Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Vaganten
Dies Gebot, im Klemm gilt's,
Wie es gilt im Großen:
Hast ein Hemd du im Besitz,
Brauchst du keine Hosen,
Keine Strümpfe, wenn ein Schuh
Trotze dem nassen Wetter,
Ausgestoßen aus dein Bund
Wird der Übertreter.
Keiner soll, bevor er satt,
Sich vom Tisch erheben,
Und dann bitte er den Wirt,
Ein Geschenk zu geben.
Mit 'nem einigen Heller kaun
Vieles mau gewinnen,
Wenn der Spieler es versteht,
Richtig zu beginnen.
Keiner auf der Reise soll
Gehn dem Wind entgegen,
Noch in düstre Falten auch
Seine Stirne legen;
Geht es schlecht, so zeiget doch
Hoffnung allerwegen,
Denn es scheint die Sonne klar
Wieder nach dem Regen.

Wie die Orden gaben auch die Vaganten den Neueintretenden ein neues
Gewand und einen neuen Namen (Kneipnamen).

Primas oder Golias wurden solche genannt, die als Dichter ihre Genossen
übertrafen. Von einem, der als Archipoeta bekannt ist und eine Reihe der
besten Vagantenlieder verfaßt hat, wissen wir, daß er in den Jahren 1159 bis
1164 dichtete, ein Deutscher war, wahrscheinlich aus adligen Geschlecht stammte
und eine Zeitlang am Hofe des Reichskanzlers Reinald von Dassel lebte.
Mehr leider nicht.

Cäsarius von Heisterbach erzählt "von einem "agierenden Kleriker namens
Nikolaus, den sie den Archipoeta nennen", der dreißig bis vierzig Jahre später
den Heisterbacher Mönchen einen Streich spielte. schwerkrank und den Tod
vor Augen nahm er mit vieler Reue das Ordensgewand; als er aber wieder
gesund wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als es wieder auszuziehen und
"lachend die Kutte hinwerfend" sich davonzumachen. Ob wir hier denselben
Archipoeten vor uns haben, ist aber sehr zweifelhaft. Den Titel kann sich
später auch ein zweiter beigelegt haben.

Alle übrigen Dichter kennen wir überhaupt uicht näher und wissen auch
nicht, wie viele ihrer waren. Wahrscheinlich aber sind sie nicht sehr zahlreich
gewesen und haben sich die meisten Vaganten darauf beschränkt, das von
anderen Verfaßte zu verbreiten.

Die Lieder sind in lateinischer Sprache verfaßt, teils wegen der eigenen
Gewöhnung an diese Sprache, teils weil die geistlichen Höfe und die Pfarr-


Die Vaganten
Dies Gebot, im Klemm gilt's,
Wie es gilt im Großen:
Hast ein Hemd du im Besitz,
Brauchst du keine Hosen,
Keine Strümpfe, wenn ein Schuh
Trotze dem nassen Wetter,
Ausgestoßen aus dein Bund
Wird der Übertreter.
Keiner soll, bevor er satt,
Sich vom Tisch erheben,
Und dann bitte er den Wirt,
Ein Geschenk zu geben.
Mit 'nem einigen Heller kaun
Vieles mau gewinnen,
Wenn der Spieler es versteht,
Richtig zu beginnen.
Keiner auf der Reise soll
Gehn dem Wind entgegen,
Noch in düstre Falten auch
Seine Stirne legen;
Geht es schlecht, so zeiget doch
Hoffnung allerwegen,
Denn es scheint die Sonne klar
Wieder nach dem Regen.

Wie die Orden gaben auch die Vaganten den Neueintretenden ein neues
Gewand und einen neuen Namen (Kneipnamen).

Primas oder Golias wurden solche genannt, die als Dichter ihre Genossen
übertrafen. Von einem, der als Archipoeta bekannt ist und eine Reihe der
besten Vagantenlieder verfaßt hat, wissen wir, daß er in den Jahren 1159 bis
1164 dichtete, ein Deutscher war, wahrscheinlich aus adligen Geschlecht stammte
und eine Zeitlang am Hofe des Reichskanzlers Reinald von Dassel lebte.
Mehr leider nicht.

Cäsarius von Heisterbach erzählt „von einem «agierenden Kleriker namens
Nikolaus, den sie den Archipoeta nennen", der dreißig bis vierzig Jahre später
den Heisterbacher Mönchen einen Streich spielte. schwerkrank und den Tod
vor Augen nahm er mit vieler Reue das Ordensgewand; als er aber wieder
gesund wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als es wieder auszuziehen und
„lachend die Kutte hinwerfend" sich davonzumachen. Ob wir hier denselben
Archipoeten vor uns haben, ist aber sehr zweifelhaft. Den Titel kann sich
später auch ein zweiter beigelegt haben.

