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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets

Ein Zufall fügte es, daß Müssets Theaterstücke, die in der "Ksvus 6e8
äeux Nonäss" schlummerten, den Weg auf die Bühne fanden. Die aus¬
gezeichnete Pariser Schauspielerin Frau Allan Desproaux, die im Jahre 1847
von Petersburg kam, hatte dort den großen Erfolg des Lustspiels "l^s Laprice"
von Musset miterlebt, und sie setzte es durch, daß das Stück am "l'tiLatrö kranLai8"
gegeben wurde. Es fand lebhaften Beifall. Nun gingen der Reihe nach fast
sämtliche Stücke Müssets über die Bretter, und sie gehören auch heute noch
zum Spielplan der großen französischen Theater.

Müssets poetische Begabung tritt auch in den erzählenden Dichtungen
hervor, die er in seiner zweiten Schaffensperiode veröffentlichte. Er schrieb
einen Roman "I.a Lor5es8ion ä'un erkant an siöcle", eine Lebensbeichte,
in der er insbesondere die Geschichte seiner Liebe zu G. Sand erzählt. Er gibt
in diesem Buche Wahrheit unter dem Schleier der Dichtung und hat sich selbst
keineswegs geschont. Der Wert des Romans wird durch gewisse Mängel der
Koniposition, die man ihm zum Vorwurf macht, kaum beeinträchtigt. Die
Komposition ist überhaupt nicht Müssets starke Seite. Er überließ sich lieber
dem Fluge seiner Gedanken, als daß er sich mit der Ausarbeitung von Plänen
und Entwürfen geplagt hätte. Es zog ihn deshalb auch mehr zum Lustspiel
und zur Novelle als zum großen Drama und Roman. Seine ,,^ouvellö3"
und "LontsZ" sind zum Teil allerliebst; unter jenen möchte ich ,>I^s i^ils an
l'nisu" hervorheben, von den Cortes ist "I^'liiZtoirs et'un nero Klane", die
Geschichte einer weißen Amsel, eine literarische Satire im Gewand einer Tier¬
fabel, am bekanntesten geworden.

In Musset steckte wie in Heinrich Heine außer dein Poeten auch ein
Satiriker und ein Kritiker. Seine satirische Begabung hat er in mehreren
seiner Gedichte und in den Briefen von Dupuis und Colonel glänzend dar¬
getan. Als Kritiker von feinem Kunsturteil erwies er sich in seinen Aufsätzen
über Literatur, Theater, Konzerte, Gemäldeausstellungen. Musset hatte namentlich
sehr viel Sinn und Verständnis für Musik; sie war ihm nicht nur Ohrenschmaus,
sondern Herzenssache; sie sprach zu seinem innersten Gemüte. Bezeichnend für
ihn ist es, daß er gerade die ernste, klassische Musik, auch die alte Kirchenmusik,
hochschätzte.

Wie oben erwähnt, hat die deutsche Literatur vielfach anregend auf Alfred
de Musset gewirkt. Die französischen Romantiker begeisterten sich für die großen
deutschen und englischen Dichter, bei denen sie ihre poetischen Ideale verwirklicht
fanden. So schreibt der siebzehnjährige Musset an einen Freund: ,,^s us on>uärai3
pa8 Lcrire c"u ^ v"uärai8 vere LtmkWpeare on ZeKiller". Von seiner eifrigen
Beschäftigung mit den großen Geistern unserer Literatur geben seine Werke an
vielen Stellen Zeugnis. Goethe ist für ihn le Arara, le noble Qoetne;
Fausts Gretchen ist eine Lieblingsgestalt für ihn geworden; eine Nachbildung
des Gretchenbildes von Arv Scheffer hing in seinem Schlafzimmer, und oft
ruhten seine Blicke auf dein rührenden Mädchenantlitz. Aus Verehrung für


Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets

Ein Zufall fügte es, daß Müssets Theaterstücke, die in der „Ksvus 6e8
äeux Nonäss" schlummerten, den Weg auf die Bühne fanden. Die aus¬
gezeichnete Pariser Schauspielerin Frau Allan Desproaux, die im Jahre 1847
von Petersburg kam, hatte dort den großen Erfolg des Lustspiels „l^s Laprice"
von Musset miterlebt, und sie setzte es durch, daß das Stück am „l'tiLatrö kranLai8"
gegeben wurde. Es fand lebhaften Beifall. Nun gingen der Reihe nach fast
sämtliche Stücke Müssets über die Bretter, und sie gehören auch heute noch
zum Spielplan der großen französischen Theater.

Müssets poetische Begabung tritt auch in den erzählenden Dichtungen
hervor, die er in seiner zweiten Schaffensperiode veröffentlichte. Er schrieb
einen Roman „I.a Lor5es8ion ä'un erkant an siöcle", eine Lebensbeichte,
in der er insbesondere die Geschichte seiner Liebe zu G. Sand erzählt. Er gibt
in diesem Buche Wahrheit unter dem Schleier der Dichtung und hat sich selbst
keineswegs geschont. Der Wert des Romans wird durch gewisse Mängel der
Koniposition, die man ihm zum Vorwurf macht, kaum beeinträchtigt. Die
Komposition ist überhaupt nicht Müssets starke Seite. Er überließ sich lieber
dem Fluge seiner Gedanken, als daß er sich mit der Ausarbeitung von Plänen
und Entwürfen geplagt hätte. Es zog ihn deshalb auch mehr zum Lustspiel
und zur Novelle als zum großen Drama und Roman. Seine ,,^ouvellö3"
und „LontsZ" sind zum Teil allerliebst; unter jenen möchte ich ,>I^s i^ils an
l'nisu" hervorheben, von den Cortes ist „I^'liiZtoirs et'un nero Klane", die
Geschichte einer weißen Amsel, eine literarische Satire im Gewand einer Tier¬
fabel, am bekanntesten geworden.

