Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich Acpß

bei Joachim Wilhelm Bellermann, dem Sohne eines angesehenen Spezerei-
händlers; die Schwester dieses Lehrers, Charlotte Bellermann, entfesselte seine
ganze Leidenschaft, die er aber weder ihr noch sonst jemand eingestand. In
seiner freien Zeit las er viel; aber, wie er später sagte, keine Romane, sondern
"indifferente" Bücher: Kotzebue, Schiller (auch die Jungfrau von Orleans),
Campe, Fenelon und Voltaires Geschichte Karls des Zwölften. Die römische
Geschichte kannte er aus der allgemeinen Weltgeschichte von Schröckh; dabei
fesselte ihn der Mord, den Romulus an Remus beging, aber des Brutus und
des Cinna erinnerte er sich später nicht mehr. Die französische Geschichte
interessierte ihn erst von der Revolution an; er wußte, daß mehrere Personen
auf den Kaiser erfolglose Anschläge verübt hatten, aber Charlotte Corday und
Georges Cadacdel kannte er nicht. Nach dein Ausbruch des Krieges 1809
hörte er in Erfurt in den Cafös, Napoleon führe Krieg, nur um sich zum
Herrn von Europa zu machen. Da schwand auch der Enthusiasmus dahin, den
er dem Kaiser früher fo lebhaft entgegen getragen hatte; seine Liebe verwandelte
sich in Haß, und er faßte den Entschluß, ihn im ersten günstigen Augenblick
ums Leben zu bringen. Das war zur Zeit der Kämpfe um Wagram (5. und
6. Juli). Als er dann in öffentlichen Blättern, namentlich in Frankfurter und
Berliner Zeitungen las, beinahe ganz Deutschland sei von französischen Truppen
besetzt und verheert, die Bewohner ihres Vermögens beraubt und unglücklich
gemacht, wollte er seinen Plan wirklich ausführen. In seinein Vorhaben
bestärkte ihn die Anwesenheit mehrerer Sächsischer Offiziere und Unteroffiziere
in Erfurt, die Rekrutierungen vornahmen. Einer von ihnen erzählte, die
sächsische Armee, die vorher 16000 Mann umfaßt habe, sei durch die Schlacht
bei Wagram auf 4000 Mann zusammengeschmolzen. Die Offiziere berichteten,
die Sachsen seien von den Franzosen zum Angriff gezwungen worden; man habe
im allgemeinen jedes Mittel versucht, sie zu vernichten. Diese Mitteilungen
fanden Glauben, und man freute sich, daß auch die Franzosen schwere Verluste
erlitten hatten. Stepß hoffte, nach dem Tode ihres Kaisers würden die Feinde
aus Deutschland vertrieben, der Handel wieder aufleben, die Völker glücklicher
werden. Aber von dem Augenblick an, wo in den Zeitungen von einem baldigen
Frieden die Rede war, gab er sein Vorhaben wieder auf.

Zu Anfang August, zur Zeit des Kirschfestes, weilte er acht Tage im
Elternhause in Naumburg: "Heiter und unbefangen", erzählte sein Vater, "kam
er an und vergnügte sich mit den Kindern und Eltern wie nur irgend ein
junger Mensch, dem die Welt vor ihm lacht, und der an nichts Arges oder
Ernsthaftes denkt." Seine eifrige Teilnahme an den Kriegsereignissen war den
Eltern nicht verborgen geblieben; einmal hatte er den Vater gebeten, ihm alles
zu schreiben, was er wisse. "Denn wir müssen doch alles erfahren, trotz der
umherschleichenden schändlichen Polizei." In Naumburg sprach er dann davon,
daß vielleicht bald der Friede geschlossen würde, und die Truppen dann nach
Spanien abgingen. Der alte Stepß scheint gefürchtet zu haben, daß sein Sohn


