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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Während des weiteren Gesprächs äußerte Marja, es wäre dennoch vielleicht
ihre Pflicht, einmal nach Olga zu sehen, denn das arme Mädchen sei, falls er auch
seine Besuche eingestellt habe, mutterseelenallein und laufe Gefahr, vor Einsamkeit
trübsinnig zu werden. Damit habe es keine Not, hatte er geantwortet, denn da
sei ja der Nachbar, der -- er hatte bitter sagen wollen "der Okolitsch", aber er
besann sich. Das heißt, nicht der Nachbar selbst, denn das sei ein völlig ungenießbarer
Einfaltspinsel, sondern seine Mutter, die alte Frau Okolitsch, eine einfache, aber
gute Frau. Mit der habe Olga Andrejewna jetzt Freundschaft geschlossen, und
sie seien so unzertrennlich, daß ein Dritter keinen Platz dabei fände. So, so, hatte Marja
gemeint, dann sei sie allerdings dort überflüssig. Er könne irren, fuhr er fort, aber er
glaube fast, sie hätten sich zusammengetan und führten gemeinschaftliche Wirtschaft.
Sein Ton hatte dabei etwas verächtlich geklungen und eine verwandte Saite in
des reichen Botscharows Tochter berührt. Auch in ihrem Ausdruck ließ sich ähnliches
durchhören, als sie sagte:

"Ja, traurig ist es, aber freilich gesellt sich gleich und gleich am besten."

Mit stolz gehobenem Kopfe und selbstgefälligen Gesichtsausdruck ging er die
Gasse hinunter, als sie an der Haustür klingelte. So, das war in Ordnung
gebracht. Er war doch ein ganz verfluchter Kerl, der Wladimir Jwanowitsch!
Olenka Schejin und die dreiundvierzigtausend hatte er verloren, weil er zu langsam
hinter ihnen her war. Marja Botscharow und ihre vielleicht unzähligen Tausende
sollten ihm nicht entgehen.

Geschniegelt und gebügelt wie frisch aus der Schneiderwerkstatt befand er
sich am folgenden Morgen gegen neun Uhr auf der Straße, um den Augenblick
nicht zu versäumen, in dem Marja das Haus verlassen würde, um einen Spazier¬
gang zu unternehmen.

Da sah er sich plötzlich Ssurikow gegenüber, der in großer Hast herankam
und links auswich, während Wolski auf dieselbe Seite trat, um dem jungen
Menschen Raum zu geben. Ssurikow zog dabei höflich die Mütze.

"Guten Morgen, Herr Polizeimeister!"

"Guten Morgen, Jgnatij Leontjewitschl"

Ssurikow tat schnell einen Schritt rechts, um dort vorbeizukommen, aber
wieder versperrte ihm Wolski in der besten Absicht auch hier den Weg. Beide
lachten.

"So geht es, Wladimir Jwanowitsch. Wenn man sich spület, kommt man
am langsamsten vorwärts." .

"Wohin eilen Sie so?"

"Mein Gott, heute ist ja der Achtundzwanzigste."

"Was für ein wichtiger Tag ist das?"

"Der Achtundzwanzigste! Wladimir Jwanowitsch I Heute ist ja Tit und
Anna. Tit Grigorjewitsch und Anna Dmitrijewna feiern beide ihren Namenstag.
Tit Grigorjewitsch wird gleich aus der Messe kommen, Gäste werden erwartet, und
ich habe noch mancherlei zu besorgen."

Er lief fort.

Wolski pfiff leise durch die Zähne. Darum ging Marja nicht ausi Er
wandte sich, um in die Quergasse zu biegen, und sah Botscharow, Utjanow und
noch ein reichliches Dutzend anderer Kaufleute, welche also in der Kirche gewesen


Im Flecken

Während des weiteren Gesprächs äußerte Marja, es wäre dennoch vielleicht
ihre Pflicht, einmal nach Olga zu sehen, denn das arme Mädchen sei, falls er auch
seine Besuche eingestellt habe, mutterseelenallein und laufe Gefahr, vor Einsamkeit
trübsinnig zu werden. Damit habe es keine Not, hatte er geantwortet, denn da
sei ja der Nachbar, der — er hatte bitter sagen wollen „der Okolitsch", aber er
besann sich. Das heißt, nicht der Nachbar selbst, denn das sei ein völlig ungenießbarer
Einfaltspinsel, sondern seine Mutter, die alte Frau Okolitsch, eine einfache, aber
gute Frau. Mit der habe Olga Andrejewna jetzt Freundschaft geschlossen, und
sie seien so unzertrennlich, daß ein Dritter keinen Platz dabei fände. So, so, hatte Marja
gemeint, dann sei sie allerdings dort überflüssig. Er könne irren, fuhr er fort, aber er
glaube fast, sie hätten sich zusammengetan und führten gemeinschaftliche Wirtschaft.
Sein Ton hatte dabei etwas verächtlich geklungen und eine verwandte Saite in
des reichen Botscharows Tochter berührt. Auch in ihrem Ausdruck ließ sich ähnliches
durchhören, als sie sagte:

„Ja, traurig ist es, aber freilich gesellt sich gleich und gleich am besten."

Mit stolz gehobenem Kopfe und selbstgefälligen Gesichtsausdruck ging er die
Gasse hinunter, als sie an der Haustür klingelte. So, das war in Ordnung
gebracht. Er war doch ein ganz verfluchter Kerl, der Wladimir Jwanowitsch!
Olenka Schejin und die dreiundvierzigtausend hatte er verloren, weil er zu langsam
hinter ihnen her war. Marja Botscharow und ihre vielleicht unzähligen Tausende
sollten ihm nicht entgehen.

