Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Wenn die politischen Parteien in einem Lande durch ihre Beziehungen Maßgebliches und Unmaßgebliches Wenn die politischen Parteien in einem Lande durch ihre Beziehungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317195"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1113" next="#ID_1114"> Wenn die politischen Parteien in einem Lande durch ihre Beziehungen<lb/> zueinander und zur Staatsregierung Zeichen der Anarchie und einer beginnenden<lb/> Krise erkennen lassen, dann muß eine ihrer Verantwortung sich bewußte Regierung<lb/> doppelt sorgsam die Instrumente prüfen, die ihr zur Verfügung stehen, um den<lb/> Bestand des Staates nach außen und innen zu sichern. In der preußischen Ver¬<lb/> waltung sind entsprechende Maßnahmen im Gange. Im Reich scheint ein Bedürfnis<lb/> nach partiellen Reformen nicht zu bestehen. Darauf deutet die letzte Mitteilung<lb/> der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" in Ur. 255 hin, die die Zufriedenheit<lb/> des Reichskanzlers mit dem Ergebnis der letzten Finanzreform zum Ausdruck bringt.<lb/> Der Schlußsatz „Wer sich um die Erreichung dieses Ziels (Gesundung der Reichs¬<lb/> finanzen) müht, der wirkt nach einem Progcnnm von überaus praktischer Bedeutung"<lb/> hat manche Optimisten zu dem Glauben veranlaßt, als könne von einer gro߬<lb/> zügigen Fortsetzung der Reichfinanzreform die Rede sein. Wir glauben nicht<lb/> fehlzugehen, wenn wir annehmen, daß sich der Satz lediglich auf die Wert¬<lb/> zuwachssteuer bezieht, die der Regierung von den Parteien der Mehrheit<lb/> bereits zugesichert ist. Angesichts dieser Genügsamkeit halten wir uns doch<lb/> für verpflichtet, auf eine Tatsache hinzuweisen, die uns mit Sorge erfüllen<lb/> muß, auf den sich von Jahr zu Jahr verringernden Ersatz an Offizieren und<lb/> Unteroffizieren. Den Schlüssel zu diesen Erscheinungen gibt uns die soeben ver¬<lb/> öffentlichte Dienstaltersliste für die deutsche Armee. Aus ihr geht hervor, daß<lb/> die Leutnantszeit jetzt 16 bis 17 Jahre, die Hauptmannszeit 12Vs Jahre dauert,<lb/> und daß für die Zeit als Major und Oberstleutnant zusammen 10 Jahre zu<lb/> rechnen sind. Nimmt man das durchschnittliche Lebensalter beim Diensteintritt<lb/> mit 19 Jahren an und berücksichtigt, daß im allgemeinen 2 Jahre vergehen bis<lb/> zur Beförderung zum Offizier, so ergibt sich ein Lebensalter von etwa 38 bis<lb/> 39 Jahren bei der Erreichung der Hauptmannscharge, ein solches von 50 Jahren bei<lb/> der Ernennung zum Stabsoffizier, von 60 bei der zum Regimentskommandeur. Wenn<lb/> zurzeit die Verhältnisse bei den letzten Chargen noch nicht ganz so ungünstig liegen,<lb/> so kommt das daher, daß die heutigen Regimentskommandeure eine sehr viel kürzere<lb/> Leutnantszeit hatten. Das Avancement hat sich erst allmählich so verschlechtert.<lb/> In kürzester Zeit wird das Lebensalter aber die angegebenen Zahlen erreichen.<lb/> Wartet doch auch jetzt schon eine Reihe von Offizieren', die auf eine Offizier¬<lb/> dienstzeit von mehr als 35 Jahren zurückblicken können, noch immer auf<lb/> den Regimentskommandeur. Diese Stabsoffiziere besitzen ein durchschnittliches<lb/> Lebensalter von 56 bis 57 Jahren! Im Interesse der Armee liegt dies aber nicht.<lb/> Daraus entspringt es, daß der Offizierersatz vielfach auf Schwierigkeiten stößt, und<lb/> daß gerade die Kreise dem Offizierberu fern bleiben, aus denen sich die Offizier¬<lb/> korps früher beinah ausschließlich rekrutierten. Die Unsicherheit der ganzen Lauf¬<lb/> bahn, die große Wahrscheinlichkeit, im besten Mannesalter pensioniert zu werden<lb/> und in eine wirtschaftliche Notlage zu geraten, halten jetzt viele Väter davon ab,<lb/> ihre Söhne dem Heere zuzuführen. Sehen wir von den traurigen Folgen ab,<lb/> die sich für den einzelnen Offizier aus den schlechten Avancements ergeben, so<lb/> müssen wir auf die mit der Überalterung der Offiziere zusammenhängende<lb/> Gefahr für die Schlagfertigkeit der Armee hinweisen. Die wahrscheinliche Folge<lb/> des heutigen Zustandes wird bei Ausbruch eines Krieges sein, daß die Mehrzahl<lb/> der Stabsoffiziere und zahlreiche Hauptleute schon nach den ersten größeren<lb/> Anstrengungen ausfallen, und daß ihre Stellen von solchen Offizieren eingenommen<lb/> werden müssen, die im Frieden nie Gelegenheit gehabt haben, ein Bataillon oder<lb/> Regiment zu kommandieren. Die gesamten Früchte unserer Friedensausbildung<lb/> werden somit durch den heutigen Zustand in Frage gestellt. In der Armee ist</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0244]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wenn die politischen Parteien in einem Lande durch ihre Beziehungen
zueinander und zur Staatsregierung Zeichen der Anarchie und einer beginnenden
Krise erkennen lassen, dann muß eine ihrer Verantwortung sich bewußte Regierung
doppelt sorgsam die Instrumente prüfen, die ihr zur Verfügung stehen, um den
Bestand des Staates nach außen und innen zu sichern. In der preußischen Ver¬
waltung sind entsprechende Maßnahmen im Gange. Im Reich scheint ein Bedürfnis
nach partiellen Reformen nicht zu bestehen. Darauf deutet die letzte Mitteilung
der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" in Ur. 255 hin, die die Zufriedenheit
des Reichskanzlers mit dem Ergebnis der letzten Finanzreform zum Ausdruck bringt.
