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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

der Wahrheit, so hat der Staat stets die Pflicht, zu diesem stärksten Mittel zu
greifen. Jedenfalls widerspricht es aber dem Zwecke des Strafverfahrens, zwei
Mittel von verschiedener Stärke zur Erzwingung wahrer Aussagen einzuführen:
die Meineidsstrafe als das stärkere, die Strafe der fälschen uneidlichen Aussage
als das schwächere Mittel.

Nun meint freilich der Vorentwurf, daß der Eid, dieses durch Jahrhunderte
überlieferte und in seinem Formalakt auf Gemüt und Gewissen des Aussagenden
einwirkende Mittel, einen wirksameren Antrieb der Wahrheit biete als eine ein¬
fache Wahrheitsversicherung mit anschließender Strafandrohung gegen ihre
Verletzung. Er meint, daß die gerichtliche Praxis jeden: die Erfahrung aufdrängen
müsse, nur der Eid mit der in ihm liegenden Mischung des religiösen mit dem
bürgerlichen Element biete eine hinreichende Gewähr gegen die zahlreichen und
heftigen Antriebe, welche die Aussagenden nicht selten zur Unwahrheit hin¬
drängen, der völlige Wegfall der eidlichen Bestärkung hingegen würde von sehr
nachteiligen Folgen für die Wahrheitsermittelung und damit für die Rechtspflege
und Rechtssicherheit sein.

Diese Beobachtung kann nicht uneingeschränkt bestätigt werden. Wie viele
Verurteilungen wegen Meineids finden gerade unter den Angehörigen des platten
Landes statt, bei welchen das, was man äußerlich als Frömmigkeit erkennt,
doch noch am stärksten zu Hause sein soll. Wie häufig sind gerade Frömmigkeit
und Aberglauben unlöslich verknüpft, und letzterer bietet sogar den Bevölkerungs¬
klassen niederer Kulturstufe ein Mittel, von dem sie glauben, daß es die über¬
irdische Strafe des Meineids von ihnen abwenden könne. Wenn solche
Schwurpflichtigeu die rechte Hand zum Eide erheben, so wird jeder erfahrene
Richter sorgfältig erstens auf die Haltung dieser Hand und zweitens darauf
achten, was sie inzwischen mit der linken Hand anfangen. Halten sie nämlich
den Rücken der rechten Hand nach außen oder die linke Hand in Schwurform
uach unten, so glauben sie dadurch die Folgen des Eides von sich abzuwenden
oder den Meineid als unschädlich in die Erde ableiten zu können. Ich selbst
habe es einmal erlebt, daß eine zum Eide entschlossene Partei eines Zivil¬
prozesses, die die Schwurhand schon erhoben hatte, plötzlich den Eid verweigerte,
als ich sie zwang, die bis dahin nach unten in ableitender Form gehaltene linke
Hand auf die Brüstung der Gerichtsbarre zu legen. Es gibt eben noch heute
weite Kreise eines solchen kulturellen Tiefstandes und einer solchen geistigen
Naivität, daß sie glauben, überirdische Mächte wie irdische täuschen zu können,
und nach gelungener Täuschung sich in ihrem Gewissen völlig beruhigt fühlen.
Wie wenig dagegen auch die feierlichsten Eidesformalitäten schützen, dafür
berichtet ein klassisches Beispiel Gregor von Tours, der Geschichtsschreiber der
Merowinger. Nachdem König Chilperich von Neustrien verschiedene eidlich
beschworene Verträge gebrochen hatte, kamen einige seiner Gegner abermals in
die Lage, mit ihm paktieren zu müssen. Um nun sicher zu sein, daß Chilperich
den zu schließenden Frieden nicht wiederum bräche, bedangen sich die Gegner


Kritische Aufsätze

der Wahrheit, so hat der Staat stets die Pflicht, zu diesem stärksten Mittel zu
greifen. Jedenfalls widerspricht es aber dem Zwecke des Strafverfahrens, zwei
Mittel von verschiedener Stärke zur Erzwingung wahrer Aussagen einzuführen:
die Meineidsstrafe als das stärkere, die Strafe der fälschen uneidlichen Aussage
als das schwächere Mittel.

Nun meint freilich der Vorentwurf, daß der Eid, dieses durch Jahrhunderte
überlieferte und in seinem Formalakt auf Gemüt und Gewissen des Aussagenden
einwirkende Mittel, einen wirksameren Antrieb der Wahrheit biete als eine ein¬
fache Wahrheitsversicherung mit anschließender Strafandrohung gegen ihre
Verletzung. Er meint, daß die gerichtliche Praxis jeden: die Erfahrung aufdrängen
müsse, nur der Eid mit der in ihm liegenden Mischung des religiösen mit dem
bürgerlichen Element biete eine hinreichende Gewähr gegen die zahlreichen und
heftigen Antriebe, welche die Aussagenden nicht selten zur Unwahrheit hin¬
drängen, der völlige Wegfall der eidlichen Bestärkung hingegen würde von sehr
nachteiligen Folgen für die Wahrheitsermittelung und damit für die Rechtspflege
und Rechtssicherheit sein.

