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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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ivilbi:im Rande und Berlin

Treffsicherer Mutterwitz und schlagfertige Zungengewandtheit, die breitspurige
Wunderlichkeit einer unverdrossenen Herzensgüte, die Belebung auch des platt
Alltäglichen durch das immer bewegliche Hin- und Herwerden im eigenen Wort
und die frohgemute Überlegenheit einer allezeit ihrer selbst behaglich-sicheren
Laune: aus alledem erwächst ein Menschenwesen, das mit Liebe umfaßt und
mit Humor geadelt ist, wahrlich würdig der tapferen Lebensgemeinschaft mit
der gelehrtesten Berlinerin, der "Tochter des weiland verstaubtesten Hegelianers
der Friedrich - Wilhelms - Universität".

Die Einwohner der Haupt- und Residenzstadt gehen heute in die dritte
Million, Wie viele darunter kennen diese liebenswürdigste Glorifikation ihres
Fleisches und Blutes? Auf dein Titelbild der Villa Schoenow steht jedenfalls
noch immer: Zweite Auflage, Berlin 1903. Und Wilhelm Raabe hat es nie
nötig gehabt, auf das Andrängen seines Publikums die Familie Schoenow etwa
noch nach Italien zu geleiten. "Det is nu Berlin -- Jott bessere es und uns!"

Merkwürdig, Raabe findet sich in seinen späteren Büchern wieder und wieder
nach Berlin zurück. Freilich, das heitere Behagen am sonderlichen Wuchs des
Eingeborenen hat er sich nun ein für allemal von der Seele geschrieben, und
er geht nun an der gleichen Stätte nur noch schwer-ernste Wege, mit einem
festen, entschlossenen Schritt, ohne viel Verweilen und ohne alles gemächliche
Abschweifen. So wächst ihm denn aus dem Leben der großen Stadt die
Geschichte "Im alten Eisen" entgegen, und er erzählt, wie sich inmitten der
Millionen ein seltsames Geschick von Verlassenheit erfüllt und wie ein kleines
Häuflein gestrandeter, verirrter, heimatloser Lebenspilger sich auf vielverschlungenen
Wegen zusammenfindet, daß sie doch um ein kahles Armengrab eine feste Kette
schließen und einander zu Trost und Hilfe die Hände reichen können. Das
alles begibt sich vor dem Hintergrunde der ungeheuren Stadt, und er ist durch
alles hin beständig zu fühlen. "Dieser rote Streifen am Westhimmel, und
unter ihm und in ihn hineinragend die schwarzen Schattenrisse von bewohnten
und im Bau begriffenen Häusern, Baugerüsten, Fäbrikschornsteinen und hohen
Pappelbäumen! Kein heiterer blauer, kein Negenhimmel übt solche geheimnisvolle,
bald bängliche, bald beruhigende Wirkung, solche Magie auf das Menschen¬
gemüt aus, wie dieser blutfarbene Strich, wenn es Abend werden will, nach
einem umuhvollen, stürmischen, oder auch -- in stumpfer Langeweile vergangenen
Tage." Sparsam sind die Züge angedeutet und fügen sich doch zusammen zu
einem geheimnisvoll eindringlichen Bilde der Weltstadt, der Zufluchtsstätte für
tausendfach Entwurzelte, Gescheiterte, Obdachlose. Auch der Gestalten, die hier
Erinnerung und Schicksal eint, sind es nur wenige, aber gerade dadurch gewinnt
ihr Erleben an gedrängter Schwere, an bewegendem Ernst. Und so wunderlich
sie sich zueinander fügen, der verwitterte und vom Leben gezeichnete Schmied
von Jüterbog und die Allerivelts-Theatermutter aus dem Alteisenkeller, die
beiden hilflos verwaisten Kinder an der Mutter armseligen; Totenlager und
das zerzauste, gescheuchte Nachtfalterchen -- ihres Lebens besondere Klänge


