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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Vom kochen des Zchlagworts

Menschlichen, das in seiner Größe und Unzulänglichkeit sich nie erschöpfen, wandeln,
bessern kann -- und hier setzt wirklich der ins Unmögliche greifende Utopismus
ein. Alle politischen und religiösen Heilsträume sind von ihm eingegeben, und
immerhin rieseln in ihnen Trostquellen, die der Menschheit reiche Labsal und
Erhebung auf dem Dornenweg der Äonen gespendet haben. Da öffnen sich die
Welten des religiösen Glaubens, und über die unabstreifbare Bedrängnis der
Wirklichkeit langt der Wille mit Notwendigkeit nach dem Unmöglichen. Gewiß
ist dieser Utopismus Wahn; aber welch gewaltige Wirkungen sind von solchem
Wahn ausgegangen, und was wäre die Menschheit ohne die weltverachtenden,
zukunftsschwangeren Ekstasen der Übergangszeiten!

Von "Dekadenz" ist zumal in unsern Tagen bis zum Überdruß geredet
worden. Das ist in der Tat ein übles Schlagwort, von dem Mephistos Definition
gilt, daß immer, wenn Begriffe fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt.
Es ist gleich billig, überall Dekadenz zu wittern und mit Dekadenz zu kokettieren,
wie es gleich billig ist, alles höhere Streben als Utopie zu verdächtigen und
kritiklosen Utopismus zu huldigen. Bedächtige Unterscheidung ist auch hier am
Platze. Der wirklichen oder gemachten Krankhaftigkeit wird kein Ernsthafter das
Wort reden, -- aber der Zeitanalyse den Einblick und Eingriff in die halb¬
pathologisch unterbewußten Grenzgebiete zu verwehren, das Genie aus seinen
halb-pathologischen Bedingtheiten herauszulösen -- versucht nur noch erfolglos die
Rückständigkeit. Zuguterletzt die "aktuellste" und immer noch leuchtkräftigste Blüte
im Schlagwort-Flor: der "Monismus!" Auch hier ist ein wenig UnPhilosophie am
Werk, und vielleicht ist sie nötig, um dem draufgängerischen Fanatismus nicht
durch skrupulöse Verwickeltheiten den Willen zu knicken. Gegen den absoluten,
Natur und Geist zerspaltenden Dualismus asketischer Dogmatik ist das Schlagwort
vom Monismus ja wirklich eine gute Parole und Waffe zugleich. Aber von
kritischer Erkenntnistheorie ist er noch wenig angekränkelt; dem kantischen Nicht¬
wissen vom "Ding an sich" trägt er kaum Rechnung; das letzte, unerklärbare
Ineinander von Einheit und Vielheit ignoriert er, und die alles Sein durchziehende
relative Dualität von Natur und Geist, Körper und Seele, Männlichkeit und
Weiblichkeit usw. dekretiert er allzu selbstherrlich hinweg. Dennoch ist in ihm, von
seinem Reaktionswert abgesehen, so viel Wahrheit, daß in uns allerdings das
menschlich zwingende Bedürfnis nach metaphysischer und ästhetischer Einheit lebt
Und so wird es denn mehr oder minder mit allen Schlagworten stehen. Darum
wollen wir ihnen kritisch und würdigend zugleich begegnen und uns immer bewußt
bleiben, wieviel sie allein bedeuten können und dürfen. Aber wir wollen sie
keineswegs zum Höllenpfuhl verdammen. Im Gegenteil: Gerade heut, da wir
allzu klaren und vielseitigen Bescheid wissen, da die Umschau von erreichter Höhe
Unlust und Erschöpfung weckt, gäben wir viel für ein neues lebensvolles,
,
Uurt Walter Goldschmidt förderndes und begeisterndes Schlagwort I




Vom kochen des Zchlagworts

Menschlichen, das in seiner Größe und Unzulänglichkeit sich nie erschöpfen, wandeln,
bessern kann — und hier setzt wirklich der ins Unmögliche greifende Utopismus
ein. Alle politischen und religiösen Heilsträume sind von ihm eingegeben, und
immerhin rieseln in ihnen Trostquellen, die der Menschheit reiche Labsal und
Erhebung auf dem Dornenweg der Äonen gespendet haben. Da öffnen sich die
Welten des religiösen Glaubens, und über die unabstreifbare Bedrängnis der
Wirklichkeit langt der Wille mit Notwendigkeit nach dem Unmöglichen. Gewiß
ist dieser Utopismus Wahn; aber welch gewaltige Wirkungen sind von solchem
Wahn ausgegangen, und was wäre die Menschheit ohne die weltverachtenden,
zukunftsschwangeren Ekstasen der Übergangszeiten!