Friedrich Acpß

bei Joachim Wilhelm Bellermann, dem Sohne eines angesehenen Spezerei-
händlers; die Schwester dieses Lehrers, Charlotte Bellermann, entfesselte seine
ganze Leidenschaft, die er aber weder ihr noch sonst jemand eingestand. In
seiner freien Zeit las er viel; aber, wie er später sagte, keine Romane, sondern
„indifferente" Bücher: Kotzebue, Schiller (auch die Jungfrau von Orleans),
Campe, Fenelon und Voltaires Geschichte Karls des Zwölften. Die römische
Geschichte kannte er aus der allgemeinen Weltgeschichte von Schröckh; dabei
fesselte ihn der Mord, den Romulus an Remus beging, aber des Brutus und
des Cinna erinnerte er sich später nicht mehr. Die französische Geschichte
interessierte ihn erst von der Revolution an; er wußte, daß mehrere Personen
auf den Kaiser erfolglose Anschläge verübt hatten, aber Charlotte Corday und
Georges Cadacdel kannte er nicht. Nach dein Ausbruch des Krieges 1809
hörte er in Erfurt in den Cafös, Napoleon führe Krieg, nur um sich zum
Herrn von Europa zu machen. Da schwand auch der Enthusiasmus dahin, den
er dem Kaiser früher fo lebhaft entgegen getragen hatte; seine Liebe verwandelte
sich in Haß, und er faßte den Entschluß, ihn im ersten günstigen Augenblick
ums Leben zu bringen. Das war zur Zeit der Kämpfe um Wagram (5. und
6. Juli). Als er dann in öffentlichen Blättern, namentlich in Frankfurter und
Berliner Zeitungen las, beinahe ganz Deutschland sei von französischen Truppen
besetzt und verheert, die Bewohner ihres Vermögens beraubt und unglücklich
gemacht, wollte er seinen Plan wirklich ausführen. In seinein Vorhaben
bestärkte ihn die Anwesenheit mehrerer Sächsischer Offiziere und Unteroffiziere
in Erfurt, die Rekrutierungen vornahmen. Einer von ihnen erzählte, die
sächsische Armee, die vorher 16000 Mann umfaßt habe, sei durch die Schlacht
bei Wagram auf 4000 Mann zusammengeschmolzen. Die Offiziere berichteten,
die Sachsen seien von den Franzosen zum Angriff gezwungen worden; man habe
im allgemeinen jedes Mittel versucht, sie zu vernichten. Diese Mitteilungen
fanden Glauben, und man freute sich, daß auch die Franzosen schwere Verluste
erlitten hatten. Stepß hoffte, nach dem Tode ihres Kaisers würden die Feinde
aus Deutschland vertrieben, der Handel wieder aufleben, die Völker glücklicher
werden. Aber von dem Augenblick an, wo in den Zeitungen von einem baldigen
Frieden die Rede war, gab er sein Vorhaben wieder auf.

Zu Anfang August, zur Zeit des Kirschfestes, weilte er acht Tage im
Elternhause in Naumburg: „Heiter und unbefangen", erzählte sein Vater, „kam
er an und vergnügte sich mit den Kindern und Eltern wie nur irgend ein
junger Mensch, dem die Welt vor ihm lacht, und der an nichts Arges oder
Ernsthaftes denkt." Seine eifrige Teilnahme an den Kriegsereignissen war den
Eltern nicht verborgen geblieben; einmal hatte er den Vater gebeten, ihm alles
zu schreiben, was er wisse. „Denn wir müssen doch alles erfahren, trotz der
umherschleichenden schändlichen Polizei." In Naumburg sprach er dann davon,
daß vielleicht bald der Friede geschlossen würde, und die Truppen dann nach
Spanien abgingen. Der alte Stepß scheint gefürchtet zu haben, daß sein Sohn