ivilbi:im Rande und Berlin

Treffsicherer Mutterwitz und schlagfertige Zungengewandtheit, die breitspurige
Wunderlichkeit einer unverdrossenen Herzensgüte, die Belebung auch des platt
Alltäglichen durch das immer bewegliche Hin- und Herwerden im eigenen Wort
und die frohgemute Überlegenheit einer allezeit ihrer selbst behaglich-sicheren
Laune: aus alledem erwächst ein Menschenwesen, das mit Liebe umfaßt und
mit Humor geadelt ist, wahrlich würdig der tapferen Lebensgemeinschaft mit
der gelehrtesten Berlinerin, der „Tochter des weiland verstaubtesten Hegelianers
der Friedrich - Wilhelms - Universität".

Die Einwohner der Haupt- und Residenzstadt gehen heute in die dritte
Million, Wie viele darunter kennen diese liebenswürdigste Glorifikation ihres
Fleisches und Blutes? Auf dein Titelbild der Villa Schoenow steht jedenfalls
noch immer: Zweite Auflage, Berlin 1903. Und Wilhelm Raabe hat es nie
nötig gehabt, auf das Andrängen seines Publikums die Familie Schoenow etwa
noch nach Italien zu geleiten. „Det is nu Berlin — Jott bessere es und uns!"

Merkwürdig, Raabe findet sich in seinen späteren Büchern wieder und wieder
nach Berlin zurück. Freilich, das heitere Behagen am sonderlichen Wuchs des
Eingeborenen hat er sich nun ein für allemal von der Seele geschrieben, und
er geht nun an der gleichen Stätte nur noch schwer-ernste Wege, mit einem
festen, entschlossenen Schritt, ohne viel Verweilen und ohne alles gemächliche
Abschweifen. So wächst ihm denn aus dem Leben der großen Stadt die
Geschichte „Im alten Eisen" entgegen, und er erzählt, wie sich inmitten der
Millionen ein seltsames Geschick von Verlassenheit erfüllt und wie ein kleines
Häuflein gestrandeter, verirrter, heimatloser Lebenspilger sich auf vielverschlungenen
Wegen zusammenfindet, daß sie doch um ein kahles Armengrab eine feste Kette
schließen und einander zu Trost und Hilfe die Hände reichen können. Das
alles begibt sich vor dem Hintergrunde der ungeheuren Stadt, und er ist durch
alles hin beständig zu fühlen. „Dieser rote Streifen am Westhimmel, und
unter ihm und in ihn hineinragend die schwarzen Schattenrisse von bewohnten
und im Bau begriffenen Häusern, Baugerüsten, Fäbrikschornsteinen und hohen
Pappelbäumen! Kein heiterer blauer, kein Negenhimmel übt solche geheimnisvolle,
bald bängliche, bald beruhigende Wirkung, solche Magie auf das Menschen¬
gemüt aus, wie dieser blutfarbene Strich, wenn es Abend werden will, nach
einem umuhvollen, stürmischen, oder auch — in stumpfer Langeweile vergangenen
Tage." Sparsam sind die Züge angedeutet und fügen sich doch zusammen zu
einem geheimnisvoll eindringlichen Bilde der Weltstadt, der Zufluchtsstätte für
tausendfach Entwurzelte, Gescheiterte, Obdachlose. Auch der Gestalten, die hier
Erinnerung und Schicksal eint, sind es nur wenige, aber gerade dadurch gewinnt
ihr Erleben an gedrängter Schwere, an bewegendem Ernst. Und so wunderlich
sie sich zueinander fügen, der verwitterte und vom Leben gezeichnete Schmied
von Jüterbog und die Allerivelts-Theatermutter aus dem Alteisenkeller, die
beiden hilflos verwaisten Kinder an der Mutter armseligen; Totenlager und
das zerzauste, gescheuchte Nachtfalterchen — ihres Lebens besondere Klänge