In Musset steckte wie in Heinrich Heine außer dein Poeten auch ein
Satiriker und ein Kritiker. Seine satirische Begabung hat er in mehreren
seiner Gedichte und in den Briefen von Dupuis und Colonel glänzend dar¬
getan. Als Kritiker von feinem Kunsturteil erwies er sich in seinen Aufsätzen
über Literatur, Theater, Konzerte, Gemäldeausstellungen. Musset hatte namentlich
sehr viel Sinn und Verständnis für Musik; sie war ihm nicht nur Ohrenschmaus,
sondern Herzenssache; sie sprach zu seinem innersten Gemüte. Bezeichnend für
ihn ist es, daß er gerade die ernste, klassische Musik, auch die alte Kirchenmusik,
hochschätzte.

Wie oben erwähnt, hat die deutsche Literatur vielfach anregend auf Alfred
de Musset gewirkt. Die französischen Romantiker begeisterten sich für die großen
deutschen und englischen Dichter, bei denen sie ihre poetischen Ideale verwirklicht
fanden. So schreibt der siebzehnjährige Musset an einen Freund: ,,^s us on>uärai3
pa8 Lcrire c»u ^ v»uärai8 vere LtmkWpeare on ZeKiller". Von seiner eifrigen
Beschäftigung mit den großen Geistern unserer Literatur geben seine Werke an
vielen Stellen Zeugnis. Goethe ist für ihn le Arara, le noble Qoetne;
Fausts Gretchen ist eine Lieblingsgestalt für ihn geworden; eine Nachbildung
des Gretchenbildes von Arv Scheffer hing in seinem Schlafzimmer, und oft
ruhten seine Blicke auf dein rührenden Mädchenantlitz. Aus Verehrung für


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[0472] Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets Ein Zufall fügte es, daß Müssets Theaterstücke, die in der „Ksvus 6e8 äeux Nonäss" schlummerten, den Weg auf die Bühne fanden. Die aus¬ gezeichnete Pariser Schauspielerin Frau Allan Desproaux, die im Jahre 1847 von Petersburg kam, hatte dort den großen Erfolg des Lustspiels „l^s Laprice" von Musset miterlebt, und sie setzte es durch, daß das Stück am „l'tiLatrö kranLai8" gegeben wurde. Es fand lebhaften Beifall. Nun gingen der Reihe nach fast sämtliche Stücke Müssets über die Bretter, und sie gehören auch heute noch zum Spielplan der großen französischen Theater. Müssets poetische Begabung tritt auch in den erzählenden Dichtungen hervor, die er in seiner zweiten Schaffensperiode veröffentlichte. Er schrieb einen Roman „I.a Lor5es8ion ä'un erkant an siöcle", eine Lebensbeichte, in der er insbesondere die Geschichte seiner Liebe zu G. Sand erzählt. Er gibt in diesem Buche Wahrheit unter dem Schleier der Dichtung und hat sich selbst keineswegs geschont. Der Wert des Romans wird durch gewisse Mängel der Koniposition, die man ihm zum Vorwurf macht, kaum beeinträchtigt. Die Komposition ist überhaupt nicht Müssets starke Seite. Er überließ sich lieber dem Fluge seiner Gedanken, als daß er sich mit der Ausarbeitung von Plänen und Entwürfen geplagt hätte. Es zog ihn deshalb auch mehr zum Lustspiel und zur Novelle als zum großen Drama und Roman. Seine ,,^ouvellö3" und „LontsZ" sind zum Teil allerliebst; unter jenen möchte ich ,>I^s i^ils an l'nisu" hervorheben, von den Cortes ist „I^'liiZtoirs et'un nero Klane", die Geschichte einer weißen Amsel, eine literarische Satire im Gewand einer Tier¬ fabel, am bekanntesten geworden. In Musset steckte wie in Heinrich Heine außer dein Poeten auch ein Satiriker und ein Kritiker. Seine satirische Begabung hat er in mehreren seiner Gedichte und in den Briefen von Dupuis und Colonel glänzend dar¬ getan. Als Kritiker von feinem Kunsturteil erwies er sich in seinen Aufsätzen über Literatur, Theater, Konzerte, Gemäldeausstellungen. Musset hatte namentlich sehr viel Sinn und Verständnis für Musik; sie war ihm nicht nur Ohrenschmaus, sondern Herzenssache; sie sprach zu seinem innersten Gemüte. Bezeichnend für ihn ist es, daß er gerade die ernste, klassische Musik, auch die alte Kirchenmusik, hochschätzte. Wie oben erwähnt, hat die deutsche Literatur vielfach anregend auf Alfred de Musset gewirkt. Die französischen Romantiker begeisterten sich für die großen deutschen und englischen Dichter, bei denen sie ihre poetischen Ideale verwirklicht fanden. So schreibt der siebzehnjährige Musset an einen Freund: ,,^s us on>uärai3 pa8 Lcrire c»u ^ v»uärai8 vere LtmkWpeare on ZeKiller". Von seiner eifrigen Beschäftigung mit den großen Geistern unserer Literatur geben seine Werke an vielen Stellen Zeugnis. Goethe ist für ihn le Arara, le noble Qoetne; Fausts Gretchen ist eine Lieblingsgestalt für ihn geworden; eine Nachbildung des Gretchenbildes von Arv Scheffer hing in seinem Schlafzimmer, und oft ruhten seine Blicke auf dein rührenden Mädchenantlitz. Aus Verehrung für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/472>, abgerufen am 22.07.2024.