Der Schlußsatz „Wer sich um die Erreichung dieses Ziels (Gesundung der Reichs¬
finanzen) müht, der wirkt nach einem Progcnnm von überaus praktischer Bedeutung"
hat manche Optimisten zu dem Glauben veranlaßt, als könne von einer gro߬
zügigen Fortsetzung der Reichfinanzreform die Rede sein. Wir glauben nicht
fehlzugehen, wenn wir annehmen, daß sich der Satz lediglich auf die Wert¬
zuwachssteuer bezieht, die der Regierung von den Parteien der Mehrheit
bereits zugesichert ist. Angesichts dieser Genügsamkeit halten wir uns doch
für verpflichtet, auf eine Tatsache hinzuweisen, die uns mit Sorge erfüllen
muß, auf den sich von Jahr zu Jahr verringernden Ersatz an Offizieren und
Unteroffizieren. Den Schlüssel zu diesen Erscheinungen gibt uns die soeben ver¬
öffentlichte Dienstaltersliste für die deutsche Armee. Aus ihr geht hervor, daß
die Leutnantszeit jetzt 16 bis 17 Jahre, die Hauptmannszeit 12Vs Jahre dauert,
und daß für die Zeit als Major und Oberstleutnant zusammen 10 Jahre zu
rechnen sind. Nimmt man das durchschnittliche Lebensalter beim Diensteintritt
mit 19 Jahren an und berücksichtigt, daß im allgemeinen 2 Jahre vergehen bis
zur Beförderung zum Offizier, so ergibt sich ein Lebensalter von etwa 38 bis
39 Jahren bei der Erreichung der Hauptmannscharge, ein solches von 50 Jahren bei
der Ernennung zum Stabsoffizier, von 60 bei der zum Regimentskommandeur. Wenn
zurzeit die Verhältnisse bei den letzten Chargen noch nicht ganz so ungünstig liegen,
so kommt das daher, daß die heutigen Regimentskommandeure eine sehr viel kürzere
Leutnantszeit hatten. Das Avancement hat sich erst allmählich so verschlechtert.
In kürzester Zeit wird das Lebensalter aber die angegebenen Zahlen erreichen.
Wartet doch auch jetzt schon eine Reihe von Offizieren', die auf eine Offizier¬
dienstzeit von mehr als 35 Jahren zurückblicken können, noch immer auf
den Regimentskommandeur. Diese Stabsoffiziere besitzen ein durchschnittliches
Lebensalter von 56 bis 57 Jahren! Im Interesse der Armee liegt dies aber nicht.
Daraus entspringt es, daß der Offizierersatz vielfach auf Schwierigkeiten stößt, und
daß gerade die Kreise dem Offizierberu fern bleiben, aus denen sich die Offizier¬
korps früher beinah ausschließlich rekrutierten. Die Unsicherheit der ganzen Lauf¬
bahn, die große Wahrscheinlichkeit, im besten Mannesalter pensioniert zu werden
und in eine wirtschaftliche Notlage zu geraten, halten jetzt viele Väter davon ab,
ihre Söhne dem Heere zuzuführen. Sehen wir von den traurigen Folgen ab,
die sich für den einzelnen Offizier aus den schlechten Avancements ergeben, so
müssen wir auf die mit der Überalterung der Offiziere zusammenhängende
Gefahr für die Schlagfertigkeit der Armee hinweisen. Die wahrscheinliche Folge
des heutigen Zustandes wird bei Ausbruch eines Krieges sein, daß die Mehrzahl
der Stabsoffiziere und zahlreiche Hauptleute schon nach den ersten größeren
Anstrengungen ausfallen, und daß ihre Stellen von solchen Offizieren eingenommen
werden müssen, die im Frieden nie Gelegenheit gehabt haben, ein Bataillon oder
Regiment zu kommandieren. Die gesamten Früchte unserer Friedensausbildung
werden somit durch den heutigen Zustand in Frage gestellt. In der Armee ist
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