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316514"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich Acpß</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_831" prev="#ID_830"> bei Joachim Wilhelm Bellermann, dem Sohne eines angesehenen Spezerei-<lb/>
händlers; die Schwester dieses Lehrers, Charlotte Bellermann, entfesselte seine<lb/>
ganze Leidenschaft, die er aber weder ihr noch sonst jemand eingestand. In<lb/>
seiner freien Zeit las er viel; aber, wie er später sagte, keine Romane, sondern<lb/>
&#x201E;indifferente" Bücher: Kotzebue, Schiller (auch die Jungfrau von Orleans),<lb/>
Campe, Fenelon und Voltaires Geschichte Karls des Zwölften. Die römische<lb/>
Geschichte kannte er aus der allgemeinen Weltgeschichte von Schröckh; dabei<lb/>
fesselte ihn der Mord, den Romulus an Remus beging, aber des Brutus und<lb/>
des Cinna erinnerte er sich später nicht mehr. Die französische Geschichte<lb/>
interessierte ihn erst von der Revolution an; er wußte, daß mehrere Personen<lb/>
auf den Kaiser erfolglose Anschläge verübt hatten, aber Charlotte Corday und<lb/>
Georges Cadacdel kannte er nicht. Nach dein Ausbruch des Krieges 1809<lb/>
hörte er in Erfurt in den Cafös, Napoleon führe Krieg, nur um sich zum<lb/>
Herrn von Europa zu machen. Da schwand auch der Enthusiasmus dahin, den<lb/>
er dem Kaiser früher fo lebhaft entgegen getragen hatte; seine Liebe verwandelte<lb/>
sich in Haß, und er faßte den Entschluß, ihn im ersten günstigen Augenblick<lb/>
ums Leben zu bringen. Das war zur Zeit der Kämpfe um Wagram (5. und<lb/>
6. Juli). Als er dann in öffentlichen Blättern, namentlich in Frankfurter und<lb/>
Berliner Zeitungen las, beinahe ganz Deutschland sei von französischen Truppen<lb/>
besetzt und verheert, die Bewohner ihres Vermögens beraubt und unglücklich<lb/>
gemacht, wollte er seinen Plan wirklich ausführen. In seinein Vorhaben<lb/>
bestärkte ihn die Anwesenheit mehrerer Sächsischer Offiziere und Unteroffiziere<lb/>
in Erfurt, die Rekrutierungen vornahmen. Einer von ihnen erzählte, die<lb/>
sächsische Armee, die vorher 16000 Mann umfaßt habe, sei durch die Schlacht<lb/>
bei Wagram auf 4000 Mann zusammengeschmolzen. Die Offiziere berichteten,<lb/>
die Sachsen seien von den Franzosen zum Angriff gezwungen worden; man habe<lb/>
im allgemeinen jedes Mittel versucht, sie zu vernichten. Diese Mitteilungen<lb/>
fanden Glauben, und man freute sich, daß auch die Franzosen schwere Verluste<lb/>
erlitten hatten. Stepß hoffte, nach dem Tode ihres Kaisers würden die Feinde<lb/>
aus Deutschland vertrieben, der Handel wieder aufleben, die Völker glücklicher<lb/>
werden. Aber von dem Augenblick an, wo in den Zeitungen von einem baldigen<lb/>
Frieden die Rede war, gab er sein Vorhaben wieder auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_832" next="#ID_833"> Zu Anfang August, zur Zeit des Kirschfestes, weilte er acht Tage im<lb/>
Elternhause in Naumburg: &#x201E;Heiter und unbefangen", erzählte sein Vater, &#x201E;kam<lb/>
er an und vergnügte sich mit den Kindern und Eltern wie nur irgend ein<lb/>
junger Mensch, dem die Welt vor ihm lacht, und der an nichts Arges oder<lb/>
Ernsthaftes denkt." Seine eifrige Teilnahme an den Kriegsereignissen war den<lb/>
Eltern nicht verborgen geblieben; einmal hatte er den Vater gebeten, ihm alles<lb/>
zu schreiben, was er wisse. &#x201E;Denn wir müssen doch alles erfahren, trotz der<lb/>
umherschleichenden schändlichen Polizei." In Naumburg sprach er dann davon,<lb/>