Von „Dekadenz" ist zumal in unsern Tagen bis zum Überdruß geredet
worden. Das ist in der Tat ein übles Schlagwort, von dem Mephistos Definition
gilt, daß immer, wenn Begriffe fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt.
Es ist gleich billig, überall Dekadenz zu wittern und mit Dekadenz zu kokettieren,
wie es gleich billig ist, alles höhere Streben als Utopie zu verdächtigen und
kritiklosen Utopismus zu huldigen. Bedächtige Unterscheidung ist auch hier am
Platze. Der wirklichen oder gemachten Krankhaftigkeit wird kein Ernsthafter das
Wort reden, — aber der Zeitanalyse den Einblick und Eingriff in die halb¬
pathologisch unterbewußten Grenzgebiete zu verwehren, das Genie aus seinen
halb-pathologischen Bedingtheiten herauszulösen — versucht nur noch erfolglos die
Rückständigkeit. Zuguterletzt die „aktuellste" und immer noch leuchtkräftigste Blüte
im Schlagwort-Flor: der „Monismus!" Auch hier ist ein wenig UnPhilosophie am
Werk, und vielleicht ist sie nötig, um dem draufgängerischen Fanatismus nicht
durch skrupulöse Verwickeltheiten den Willen zu knicken. Gegen den absoluten,
Natur und Geist zerspaltenden Dualismus asketischer Dogmatik ist das Schlagwort
vom Monismus ja wirklich eine gute Parole und Waffe zugleich. Aber von
kritischer Erkenntnistheorie ist er noch wenig angekränkelt; dem kantischen Nicht¬
wissen vom „Ding an sich" trägt er kaum Rechnung; das letzte, unerklärbare
Ineinander von Einheit und Vielheit ignoriert er, und die alles Sein durchziehende
relative Dualität von Natur und Geist, Körper und Seele, Männlichkeit und
Weiblichkeit usw. dekretiert er allzu selbstherrlich hinweg. Dennoch ist in ihm, von
seinem Reaktionswert abgesehen, so viel Wahrheit, daß in uns allerdings das
menschlich zwingende Bedürfnis nach metaphysischer und ästhetischer Einheit lebt
Und so wird es denn mehr oder minder mit allen Schlagworten stehen. Darum
wollen wir ihnen kritisch und würdigend zugleich begegnen und uns immer bewußt
bleiben, wieviel sie allein bedeuten können und dürfen. Aber wir wollen sie
keineswegs zum Höllenpfuhl verdammen. Im Gegenteil: Gerade heut, da wir
allzu klaren und vielseitigen Bescheid wissen, da die Umschau von erreichter Höhe
Unlust und Erschöpfung weckt, gäben wir viel für ein neues lebensvolles,
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Uurt Walter Goldschmidt förderndes und begeisterndes Schlagwort I




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[0155] Vom kochen des Zchlagworts Menschlichen, das in seiner Größe und Unzulänglichkeit sich nie erschöpfen, wandeln, bessern kann — und hier setzt wirklich der ins Unmögliche greifende Utopismus ein. Alle politischen und religiösen Heilsträume sind von ihm eingegeben, und immerhin rieseln in ihnen Trostquellen, die der Menschheit reiche Labsal und Erhebung auf dem Dornenweg der Äonen gespendet haben. Da öffnen sich die Welten des religiösen Glaubens, und über die unabstreifbare Bedrängnis der Wirklichkeit langt der Wille mit Notwendigkeit nach dem Unmöglichen. Gewiß ist dieser Utopismus Wahn; aber welch gewaltige Wirkungen sind von solchem Wahn ausgegangen, und was wäre die Menschheit ohne die weltverachtenden, zukunftsschwangeren Ekstasen der Übergangszeiten! Von „Dekadenz" ist zumal in unsern Tagen bis zum Überdruß geredet worden. Das ist in der Tat ein übles Schlagwort, von dem Mephistos Definition gilt, daß immer, wenn Begriffe fehlen, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellt. Es ist gleich billig, überall Dekadenz zu wittern und mit Dekadenz zu kokettieren, wie es gleich billig ist, alles höhere Streben als Utopie zu verdächtigen und kritiklosen Utopismus zu huldigen. Bedächtige Unterscheidung ist auch hier am Platze. Der wirklichen oder gemachten Krankhaftigkeit wird kein Ernsthafter das Wort reden, — aber der Zeitanalyse den Einblick und Eingriff in die halb¬ pathologisch unterbewußten Grenzgebiete zu verwehren, das Genie aus seinen halb-pathologischen Bedingtheiten herauszulösen — versucht nur noch erfolglos die Rückständigkeit. Zuguterletzt die „aktuellste" und immer noch leuchtkräftigste Blüte im Schlagwort-Flor: der „Monismus!" Auch hier ist ein wenig UnPhilosophie am Werk, und vielleicht ist sie nötig, um dem draufgängerischen Fanatismus nicht durch skrupulöse Verwickeltheiten den Willen zu knicken. Gegen den absoluten, Natur und Geist zerspaltenden Dualismus asketischer Dogmatik ist das Schlagwort vom Monismus ja wirklich eine gute Parole und Waffe zugleich. Aber von kritischer Erkenntnistheorie ist er noch wenig angekränkelt; dem kantischen Nicht¬ wissen vom „Ding an sich" trägt er kaum Rechnung; das letzte, unerklärbare Ineinander von Einheit und Vielheit ignoriert er, und die alles Sein durchziehende relative Dualität von Natur und Geist, Körper und Seele, Männlichkeit und Weiblichkeit usw. dekretiert er allzu selbstherrlich hinweg. Dennoch ist in ihm, von seinem Reaktionswert abgesehen, so viel Wahrheit, daß in uns allerdings das menschlich zwingende Bedürfnis nach metaphysischer und ästhetischer Einheit lebt Und so wird es denn mehr oder minder mit allen Schlagworten stehen. Darum wollen wir ihnen kritisch und würdigend zugleich begegnen und uns immer bewußt bleiben, wieviel sie allein bedeuten können und dürfen. Aber wir wollen sie keineswegs zum Höllenpfuhl verdammen. Im Gegenteil: Gerade heut, da wir allzu klaren und vielseitigen Bescheid wissen, da die Umschau von erreichter Höhe Unlust und Erschöpfung weckt, gäben wir viel für ein neues lebensvolles, , Uurt Walter Goldschmidt förderndes und begeisterndes Schlagwort I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/155>, abgerufen am 22.07.2024.