Geschniegelt und gebügelt wie frisch aus der Schneiderwerkstatt befand er
sich am folgenden Morgen gegen neun Uhr auf der Straße, um den Augenblick
nicht zu versäumen, in dem Marja das Haus verlassen würde, um einen Spazier¬
gang zu unternehmen.

Da sah er sich plötzlich Ssurikow gegenüber, der in großer Hast herankam
und links auswich, während Wolski auf dieselbe Seite trat, um dem jungen
Menschen Raum zu geben. Ssurikow zog dabei höflich die Mütze.

„Guten Morgen, Herr Polizeimeister!"

„Guten Morgen, Jgnatij Leontjewitschl"

Ssurikow tat schnell einen Schritt rechts, um dort vorbeizukommen, aber
wieder versperrte ihm Wolski in der besten Absicht auch hier den Weg. Beide
lachten.

„So geht es, Wladimir Jwanowitsch. Wenn man sich spület, kommt man
am langsamsten vorwärts." .

„Wohin eilen Sie so?"

„Mein Gott, heute ist ja der Achtundzwanzigste."

„Was für ein wichtiger Tag ist das?"

„Der Achtundzwanzigste! Wladimir Jwanowitsch I Heute ist ja Tit und
Anna. Tit Grigorjewitsch und Anna Dmitrijewna feiern beide ihren Namenstag.
Tit Grigorjewitsch wird gleich aus der Messe kommen, Gäste werden erwartet, und
ich habe noch mancherlei zu besorgen."

Er lief fort.

Wolski pfiff leise durch die Zähne. Darum ging Marja nicht ausi Er
wandte sich, um in die Quergasse zu biegen, und sah Botscharow, Utjanow und
noch ein reichliches Dutzend anderer Kaufleute, welche also in der Kirche gewesen


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[0585] Im Flecken Während des weiteren Gesprächs äußerte Marja, es wäre dennoch vielleicht ihre Pflicht, einmal nach Olga zu sehen, denn das arme Mädchen sei, falls er auch seine Besuche eingestellt habe, mutterseelenallein und laufe Gefahr, vor Einsamkeit trübsinnig zu werden. Damit habe es keine Not, hatte er geantwortet, denn da sei ja der Nachbar, der — er hatte bitter sagen wollen „der Okolitsch", aber er besann sich. Das heißt, nicht der Nachbar selbst, denn das sei ein völlig ungenießbarer Einfaltspinsel, sondern seine Mutter, die alte Frau Okolitsch, eine einfache, aber gute Frau. Mit der habe Olga Andrejewna jetzt Freundschaft geschlossen, und sie seien so unzertrennlich, daß ein Dritter keinen Platz dabei fände. So, so, hatte Marja gemeint, dann sei sie allerdings dort überflüssig. Er könne irren, fuhr er fort, aber er glaube fast, sie hätten sich zusammengetan und führten gemeinschaftliche Wirtschaft. Sein Ton hatte dabei etwas verächtlich geklungen und eine verwandte Saite in des reichen Botscharows Tochter berührt. Auch in ihrem Ausdruck ließ sich ähnliches durchhören, als sie sagte: „Ja, traurig ist es, aber freilich gesellt sich gleich und gleich am besten." Mit stolz gehobenem Kopfe und selbstgefälligen Gesichtsausdruck ging er die Gasse hinunter, als sie an der Haustür klingelte. So, das war in Ordnung gebracht. Er war doch ein ganz verfluchter Kerl, der Wladimir Jwanowitsch! Olenka Schejin und die dreiundvierzigtausend hatte er verloren, weil er zu langsam hinter ihnen her war. Marja Botscharow und ihre vielleicht unzähligen Tausende sollten ihm nicht entgehen. Geschniegelt und gebügelt wie frisch aus der Schneiderwerkstatt befand er sich am folgenden Morgen gegen neun Uhr auf der Straße, um den Augenblick nicht zu versäumen, in dem Marja das Haus verlassen würde, um einen Spazier¬ gang zu unternehmen. Da sah er sich plötzlich Ssurikow gegenüber, der in großer Hast herankam und links auswich, während Wolski auf dieselbe Seite trat, um dem jungen Menschen Raum zu geben. Ssurikow zog dabei höflich die Mütze. „Guten Morgen, Herr Polizeimeister!" „Guten Morgen, Jgnatij Leontjewitschl" Ssurikow tat schnell einen Schritt rechts, um dort vorbeizukommen, aber wieder versperrte ihm Wolski in der besten Absicht auch hier den Weg. Beide lachten. „So geht es, Wladimir Jwanowitsch. Wenn man sich spület, kommt man am langsamsten vorwärts." . „Wohin eilen Sie so?" „Mein Gott, heute ist ja der Achtundzwanzigste." „Was für ein wichtiger Tag ist das?" „Der Achtundzwanzigste! Wladimir Jwanowitsch I Heute ist ja Tit und Anna. Tit Grigorjewitsch und Anna Dmitrijewna feiern beide ihren Namenstag. Tit Grigorjewitsch wird gleich aus der Messe kommen, Gäste werden erwartet, und ich habe noch mancherlei zu besorgen." Er lief fort. Wolski pfiff leise durch die Zähne. Darum ging Marja nicht ausi Er wandte sich, um in die Quergasse zu biegen, und sah Botscharow, Utjanow und noch ein reichliches Dutzend anderer Kaufleute, welche also in der Kirche gewesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/585>, abgerufen am 22.07.2024.