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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Grganisation des Roichsvcrsicherungswcsens

Beamten in unserem Vaterlande steigt, verhältnismäßig schneller als die Be¬
völkerung. Man fragt sich, wohin das noch führen soll. Man beklagt, daß
durch die Vermehrung der abhängigen Existenzen gewisse nur im freien Mann
voll zur Entwickelung kommende gute Eigenschaften, wie Selbständigkeit der
Entschließung, des Urteils, im Volke mehr und mehr ertötet werden. Darum
will man die Zahl der Beamten lieber vermindern, als sie vermehren. Auch
dem Steuerzahler, aus dessen Säckel alle Beamten doch schließlich leben, soll
dadurch geholfen werden. In erster Linie zieht man zu Felde gegen die teuren
höheren Beamten. Einen Teil ihrer Arbeit will man den mittleren Beamten
übertragen, die wieder einen Teil ihrer bisherigen Aufgaben den Unterbeamten
überlassen sollen. Die Unterbeamten sollen wo möglich durch Maschinen und
Arbeiter ersetzt werden. Unter solchen Umständen kann man mit der Schaffung
einer großen Zahl neuer Beamtenstellen sich natürlich nicht einverstanden
erklären.

Neben diesen nüchternen sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen sind es
aber offenbar -- und zwar vielleicht noch in höherem Maße als jene -- gewisse
Imponderabilien, welche eine so starke Stimmung gegen die neuen Versicherungs¬
ämter erzeugt haben. Das deutsche Volk hat genug Bureaukraten, sagt man,
d. h. Beamte, die sich dem Publikum gegenüber als Herrschende fühlen und
dabei dem praktischen Leben fremd gegenüberstehen. Nicht eigentlich gegen das
dein modernen Staat unbedingt notwendige Beamtentum an sich richtet sich die
Mißstimmung, sondern gegen diesen Bureaukratismus oder Assessorismus,
worunter man alle schlechten Eigenschaften des meist einseitig formalistisch vor¬
gebildeten Verwaltungsjuristen zusammenzufassen pflegt. Der moderne Staats¬
bürger verlangt Beamte, die sich fühlen nicht nur als Diener des Monarchen,
sondern als Diener des ganzen Volkes. Da von solchen: Geist bei den Staats¬
verwaltungsjuristen noch am wenigsten zu spüren ist, will man in weiten Kreisen
ihnen weder Einfluß noch Stellen vermehren; daher die Abneigung gegen die
neuen Versicherungsämter, die ganz oder zum überwiegenden Teil den Juristen
anheimfallen würden.

Diesen unzweifelhaft vorhandenen Strömungen, welche ihren prägnantesten
Ausdruck finden in dem Schlagwort "Keine neue Bureaukratie", das in den
Beschlüssen von Vereinen und Korporationen zur neuen Reichsversichernngs-
ordnnng häufig wiederkehrt, wird man Rechnung tragen müssen. Es fragt sich,
ob die mit der Neuorganisation verfolgten Zwecke sich nicht auch noch auf audere
Weise und in mancher Beziehung besser erreichen lassen.

Das Deutsche Reich nimmt seine Verwaltungsgeschäfte jetzt nur zum kleineren
Teil selbst wahr, d. h. durch eigene Beamten und Behörden; zum großen Teil
hat es die ihm zugewiesenen Angelegenheiten, insbesondere die Verrichtungen
der unteren Instanzen, den Landesbehörden belassen, z. B. die Erhebung der
Zölle und indirekten Reichssteuern (vgl. Huc de Grals' bekanntes Handbuch Z 18).
Über das ganze Reichsgebiet (allerdings mit Ausnahme von Bayern und Württem-


Die Grganisation des Roichsvcrsicherungswcsens

Beamten in unserem Vaterlande steigt, verhältnismäßig schneller als die Be¬
völkerung. Man fragt sich, wohin das noch führen soll. Man beklagt, daß
durch die Vermehrung der abhängigen Existenzen gewisse nur im freien Mann
voll zur Entwickelung kommende gute Eigenschaften, wie Selbständigkeit der
Entschließung, des Urteils, im Volke mehr und mehr ertötet werden. Darum
will man die Zahl der Beamten lieber vermindern, als sie vermehren. Auch
dem Steuerzahler, aus dessen Säckel alle Beamten doch schließlich leben, soll
dadurch geholfen werden. In erster Linie zieht man zu Felde gegen die teuren
höheren Beamten. Einen Teil ihrer Arbeit will man den mittleren Beamten
übertragen, die wieder einen Teil ihrer bisherigen Aufgaben den Unterbeamten
überlassen sollen. Die Unterbeamten sollen wo möglich durch Maschinen und
Arbeiter ersetzt werden. Unter solchen Umständen kann man mit der Schaffung
einer großen Zahl neuer Beamtenstellen sich natürlich nicht einverstanden
erklären.