daß vielleicht bald der Friede geschlossen würde, und die Truppen dann nach<lb/>
Spanien abgingen. Der alte Stepß scheint gefürchtet zu haben, daß sein Sohn</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Friedrich Acpß bei Joachim Wilhelm Bellermann, dem Sohne eines angesehenen Spezerei- händlers; die Schwester dieses Lehrers, Charlotte Bellermann, entfesselte seine ganze Leidenschaft, die er aber weder ihr noch sonst jemand eingestand. In seiner freien Zeit las er viel; aber, wie er später sagte, keine Romane, sondern „indifferente" Bücher: Kotzebue, Schiller (auch die Jungfrau von Orleans), Campe, Fenelon und Voltaires Geschichte Karls des Zwölften. Die römische Geschichte kannte er aus der allgemeinen Weltgeschichte von Schröckh; dabei fesselte ihn der Mord, den Romulus an Remus beging, aber des Brutus und des Cinna erinnerte er sich später nicht mehr. Die französische Geschichte interessierte ihn erst von der Revolution an; er wußte, daß mehrere Personen auf den Kaiser erfolglose Anschläge verübt hatten, aber Charlotte Corday und Georges Cadacdel kannte er nicht. Nach dein Ausbruch des Krieges 1809 hörte er in Erfurt in den Cafös, Napoleon führe Krieg, nur um sich zum Herrn von Europa zu machen. Da schwand auch der Enthusiasmus dahin, den er dem Kaiser früher fo lebhaft entgegen getragen hatte; seine Liebe verwandelte sich in Haß, und er faßte den Entschluß, ihn im ersten günstigen Augenblick ums Leben zu bringen. Das war zur Zeit der Kämpfe um Wagram (5. und 6. Juli). Als er dann in öffentlichen Blättern, namentlich in Frankfurter und Berliner Zeitungen las, beinahe ganz Deutschland sei von französischen Truppen besetzt und verheert, die Bewohner ihres Vermögens beraubt und unglücklich gemacht, wollte er seinen Plan wirklich ausführen. In seinein Vorhaben bestärkte ihn die Anwesenheit mehrerer Sächsischer Offiziere und Unteroffiziere in Erfurt, die Rekrutierungen vornahmen. Einer von ihnen erzählte, die sächsische Armee, die vorher 16000 Mann umfaßt habe, sei durch die Schlacht bei Wagram auf 4000 Mann zusammengeschmolzen. Die Offiziere berichteten, die Sachsen seien von den Franzosen zum Angriff gezwungen worden; man habe im allgemeinen jedes Mittel versucht, sie zu vernichten. Diese Mitteilungen fanden Glauben, und man freute sich, daß auch die Franzosen schwere Verluste erlitten hatten. Stepß hoffte, nach dem Tode ihres Kaisers würden die Feinde aus Deutschland vertrieben, der Handel wieder aufleben, die Völker glücklicher werden. Aber von dem Augenblick an, wo in den Zeitungen von einem baldigen Frieden die Rede war, gab er sein Vorhaben wieder auf. Zu Anfang August, zur Zeit des Kirschfestes, weilte er acht Tage im Elternhause in Naumburg: „Heiter und unbefangen", erzählte sein Vater, „kam er an und vergnügte sich mit den Kindern und Eltern wie nur irgend ein junger Mensch, dem die Welt vor ihm lacht, und der an nichts Arges oder Ernsthaftes denkt." Seine eifrige Teilnahme an den Kriegsereignissen war den Eltern nicht verborgen geblieben; einmal hatte er den Vater gebeten, ihm alles zu schreiben, was er wisse. „Denn wir müssen doch alles erfahren, trotz der umherschleichenden schändlichen Polizei." In Naumburg sprach er dann davon, daß vielleicht bald der Friede geschlossen würde, und die Truppen dann nach Spanien abgingen. Der alte Stepß scheint gefürchtet zu haben, daß sein Sohn

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/225>, abgerufen am 23.07.2024.