Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches dem an, was man heute "Lustspiel" heißt, talentierte Schauspieler irrlichterieren Diese ganze Entwicklung hat nichts mit ethischen Erwägungen zu tun. Die Ein kleiner, müheloser Gedankenspaziergang hat uns dahin geführt, wo ein Maßgebliches und Unmaßgebliches dem an, was man heute „Lustspiel" heißt, talentierte Schauspieler irrlichterieren Diese ganze Entwicklung hat nichts mit ethischen Erwägungen zu tun. Die Ein kleiner, müheloser Gedankenspaziergang hat uns dahin geführt, wo ein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0600" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317551"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2911" prev="#ID_2910"> dem an, was man heute „Lustspiel" heißt, talentierte Schauspieler irrlichterieren<lb/> zwischen der ernsten Bühne und den Brettern, auf denen man nur „Amüsement",<lb/> nur „Sensation" erheischt, hin und her (Schildkraut) oder erniedrigen den gespielten<lb/> Text zu Scheinwerfern ihres persönlichen Temperaments (Ferdinand Bonn). Die<lb/> lebenden dramatischen Autoren werden fortgerissen in diesem Eisgang aller thea¬<lb/> tralischen Kunstscheidungen und erlahmen nach ein paar schmerzvollen Stößen<lb/> gegen den Strom. Dann suchen auch die Besten ihre Motive (sagt man nicht<lb/> „Tricks"?) nach dein aus, was der Speisezettel der Saison verlangt, gleichgültig,<lb/> welcher Schublade der großen Trödeltruhe ,,Kunst" sie entnommen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2912"> Diese ganze Entwicklung hat nichts mit ethischen Erwägungen zu tun. Die<lb/> Unterhosen- und Dessous-Komödien, die Varietes, die Kientöppe, die Revuen und<lb/> Ausstattungspantomimen — alles das ist schließlich auch geworden und hat sein<lb/> Recht auf Leben. Daß aber das Publikum durch eine gute Aufführung des<lb/> Grillparzerschen Lustspiels „Weh dem, der lügt" sich im Grunde für den kommenden<lb/> Arbeitstag ebenso innerlich „aufgebügelt" fühlt, wie am nächsten Abend durch<lb/> einen Coupletschlager im Metropvltheater — das ist das Beklagenswerte. Damit<lb/> ist jedoch nur der Exponent einer Kulturerscheinung festgestellt, ohne daß wir des<lb/> Übels Wurzel so erkannt hätten, daß wir ihr zu Leibe gehen können.</p><lb/> <p xml:id="ID_2913"> Ein kleiner, müheloser Gedankenspaziergang hat uns dahin geführt, wo ein<lb/> hallendes Echo unserer Zeit: „Die Erziehung zur Kunst" zum sinnlosen Geräusch wird.<lb/> Die Kultur einer Epoche bewegt sich auf der Diagonale zwischen dem Wünschen und<lb/> Können der Allgemeinheit und den Offenbarungen der in dieser Epoche wirkenden<lb/> genialen Einzelpersönlichkeiten. Wenn uns nun eine Kultur-Emanation wie das<lb/> „Theater" im weitesten Sinne der Kulturlosigkeit entgegenzutreiben scheint, so wird<lb/> die Frage, ob die Menge kulturlos sei und daher keinen nährenden Boden sür<lb/> das Talent, das Genie bilde, oder ob die produktiven Künstler selbst die Masse<lb/> der Nur-Aufnehmenden hinabführe statt empor — diese Frage wird nicht ohne<lb/> weiteres zu entscheiden sein. Das aber darf für den nötigen Kampf als erste<lb/> Erkenntnis vorangetragen werden: daß die Menge aus den schmetternden Knltur-<lb/> fcmfaren, die von zahllosen Türmen in sie hineingeblasen werden, das Wichtigste<lb/> noch nicht mit dem Geiste, geschweige mit den Sinnen erfaßt hat: die dem natür¬<lb/> lichen Menschen angeborene Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu<lb/><note type="byline"> Aarlcrnst «nah</note> unterscheiden. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0600]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
dem an, was man heute „Lustspiel" heißt, talentierte Schauspieler irrlichterieren
zwischen der ernsten Bühne und den Brettern, auf denen man nur „Amüsement",
nur „Sensation" erheischt, hin und her (Schildkraut) oder erniedrigen den gespielten
Text zu Scheinwerfern ihres persönlichen Temperaments (Ferdinand Bonn). Die
lebenden dramatischen Autoren werden fortgerissen in diesem Eisgang aller thea¬
tralischen Kunstscheidungen und erlahmen nach ein paar schmerzvollen Stößen
gegen den Strom. Dann suchen auch die Besten ihre Motive (sagt man nicht
„Tricks"?) nach dein aus, was der Speisezettel der Saison verlangt, gleichgültig,
welcher Schublade der großen Trödeltruhe ,,Kunst" sie entnommen werden.
Diese ganze Entwicklung hat nichts mit ethischen Erwägungen zu tun. Die
Unterhosen- und Dessous-Komödien, die Varietes, die Kientöppe, die Revuen und
Ausstattungspantomimen — alles das ist schließlich auch geworden und hat sein
Recht auf Leben. Daß aber das Publikum durch eine gute Aufführung des
Grillparzerschen Lustspiels „Weh dem, der lügt" sich im Grunde für den kommenden
Arbeitstag ebenso innerlich „aufgebügelt" fühlt, wie am nächsten Abend durch
einen Coupletschlager im Metropvltheater — das ist das Beklagenswerte. Damit
ist jedoch nur der Exponent einer Kulturerscheinung festgestellt, ohne daß wir des
Übels Wurzel so erkannt hätten, daß wir ihr zu Leibe gehen können.
Ein kleiner, müheloser Gedankenspaziergang hat uns dahin geführt, wo ein
hallendes Echo unserer Zeit: „Die Erziehung zur Kunst" zum sinnlosen Geräusch wird.
Die Kultur einer Epoche bewegt sich auf der Diagonale zwischen dem Wünschen und
Können der Allgemeinheit und den Offenbarungen der in dieser Epoche wirkenden
genialen Einzelpersönlichkeiten. Wenn uns nun eine Kultur-Emanation wie das
„Theater" im weitesten Sinne der Kulturlosigkeit entgegenzutreiben scheint, so wird
die Frage, ob die Menge kulturlos sei und daher keinen nährenden Boden sür
das Talent, das Genie bilde, oder ob die produktiven Künstler selbst die Masse
der Nur-Aufnehmenden hinabführe statt empor — diese Frage wird nicht ohne
weiteres zu entscheiden sein. Das aber darf für den nötigen Kampf als erste
Erkenntnis vorangetragen werden: daß die Menge aus den schmetternden Knltur-
fcmfaren, die von zahllosen Türmen in sie hineingeblasen werden, das Wichtigste
noch nicht mit dem Geiste, geschweige mit den Sinnen erfaßt hat: die dem natür¬
lichen Menschen angeborene Fähigkeit, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu
Aarlcrnst «nah unterscheiden.
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