Diese Beobachtung kann nicht uneingeschränkt bestätigt werden. Wie viele
Verurteilungen wegen Meineids finden gerade unter den Angehörigen des platten
Landes statt, bei welchen das, was man äußerlich als Frömmigkeit erkennt,
doch noch am stärksten zu Hause sein soll. Wie häufig sind gerade Frömmigkeit
und Aberglauben unlöslich verknüpft, und letzterer bietet sogar den Bevölkerungs¬
klassen niederer Kulturstufe ein Mittel, von dem sie glauben, daß es die über¬
irdische Strafe des Meineids von ihnen abwenden könne. Wenn solche
Schwurpflichtigeu die rechte Hand zum Eide erheben, so wird jeder erfahrene
Richter sorgfältig erstens auf die Haltung dieser Hand und zweitens darauf
achten, was sie inzwischen mit der linken Hand anfangen. Halten sie nämlich
den Rücken der rechten Hand nach außen oder die linke Hand in Schwurform
uach unten, so glauben sie dadurch die Folgen des Eides von sich abzuwenden
oder den Meineid als unschädlich in die Erde ableiten zu können. Ich selbst
habe es einmal erlebt, daß eine zum Eide entschlossene Partei eines Zivil¬
prozesses, die die Schwurhand schon erhoben hatte, plötzlich den Eid verweigerte,
als ich sie zwang, die bis dahin nach unten in ableitender Form gehaltene linke
Hand auf die Brüstung der Gerichtsbarre zu legen. Es gibt eben noch heute
weite Kreise eines solchen kulturellen Tiefstandes und einer solchen geistigen
Naivität, daß sie glauben, überirdische Mächte wie irdische täuschen zu können,
und nach gelungener Täuschung sich in ihrem Gewissen völlig beruhigt fühlen.
Wie wenig dagegen auch die feierlichsten Eidesformalitäten schützen, dafür
berichtet ein klassisches Beispiel Gregor von Tours, der Geschichtsschreiber der
Merowinger. Nachdem König Chilperich von Neustrien verschiedene eidlich
beschworene Verträge gebrochen hatte, kamen einige seiner Gegner abermals in
die Lage, mit ihm paktieren zu müssen. Um nun sicher zu sein, daß Chilperich
den zu schließenden Frieden nicht wiederum bräche, bedangen sich die Gegner


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[0482] Kritische Aufsätze der Wahrheit, so hat der Staat stets die Pflicht, zu diesem stärksten Mittel zu greifen. Jedenfalls widerspricht es aber dem Zwecke des Strafverfahrens, zwei Mittel von verschiedener Stärke zur Erzwingung wahrer Aussagen einzuführen: die Meineidsstrafe als das stärkere, die Strafe der fälschen uneidlichen Aussage als das schwächere Mittel. Nun meint freilich der Vorentwurf, daß der Eid, dieses durch Jahrhunderte überlieferte und in seinem Formalakt auf Gemüt und Gewissen des Aussagenden einwirkende Mittel, einen wirksameren Antrieb der Wahrheit biete als eine ein¬ fache Wahrheitsversicherung mit anschließender Strafandrohung gegen ihre Verletzung. Er meint, daß die gerichtliche Praxis jeden: die Erfahrung aufdrängen müsse, nur der Eid mit der in ihm liegenden Mischung des religiösen mit dem bürgerlichen Element biete eine hinreichende Gewähr gegen die zahlreichen und heftigen Antriebe, welche die Aussagenden nicht selten zur Unwahrheit hin¬ drängen, der völlige Wegfall der eidlichen Bestärkung hingegen würde von sehr nachteiligen Folgen für die Wahrheitsermittelung und damit für die Rechtspflege und Rechtssicherheit sein. Diese Beobachtung kann nicht uneingeschränkt bestätigt werden. Wie viele Verurteilungen wegen Meineids finden gerade unter den Angehörigen des platten Landes statt, bei welchen das, was man äußerlich als Frömmigkeit erkennt, doch noch am stärksten zu Hause sein soll. Wie häufig sind gerade Frömmigkeit und Aberglauben unlöslich verknüpft, und letzterer bietet sogar den Bevölkerungs¬ klassen niederer Kulturstufe ein Mittel, von dem sie glauben, daß es die über¬ irdische Strafe des Meineids von ihnen abwenden könne. Wenn solche Schwurpflichtigeu die rechte Hand zum Eide erheben, so wird jeder erfahrene Richter sorgfältig erstens auf die Haltung dieser Hand und zweitens darauf achten, was sie inzwischen mit der linken Hand anfangen. Halten sie nämlich den Rücken der rechten Hand nach außen oder die linke Hand in Schwurform uach unten, so glauben sie dadurch die Folgen des Eides von sich abzuwenden oder den Meineid als unschädlich in die Erde ableiten zu können. Ich selbst habe es einmal erlebt, daß eine zum Eide entschlossene Partei eines Zivil¬ prozesses, die die Schwurhand schon erhoben hatte, plötzlich den Eid verweigerte, als ich sie zwang, die bis dahin nach unten in ableitender Form gehaltene linke Hand auf die Brüstung der Gerichtsbarre zu legen. Es gibt eben noch heute weite Kreise eines solchen kulturellen Tiefstandes und einer solchen geistigen Naivität, daß sie glauben, überirdische Mächte wie irdische täuschen zu können, und nach gelungener Täuschung sich in ihrem Gewissen völlig beruhigt fühlen. Wie wenig dagegen auch die feierlichsten Eidesformalitäten schützen, dafür berichtet ein klassisches Beispiel Gregor von Tours, der Geschichtsschreiber der Merowinger. Nachdem König Chilperich von Neustrien verschiedene eidlich beschworene Verträge gebrochen hatte, kamen einige seiner Gegner abermals in die Lage, mit ihm paktieren zu müssen. Um nun sicher zu sein, daß Chilperich den zu schließenden Frieden nicht wiederum bräche, bedangen sich die Gegner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/482>, abgerufen am 23.07.2024.