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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Römisches, Allzurömisches

dem gestanden haben, was mit dem Wort "Borromäus-Enzyklika" in die
Erinnerung zurückkehrt! Und doch hätte es darüber eine vollkommene Ver¬
ständigung zwischen Katholiken und Protestanten geben können. Heute hat
leider die Führung in derartigen Auseinandersetzungen eine Presse, die sür
religiöse Innerlichkeiten, gleichviel ob protestantischer oder katholischer Form,
überhaupt kein Organ besitzt. Daß es so ist, daß wir uns bei übereinstimmendem
Wollen doch so schwer verständigen können, fällt zum größten Teil auf das Schuld¬
konto der deutschen Katholiken. Die gewichtigste Ursache liegt in einer geistigen Ver¬
fassung und einer Praxis, die vor mehreren Jahren schon ein katholischer (nicht¬
deutscher) Gelehrter die "Furcht vor der Wahrheit" genannt hat. Nicht mehr
das befreiende, siegesgewisse "veritati!" leuchtet den Katholiken in ihren öffent¬
lichen Aussprachen vor. Wer bei uns einen Gedanken hinaussenden, auf eine
bedeutsame Tatsache hinweisen könnte, der stellte zuerst die resignierte Frage
"Lüi bono?" Und fast immer siegt die Rücksicht der Zweckmäßigkeit, der
Opportunist über den inneren Drang der erkannten Wahrheit.

Alle Welt ahnt, daß gegenwärtig starke Erschütterungen durch den
Katholizismus gehen, daß manche Ereignisse der neuesten Zeit nicht nur inner¬
kirchliche, sondern bei der alten Kulturstellung der Kirche, bei der Zahl ihrer
Anhänger auch menschheitliche Zukunftsentscheidungen bedeuten. Wie viele
Außenstehende kennen aber die tieferen Zusammenhänge und den vollständigen
Sachverhalt? Wie viele sind imstande, alle Faktoren der Elitwicklung in ihrer
Einflußstärkc zu bewerten? Wie müssen selbst auf wohlmeinende Protestanten
die jüngsten päpstlichen Erlasse wirken, wenn ihnen niemand Aufschluß über die
Stellung der Katholiken dazu gibt, wenn ihnen katholische Meinungsäußerung
nicht behilflich ist, die Wirkung auf die tatsächliche Lage richtig zu ver¬
anschlagen! Wie sollen sie überhaupt die tatsächliche Lage zuverlässig kennen
lernen? Das Verschweigen und Verschleiern liefert die Katholiken der ver¬
wirrenden und verhetzenden Agitation ihrer unbedingten Feinde aus, und sogar
bei ihren besten Freunden beschwören sie Unsicherheit und Mißtrauen herauf.
Sich selber -- das uur nebenbei -- fügen sie allerdings den schlimmsten
Schaden zu; die Unklarheit und die Entfremdung in unsern Reihen wachsen
zusehends. -- Soviel zur Rechtfertigung vor meinen eigenen Bedenken und zur
Ausräumung des Verdachtes, aus den folgenden Ausführungen spreche die
unsachliche Abneigung eines Überläufers. Daß man nur trotz der langen
Einleitung auf katholischer Seite das Recht zu dieser Meinungsäußerung nicht
zugestehen wird, weiß ich sehr genau; die "Furcht vor der Wahrheit" ist so
leicht nicht zu bannen.

Mit Rücksicht auf die Anregung durch den Schillerschen Artikel will ich in
einigen Sätzen auf die Borromäus-Enzyklika zurückgreifen, obwohl mein Haupt¬
thema die beiden letzten römischen Erlasse sein sollten. Es dürfte auf evan¬
gelischer Seite wohl darüber Klarheit herrschen, daß die deutschen Katholiken
das Erscheinen der Enzyklika bezw. die Aufnahme der Stelle über Reformation


Römisches, Allzurömisches

dem gestanden haben, was mit dem Wort „Borromäus-Enzyklika" in die
Erinnerung zurückkehrt! Und doch hätte es darüber eine vollkommene Ver¬
ständigung zwischen Katholiken und Protestanten geben können. Heute hat
leider die Führung in derartigen Auseinandersetzungen eine Presse, die sür
religiöse Innerlichkeiten, gleichviel ob protestantischer oder katholischer Form,
überhaupt kein Organ besitzt. Daß es so ist, daß wir uns bei übereinstimmendem
Wollen doch so schwer verständigen können, fällt zum größten Teil auf das Schuld¬
konto der deutschen Katholiken. Die gewichtigste Ursache liegt in einer geistigen Ver¬
fassung und einer Praxis, die vor mehreren Jahren schon ein katholischer (nicht¬
deutscher) Gelehrter die „Furcht vor der Wahrheit" genannt hat. Nicht mehr
das befreiende, siegesgewisse „veritati!" leuchtet den Katholiken in ihren öffent¬
lichen Aussprachen vor. Wer bei uns einen Gedanken hinaussenden, auf eine
bedeutsame Tatsache hinweisen könnte, der stellte zuerst die resignierte Frage
„Lüi bono?" Und fast immer siegt die Rücksicht der Zweckmäßigkeit, der
Opportunist über den inneren Drang der erkannten Wahrheit.