Neben diesen nüchternen sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen sind es
aber offenbar — und zwar vielleicht noch in höherem Maße als jene — gewisse
Imponderabilien, welche eine so starke Stimmung gegen die neuen Versicherungs¬
ämter erzeugt haben. Das deutsche Volk hat genug Bureaukraten, sagt man,
d. h. Beamte, die sich dem Publikum gegenüber als Herrschende fühlen und
dabei dem praktischen Leben fremd gegenüberstehen. Nicht eigentlich gegen das
dein modernen Staat unbedingt notwendige Beamtentum an sich richtet sich die
Mißstimmung, sondern gegen diesen Bureaukratismus oder Assessorismus,
worunter man alle schlechten Eigenschaften des meist einseitig formalistisch vor¬
gebildeten Verwaltungsjuristen zusammenzufassen pflegt. Der moderne Staats¬
bürger verlangt Beamte, die sich fühlen nicht nur als Diener des Monarchen,
sondern als Diener des ganzen Volkes. Da von solchen: Geist bei den Staats¬
verwaltungsjuristen noch am wenigsten zu spüren ist, will man in weiten Kreisen
ihnen weder Einfluß noch Stellen vermehren; daher die Abneigung gegen die
neuen Versicherungsämter, die ganz oder zum überwiegenden Teil den Juristen
anheimfallen würden.

Diesen unzweifelhaft vorhandenen Strömungen, welche ihren prägnantesten
Ausdruck finden in dem Schlagwort „Keine neue Bureaukratie", das in den
Beschlüssen von Vereinen und Korporationen zur neuen Reichsversichernngs-
ordnnng häufig wiederkehrt, wird man Rechnung tragen müssen. Es fragt sich,
ob die mit der Neuorganisation verfolgten Zwecke sich nicht auch noch auf audere
Weise und in mancher Beziehung besser erreichen lassen.

Das Deutsche Reich nimmt seine Verwaltungsgeschäfte jetzt nur zum kleineren
Teil selbst wahr, d. h. durch eigene Beamten und Behörden; zum großen Teil
hat es die ihm zugewiesenen Angelegenheiten, insbesondere die Verrichtungen
der unteren Instanzen, den Landesbehörden belassen, z. B. die Erhebung der
Zölle und indirekten Reichssteuern (vgl. Huc de Grals' bekanntes Handbuch Z 18).
Über das ganze Reichsgebiet (allerdings mit Ausnahme von Bayern und Württem-


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[0430] Die Grganisation des Roichsvcrsicherungswcsens Beamten in unserem Vaterlande steigt, verhältnismäßig schneller als die Be¬ völkerung. Man fragt sich, wohin das noch führen soll. Man beklagt, daß durch die Vermehrung der abhängigen Existenzen gewisse nur im freien Mann voll zur Entwickelung kommende gute Eigenschaften, wie Selbständigkeit der Entschließung, des Urteils, im Volke mehr und mehr ertötet werden. Darum will man die Zahl der Beamten lieber vermindern, als sie vermehren. Auch dem Steuerzahler, aus dessen Säckel alle Beamten doch schließlich leben, soll dadurch geholfen werden. In erster Linie zieht man zu Felde gegen die teuren höheren Beamten. Einen Teil ihrer Arbeit will man den mittleren Beamten übertragen, die wieder einen Teil ihrer bisherigen Aufgaben den Unterbeamten überlassen sollen. Die Unterbeamten sollen wo möglich durch Maschinen und Arbeiter ersetzt werden. Unter solchen Umständen kann man mit der Schaffung einer großen Zahl neuer Beamtenstellen sich natürlich nicht einverstanden erklären. Neben diesen nüchternen sozialen und wirtschaftlichen Erwägungen sind es aber offenbar — und zwar vielleicht noch in höherem Maße als jene — gewisse Imponderabilien, welche eine so starke Stimmung gegen die neuen Versicherungs¬ ämter erzeugt haben. Das deutsche Volk hat genug Bureaukraten, sagt man, d. h. Beamte, die sich dem Publikum gegenüber als Herrschende fühlen und dabei dem praktischen Leben fremd gegenüberstehen. Nicht eigentlich gegen das dein modernen Staat unbedingt notwendige Beamtentum an sich richtet sich die Mißstimmung, sondern gegen diesen Bureaukratismus oder Assessorismus, worunter man alle schlechten Eigenschaften des meist einseitig formalistisch vor¬ gebildeten Verwaltungsjuristen zusammenzufassen pflegt. Der moderne Staats¬ bürger verlangt Beamte, die sich fühlen nicht nur als Diener des Monarchen, sondern als Diener des ganzen Volkes. Da von solchen: Geist bei den Staats¬ verwaltungsjuristen noch am wenigsten zu spüren ist, will man in weiten Kreisen ihnen weder Einfluß noch Stellen vermehren; daher die Abneigung gegen die neuen Versicherungsämter, die ganz oder zum überwiegenden Teil den Juristen anheimfallen würden. Diesen unzweifelhaft vorhandenen Strömungen, welche ihren prägnantesten Ausdruck finden in dem Schlagwort „Keine neue Bureaukratie", das in den Beschlüssen von Vereinen und Korporationen zur neuen Reichsversichernngs- ordnnng häufig wiederkehrt, wird man Rechnung tragen müssen. Es fragt sich, ob die mit der Neuorganisation verfolgten Zwecke sich nicht auch noch auf audere Weise und in mancher Beziehung besser erreichen lassen. Das Deutsche Reich nimmt seine Verwaltungsgeschäfte jetzt nur zum kleineren Teil selbst wahr, d. h. durch eigene Beamten und Behörden; zum großen Teil hat es die ihm zugewiesenen Angelegenheiten, insbesondere die Verrichtungen der unteren Instanzen, den Landesbehörden belassen, z. B. die Erhebung der Zölle und indirekten Reichssteuern (vgl. Huc de Grals' bekanntes Handbuch Z 18). Über das ganze Reichsgebiet (allerdings mit Ausnahme von Bayern und Württem-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/430>, abgerufen am 22.07.2024.