraft der großen ungebrochenen Linie nicht auf. Das war am auf¬
fallendsten in seinem Verhältnis zu der wie glühende Lava einherströmenden
Pathetik des jungeu Schiller. Der Dichter der "Räuber" und des "Fiesko"
war dem verfeinerten Skeptiker des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr und
nicht weniger als eine liebgewordene Merkwürdigkeit aus Großvaters Tagen,
ein wertvolles Erbstück sozusagen, das man in nachdenklichen Stunden vielleicht
mit stiller Wehmut belächelt, zu dem man aber bei allem redlichen Willen keine
inneren Beziehungen mehr findet. So trat er dann mit ganz anderen Voraus¬
setzungen an seinen Dichter heran als wir, für die er noch heute lebendige
Werte vorstellt, nämlich mit dem fatalen Zungenschnalzen und den: ewigen
Besserwissen des Snobs, dem Schiller gerade gut genug zum Spielball seiner
artistischen Launen ist. Der primitive und fast priesterlich inbrünstige Glaube
des Dichters wurde mit Skepsis durchsetzt. Die Strahlen seiner Rhythmen
wurden künstlich gebrochen und die tosenden Gießbäche seiner Pathetik behutsam
abgeleitet. Mit kennerischem Behagen wurde jeder Vers hundertfach durch¬
geknetet und jedes verstohlene Eckchen nach neuen Nuancierungsmöglichkeiten
abgeleuchtet. Was bei Schiller mit patriarchalischer Feierlichkeit tönte und Echo
weckte, wurde stumm und inhaltsleer. Denn man hatte ihm sein bestes Teil
genommen: sein donnerndes Pathos, die zwingende Gewalt seines Kinder¬
glaubens und das unirdisch Große seines lohenden Temperaments.

Wir haben dies verdrießliche Schauspiel zu oft erlebt, um noch an der
melancholischen Tatsache zweifeln zu können, daß Max Reinhardt und das
heroische Drama großen Stils wohl niemals zusammenkommen werden. Es
geht da um Gegensätze in der ästhetischen Weltanschauung, die kein guter Wille
jemals ganz überbrücken wird. Die großen Shakespeareschen Tragödien haben
das, wenn auch nicht in der gleichen schmerzlichen Eindringlichkeit wie der junge
Schiller, mehr als einmal erfahren müssen. Die oft wundervollen Detail-


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

unsern Geschmack auch heute noch die starken Wurzeln seiner Kraft — hier,
und nicht, wie man glauben könnte, in der Wiedergabe eines „Lear", „Hamlet".
„Othello". „Fiesko", „Don Carlos" oder einer „Judith". Denn damit kommen
wir auf die negativen Seiten dieser Begabung, und zwar gleich auf ihren
wichtigsten Punkt: Max Reinhardt hat dem zeitlosen al fre8Lo-Gemälde der
Weltliteratur gegenüber noch jedesmal versagt. Trotz ehrlichsten Ringens,
riesigen Fleißes und aufopferungsvollster Hingabe ist es ihm bis heute
nicht gelungen, die klassische Tragödie größten Stils restlos zu erschöpfen.
Hier gibt er Detail statt Fülle und Größe, Hysterie statt Leidenschaft, Krampf
statt Temperament und Treibhausluft statt Sonnenwärme. Hier liegen augen¬
scheinlich die Grenzen seiner Begabung — vorausgesetzt natürlich, daß dieser
Cagliostro des Theaters nicht doch noch eines Tages das Unmögliche möglich
macht.

Genaue Kenner seiner Begabung hatten dies Schicksal vorausgesagt. Seine
auf koloristische und artistische Wirkungen gestellte Kunst brachte den Glauben
an die Kraft der großen ungebrochenen Linie nicht auf. Das war am auf¬
fallendsten in seinem Verhältnis zu der wie glühende Lava einherströmenden
Pathetik des jungeu Schiller. Der Dichter der „Räuber" und des „Fiesko"
war dem verfeinerten Skeptiker des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr und
nicht weniger als eine liebgewordene Merkwürdigkeit aus Großvaters Tagen,
ein wertvolles Erbstück sozusagen, das man in nachdenklichen Stunden vielleicht
mit stiller Wehmut belächelt, zu dem man aber bei allem redlichen Willen keine
inneren Beziehungen mehr findet. So trat er dann mit ganz anderen Voraus¬
setzungen an seinen Dichter heran als wir, für die er noch heute lebendige
Werte vorstellt, nämlich mit dem fatalen Zungenschnalzen und den: ewigen
Besserwissen des Snobs, dem Schiller gerade gut genug zum Spielball seiner
artistischen Launen ist. Der primitive und fast priesterlich inbrünstige Glaube
des Dichters wurde mit Skepsis durchsetzt. Die Strahlen seiner Rhythmen
wurden künstlich gebrochen und die tosenden Gießbäche seiner Pathetik behutsam
abgeleitet. Mit kennerischem Behagen wurde jeder Vers hundertfach durch¬
geknetet und jedes verstohlene Eckchen nach neuen Nuancierungsmöglichkeiten
abgeleuchtet. Was bei Schiller mit patriarchalischer Feierlichkeit tönte und Echo
weckte, wurde stumm und inhaltsleer. Denn man hatte ihm sein bestes Teil
genommen: sein donnerndes Pathos, die zwingende Gewalt seines Kinder¬
glaubens und das unirdisch Große seines lohenden Temperaments.

Wir haben dies verdrießliche Schauspiel zu oft erlebt, um noch an der
melancholischen Tatsache zweifeln zu können, daß Max Reinhardt und das
heroische Drama großen Stils wohl niemals zusammenkommen werden. Es
geht da um Gegensätze in der ästhetischen Weltanschauung, die kein guter Wille
jemals ganz überbrücken wird. Die großen Shakespeareschen Tragödien haben
das, wenn auch nicht in der gleichen schmerzlichen Eindringlichkeit wie der junge
Schiller, mehr als einmal erfahren müssen. Die oft wundervollen Detail-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/134>, abgerufen am 24.07.2024.