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[0426] ivilbi:im Rande und Berlin Treffsicherer Mutterwitz und schlagfertige Zungengewandtheit, die breitspurige Wunderlichkeit einer unverdrossenen Herzensgüte, die Belebung auch des platt Alltäglichen durch das immer bewegliche Hin- und Herwerden im eigenen Wort und die frohgemute Überlegenheit einer allezeit ihrer selbst behaglich-sicheren Laune: aus alledem erwächst ein Menschenwesen, das mit Liebe umfaßt und mit Humor geadelt ist, wahrlich würdig der tapferen Lebensgemeinschaft mit der gelehrtesten Berlinerin, der „Tochter des weiland verstaubtesten Hegelianers der Friedrich - Wilhelms - Universität". Die Einwohner der Haupt- und Residenzstadt gehen heute in die dritte Million, Wie viele darunter kennen diese liebenswürdigste Glorifikation ihres Fleisches und Blutes? Auf dein Titelbild der Villa Schoenow steht jedenfalls noch immer: Zweite Auflage, Berlin 1903. Und Wilhelm Raabe hat es nie nötig gehabt, auf das Andrängen seines Publikums die Familie Schoenow etwa noch nach Italien zu geleiten. „Det is nu Berlin — Jott bessere es und uns!" Merkwürdig, Raabe findet sich in seinen späteren Büchern wieder und wieder nach Berlin zurück. Freilich, das heitere Behagen am sonderlichen Wuchs des Eingeborenen hat er sich nun ein für allemal von der Seele geschrieben, und er geht nun an der gleichen Stätte nur noch schwer-ernste Wege, mit einem festen, entschlossenen Schritt, ohne viel Verweilen und ohne alles gemächliche Abschweifen. So wächst ihm denn aus dem Leben der großen Stadt die Geschichte „Im alten Eisen" entgegen, und er erzählt, wie sich inmitten der Millionen ein seltsames Geschick von Verlassenheit erfüllt und wie ein kleines Häuflein gestrandeter, verirrter, heimatloser Lebenspilger sich auf vielverschlungenen Wegen zusammenfindet, daß sie doch um ein kahles Armengrab eine feste Kette schließen und einander zu Trost und Hilfe die Hände reichen können. Das alles begibt sich vor dem Hintergrunde der ungeheuren Stadt, und er ist durch alles hin beständig zu fühlen. „Dieser rote Streifen am Westhimmel, und unter ihm und in ihn hineinragend die schwarzen Schattenrisse von bewohnten und im Bau begriffenen Häusern, Baugerüsten, Fäbrikschornsteinen und hohen Pappelbäumen! Kein heiterer blauer, kein Negenhimmel übt solche geheimnisvolle, bald bängliche, bald beruhigende Wirkung, solche Magie auf das Menschen¬ gemüt aus, wie dieser blutfarbene Strich, wenn es Abend werden will, nach einem umuhvollen, stürmischen, oder auch — in stumpfer Langeweile vergangenen Tage." Sparsam sind die Züge angedeutet und fügen sich doch zusammen zu einem geheimnisvoll eindringlichen Bilde der Weltstadt, der Zufluchtsstätte für tausendfach Entwurzelte, Gescheiterte, Obdachlose. Auch der Gestalten, die hier Erinnerung und Schicksal eint, sind es nur wenige, aber gerade dadurch gewinnt ihr Erleben an gedrängter Schwere, an bewegendem Ernst. Und so wunderlich sie sich zueinander fügen, der verwitterte und vom Leben gezeichnete Schmied von Jüterbog und die Allerivelts-Theatermutter aus dem Alteisenkeller, die beiden hilflos verwaisten Kinder an der Mutter armseligen; Totenlager und das zerzauste, gescheuchte Nachtfalterchen — ihres Lebens besondere Klänge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/426>, abgerufen am 22.07.2024.