Alle Welt ahnt, daß gegenwärtig starke Erschütterungen durch den
Katholizismus gehen, daß manche Ereignisse der neuesten Zeit nicht nur inner¬
kirchliche, sondern bei der alten Kulturstellung der Kirche, bei der Zahl ihrer
Anhänger auch menschheitliche Zukunftsentscheidungen bedeuten. Wie viele
Außenstehende kennen aber die tieferen Zusammenhänge und den vollständigen
Sachverhalt? Wie viele sind imstande, alle Faktoren der Elitwicklung in ihrer
Einflußstärkc zu bewerten? Wie müssen selbst auf wohlmeinende Protestanten
die jüngsten päpstlichen Erlasse wirken, wenn ihnen niemand Aufschluß über die
Stellung der Katholiken dazu gibt, wenn ihnen katholische Meinungsäußerung
nicht behilflich ist, die Wirkung auf die tatsächliche Lage richtig zu ver¬
anschlagen! Wie sollen sie überhaupt die tatsächliche Lage zuverlässig kennen
lernen? Das Verschweigen und Verschleiern liefert die Katholiken der ver¬
wirrenden und verhetzenden Agitation ihrer unbedingten Feinde aus, und sogar
bei ihren besten Freunden beschwören sie Unsicherheit und Mißtrauen herauf.
Sich selber — das uur nebenbei — fügen sie allerdings den schlimmsten
Schaden zu; die Unklarheit und die Entfremdung in unsern Reihen wachsen
zusehends. — Soviel zur Rechtfertigung vor meinen eigenen Bedenken und zur
Ausräumung des Verdachtes, aus den folgenden Ausführungen spreche die
unsachliche Abneigung eines Überläufers. Daß man nur trotz der langen
Einleitung auf katholischer Seite das Recht zu dieser Meinungsäußerung nicht
zugestehen wird, weiß ich sehr genau; die „Furcht vor der Wahrheit" ist so
leicht nicht zu bannen.

Mit Rücksicht auf die Anregung durch den Schillerschen Artikel will ich in
einigen Sätzen auf die Borromäus-Enzyklika zurückgreifen, obwohl mein Haupt¬
thema die beiden letzten römischen Erlasse sein sollten. Es dürfte auf evan¬
gelischer Seite wohl darüber Klarheit herrschen, daß die deutschen Katholiken
das Erscheinen der Enzyklika bezw. die Aufnahme der Stelle über Reformation


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[0566] Römisches, Allzurömisches dem gestanden haben, was mit dem Wort „Borromäus-Enzyklika" in die Erinnerung zurückkehrt! Und doch hätte es darüber eine vollkommene Ver¬ ständigung zwischen Katholiken und Protestanten geben können. Heute hat leider die Führung in derartigen Auseinandersetzungen eine Presse, die sür religiöse Innerlichkeiten, gleichviel ob protestantischer oder katholischer Form, überhaupt kein Organ besitzt. Daß es so ist, daß wir uns bei übereinstimmendem Wollen doch so schwer verständigen können, fällt zum größten Teil auf das Schuld¬ konto der deutschen Katholiken. Die gewichtigste Ursache liegt in einer geistigen Ver¬ fassung und einer Praxis, die vor mehreren Jahren schon ein katholischer (nicht¬ deutscher) Gelehrter die „Furcht vor der Wahrheit" genannt hat. Nicht mehr das befreiende, siegesgewisse „veritati!" leuchtet den Katholiken in ihren öffent¬ lichen Aussprachen vor. Wer bei uns einen Gedanken hinaussenden, auf eine bedeutsame Tatsache hinweisen könnte, der stellte zuerst die resignierte Frage „Lüi bono?" Und fast immer siegt die Rücksicht der Zweckmäßigkeit, der Opportunist über den inneren Drang der erkannten Wahrheit. Alle Welt ahnt, daß gegenwärtig starke Erschütterungen durch den Katholizismus gehen, daß manche Ereignisse der neuesten Zeit nicht nur inner¬ kirchliche, sondern bei der alten Kulturstellung der Kirche, bei der Zahl ihrer Anhänger auch menschheitliche Zukunftsentscheidungen bedeuten. Wie viele Außenstehende kennen aber die tieferen Zusammenhänge und den vollständigen Sachverhalt? Wie viele sind imstande, alle Faktoren der Elitwicklung in ihrer Einflußstärkc zu bewerten? Wie müssen selbst auf wohlmeinende Protestanten die jüngsten päpstlichen Erlasse wirken, wenn ihnen niemand Aufschluß über die Stellung der Katholiken dazu gibt, wenn ihnen katholische Meinungsäußerung nicht behilflich ist, die Wirkung auf die tatsächliche Lage richtig zu ver¬ anschlagen! Wie sollen sie überhaupt die tatsächliche Lage zuverlässig kennen lernen? Das Verschweigen und Verschleiern liefert die Katholiken der ver¬ wirrenden und verhetzenden Agitation ihrer unbedingten Feinde aus, und sogar bei ihren besten Freunden beschwören sie Unsicherheit und Mißtrauen herauf. Sich selber — das uur nebenbei — fügen sie allerdings den schlimmsten Schaden zu; die Unklarheit und die Entfremdung in unsern Reihen wachsen zusehends. — Soviel zur Rechtfertigung vor meinen eigenen Bedenken und zur Ausräumung des Verdachtes, aus den folgenden Ausführungen spreche die unsachliche Abneigung eines Überläufers. Daß man nur trotz der langen Einleitung auf katholischer Seite das Recht zu dieser Meinungsäußerung nicht zugestehen wird, weiß ich sehr genau; die „Furcht vor der Wahrheit" ist so leicht nicht zu bannen. Mit Rücksicht auf die Anregung durch den Schillerschen Artikel will ich in einigen Sätzen auf die Borromäus-Enzyklika zurückgreifen, obwohl mein Haupt¬ thema die beiden letzten römischen Erlasse sein sollten. Es dürfte auf evan¬ gelischer Seite wohl darüber Klarheit herrschen, daß die deutschen Katholiken das Erscheinen der Enzyklika bezw. die Aufnahme der Stelle über Reformation

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/566>, abgerufen am 23.07.2024.