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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Agnes Miegel

und Lieder" (Jena, Diederichs, 1907) beschert hat, steht in unverweMcher Frische
und Feinheit vor uns. Und der Name von Agnes Miegel hat heute schon
für uns den Klang der Dauer.

Was alle Dichtungen von Agnes Miegel charakterisiert, ist zunächst ihre
starke Substanz. In demselben Aufsatz, dem die einleitenden Worte entnommen
sind, spricht sie von feinnervigen, erschöpften Kindern alter, üppiger Kultur, oft
mit einem Einschlag semitischen Bluts: "Sie lächeln über den Begriff Gefühl.
Für sie ist ein lyrisches Gedicht eine kunstvolle Arabeske prunkender Sätze, ein
Mittel, um eine seltsame Traumstimmung auszulösen." Wie gut ist damit ein
großer Teil unsrer heutigen Lyrik gekennzeichnet! Agnes Miegel leugnet nicht,
daß sie an diesen Chrysanthemen, duftlosen Blumen fremder Kultur, gelegentlich
Freude habe; aber wir empfinden mit ihr, daß ihre Art ganz anders ist.

Die Stirn bekränzt mit roten Berberitzen,
Steht um der Herbst am Stoppelfeld;
In klarer Luft die weiszen Fäden blitzen,
In Gold und Purpur glüht die Welt.
Ich seh' hinaus und hör' den Herbstwind sausen,
Vor meinem Fenster nickt der wilde Wein;
Von fernen Ostseewellen kommt ein Bransen
Und singt die letzten Rosen ein.

Klar und gegenständlich holt so Agnes Miegel aus der Natur ihrer
ostpreußischen Heimat Bild und Laut heraus. Ihr ist der blaue Frühlingstag,
der "sonnenlichtdurchglühte", vertraut, der trunken ist von dem Duft der
Fliederblüte; sie kennt den Mittag, wann über die stillen, sonnenweißen Wege
ein Windstoß fährt; den Spätnachmittag, da auf den Wiesen lange Schatten
lagern und der Winden rote Kelche sich schließen. Und dann der September:

Bis dann vor des Winters Einbruch durch die kalte, klare Oktoberluft das
Wandern langsam der Seligkeit des letzten Lichts entgegengeht.

Durch den Rhythmus all dieser Naturbilder schreitet eine herbe und frühe
Leidenschaft mit, Mädchenleidenschaft, aber nicht die spielerische, sogenannte
Liebe, von der das Herz im Grunde nichts weiß, sondern ein wirkliches Erleben,
aus dem wir die Tragik wohl herausempfinden.

das wäre der Auftakt. Dann kennt die Leidenschaft schon ihr Ziel und äußert
sich in einem Mädchengebet, das mit dem knappen Ton einer alten Weise das
Letzte zu sagen weiß.

Ich bitte dich, Herrgott, dnrch Christi Blut,
Bewahr mir meinen lieben Liebsten gut!
Ich bitte dich, Herrgott, aus Herzensgrund,
Daß mich mein Liebster küßt auf meinen Mund!
Kniefällig bitt ich dich, bei meiner Seligkeit,
Gib, daß er stirbt, wenn er ein' andre freit.

Agnes Miegel

und Lieder" (Jena, Diederichs, 1907) beschert hat, steht in unverweMcher Frische
und Feinheit vor uns. Und der Name von Agnes Miegel hat heute schon
für uns den Klang der Dauer.

Was alle Dichtungen von Agnes Miegel charakterisiert, ist zunächst ihre
starke Substanz. In demselben Aufsatz, dem die einleitenden Worte entnommen
sind, spricht sie von feinnervigen, erschöpften Kindern alter, üppiger Kultur, oft
mit einem Einschlag semitischen Bluts: „Sie lächeln über den Begriff Gefühl.
Für sie ist ein lyrisches Gedicht eine kunstvolle Arabeske prunkender Sätze, ein
Mittel, um eine seltsame Traumstimmung auszulösen." Wie gut ist damit ein
großer Teil unsrer heutigen Lyrik gekennzeichnet! Agnes Miegel leugnet nicht,
daß sie an diesen Chrysanthemen, duftlosen Blumen fremder Kultur, gelegentlich
Freude habe; aber wir empfinden mit ihr, daß ihre Art ganz anders ist.

Die Stirn bekränzt mit roten Berberitzen,
Steht um der Herbst am Stoppelfeld;
In klarer Luft die weiszen Fäden blitzen,
In Gold und Purpur glüht die Welt.
Ich seh' hinaus und hör' den Herbstwind sausen,
Vor meinem Fenster nickt der wilde Wein;
Von fernen Ostseewellen kommt ein Bransen
Und singt die letzten Rosen ein.

Klar und gegenständlich holt so Agnes Miegel aus der Natur ihrer
ostpreußischen Heimat Bild und Laut heraus. Ihr ist der blaue Frühlingstag,
der „sonnenlichtdurchglühte", vertraut, der trunken ist von dem Duft der
Fliederblüte; sie kennt den Mittag, wann über die stillen, sonnenweißen Wege
ein Windstoß fährt; den Spätnachmittag, da auf den Wiesen lange Schatten
lagern und der Winden rote Kelche sich schließen. Und dann der September:

Bis dann vor des Winters Einbruch durch die kalte, klare Oktoberluft das
Wandern langsam der Seligkeit des letzten Lichts entgegengeht.

Durch den Rhythmus all dieser Naturbilder schreitet eine herbe und frühe
Leidenschaft mit, Mädchenleidenschaft, aber nicht die spielerische, sogenannte
Liebe, von der das Herz im Grunde nichts weiß, sondern ein wirkliches Erleben,
aus dem wir die Tragik wohl herausempfinden.

das wäre der Auftakt. Dann kennt die Leidenschaft schon ihr Ziel und äußert
sich in einem Mädchengebet, das mit dem knappen Ton einer alten Weise das
Letzte zu sagen weiß.

Ich bitte dich, Herrgott, dnrch Christi Blut,
Bewahr mir meinen lieben Liebsten gut!
Ich bitte dich, Herrgott, aus Herzensgrund,
Daß mich mein Liebster küßt auf meinen Mund!
Kniefällig bitt ich dich, bei meiner Seligkeit,
Gib, daß er stirbt, wenn er ein' andre freit.

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[0452] Agnes Miegel und Lieder" (Jena, Diederichs, 1907) beschert hat, steht in unverweMcher Frische und Feinheit vor uns. Und der Name von Agnes Miegel hat heute schon für uns den Klang der Dauer. Was alle Dichtungen von Agnes Miegel charakterisiert, ist zunächst ihre starke Substanz. In demselben Aufsatz, dem die einleitenden Worte entnommen sind, spricht sie von feinnervigen, erschöpften Kindern alter, üppiger Kultur, oft mit einem Einschlag semitischen Bluts: „Sie lächeln über den Begriff Gefühl. Für sie ist ein lyrisches Gedicht eine kunstvolle Arabeske prunkender Sätze, ein Mittel, um eine seltsame Traumstimmung auszulösen." Wie gut ist damit ein großer Teil unsrer heutigen Lyrik gekennzeichnet! Agnes Miegel leugnet nicht, daß sie an diesen Chrysanthemen, duftlosen Blumen fremder Kultur, gelegentlich Freude habe; aber wir empfinden mit ihr, daß ihre Art ganz anders ist. Die Stirn bekränzt mit roten Berberitzen, Steht um der Herbst am Stoppelfeld; In klarer Luft die weiszen Fäden blitzen, In Gold und Purpur glüht die Welt. Ich seh' hinaus und hör' den Herbstwind sausen, Vor meinem Fenster nickt der wilde Wein; Von fernen Ostseewellen kommt ein Bransen Und singt die letzten Rosen ein. Klar und gegenständlich holt so Agnes Miegel aus der Natur ihrer ostpreußischen Heimat Bild und Laut heraus. Ihr ist der blaue Frühlingstag, der „sonnenlichtdurchglühte", vertraut, der trunken ist von dem Duft der Fliederblüte; sie kennt den Mittag, wann über die stillen, sonnenweißen Wege ein Windstoß fährt; den Spätnachmittag, da auf den Wiesen lange Schatten lagern und der Winden rote Kelche sich schließen. Und dann der September: Bis dann vor des Winters Einbruch durch die kalte, klare Oktoberluft das Wandern langsam der Seligkeit des letzten Lichts entgegengeht. Durch den Rhythmus all dieser Naturbilder schreitet eine herbe und frühe Leidenschaft mit, Mädchenleidenschaft, aber nicht die spielerische, sogenannte Liebe, von der das Herz im Grunde nichts weiß, sondern ein wirkliches Erleben, aus dem wir die Tragik wohl herausempfinden. das wäre der Auftakt. Dann kennt die Leidenschaft schon ihr Ziel und äußert sich in einem Mädchengebet, das mit dem knappen Ton einer alten Weise das Letzte zu sagen weiß. Ich bitte dich, Herrgott, dnrch Christi Blut, Bewahr mir meinen lieben Liebsten gut! Ich bitte dich, Herrgott, aus Herzensgrund, Daß mich mein Liebster küßt auf meinen Mund! Kniefällig bitt ich dich, bei meiner Seligkeit, Gib, daß er stirbt, wenn er ein' andre freit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/452>, abgerufen am 01.07.2024.