Alle übrigen Dichter kennen wir überhaupt uicht näher und wissen auch
nicht, wie viele ihrer waren. Wahrscheinlich aber sind sie nicht sehr zahlreich
gewesen und haben sich die meisten Vaganten darauf beschränkt, das von
anderen Verfaßte zu verbreiten.

Die Lieder sind in lateinischer Sprache verfaßt, teils wegen der eigenen
Gewöhnung an diese Sprache, teils weil die geistlichen Höfe und die Pfarr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316468"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Vaganten</fw><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_4" type="poem">
            <l> Dies Gebot, im Klemm gilt's,<lb/>
Wie es gilt im Großen:<lb/>
Hast ein Hemd du im Besitz,<lb/>
Brauchst du keine Hosen,<lb/>
Keine Strümpfe, wenn ein Schuh<lb/>
Trotze dem nassen Wetter,<lb/>
Ausgestoßen aus dein Bund<lb/>
Wird der Übertreter.</l>
            <l> Keiner soll, bevor er satt,<lb/>
Sich vom Tisch erheben,<lb/>
Und dann bitte er den Wirt,<lb/>
Ein Geschenk zu geben.<lb/>
Mit 'nem einigen Heller kaun<lb/>
Vieles mau gewinnen,<lb/>
Wenn der Spieler es versteht,<lb/>
Richtig zu beginnen.</l>
            <l> Keiner auf der Reise soll<lb/>
Gehn dem Wind entgegen,<lb/>
Noch in düstre Falten auch<lb/>
Seine Stirne legen;<lb/>
Geht es schlecht, so zeiget doch<lb/>
Hoffnung allerwegen,<lb/>
Denn es scheint die Sonne klar<lb/>
Wieder nach dem Regen.</l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_679"> Wie die Orden gaben auch die Vaganten den Neueintretenden ein neues<lb/>
Gewand und einen neuen Namen (Kneipnamen).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_680"> Primas oder Golias wurden solche genannt, die als Dichter ihre Genossen<lb/>
übertrafen. Von einem, der als Archipoeta bekannt ist und eine Reihe der<lb/>
besten Vagantenlieder verfaßt hat, wissen wir, daß er in den Jahren 1159 bis<lb/>
1164 dichtete, ein Deutscher war, wahrscheinlich aus adligen Geschlecht stammte<lb/>
und eine Zeitlang am Hofe des Reichskanzlers Reinald von Dassel lebte.<lb/>
Mehr leider nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_681"> Cäsarius von Heisterbach erzählt &#x201E;von einem «agierenden Kleriker namens<lb/>
Nikolaus, den sie den Archipoeta nennen", der dreißig bis vierzig Jahre später<lb/>
den Heisterbacher Mönchen einen Streich spielte. schwerkrank und den Tod<lb/>
vor Augen nahm er mit vieler Reue das Ordensgewand; als er aber wieder<lb/>
gesund wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als es wieder auszuziehen und<lb/>
&#x201E;lachend die Kutte hinwerfend" sich davonzumachen. Ob wir hier denselben<lb/>
Archipoeten vor uns haben, ist aber sehr zweifelhaft. Den Titel kann sich<lb/>
später auch ein zweiter beigelegt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_682"> Alle übrigen Dichter kennen wir überhaupt uicht näher und wissen auch<lb/>
nicht, wie viele ihrer waren. Wahrscheinlich aber sind sie nicht sehr zahlreich<lb/>
gewesen und haben sich die meisten Vaganten darauf beschränkt, das von<lb/>
anderen Verfaßte zu verbreiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_683" next="#ID_684"> Die Lieder sind in lateinischer Sprache verfaßt, teils wegen der eigenen<lb/>
Gewöhnung an diese Sprache, teils weil die geistlichen Höfe und die Pfarr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Die Vaganten Dies Gebot, im Klemm gilt's, Wie es gilt im Großen: Hast ein Hemd du im Besitz, Brauchst du keine Hosen, Keine Strümpfe, wenn ein Schuh Trotze dem nassen Wetter, Ausgestoßen aus dein Bund Wird der Übertreter. Keiner soll, bevor er satt, Sich vom Tisch erheben, Und dann bitte er den Wirt, Ein Geschenk zu geben. Mit 'nem einigen Heller kaun Vieles mau gewinnen, Wenn der Spieler es versteht, Richtig zu beginnen. Keiner auf der Reise soll Gehn dem Wind entgegen, Noch in düstre Falten auch Seine Stirne legen; Geht es schlecht, so zeiget doch Hoffnung allerwegen, Denn es scheint die Sonne klar Wieder nach dem Regen. Wie die Orden gaben auch die Vaganten den Neueintretenden ein neues Gewand und einen neuen Namen (Kneipnamen). Primas oder Golias wurden solche genannt, die als Dichter ihre Genossen übertrafen. Von einem, der als Archipoeta bekannt ist und eine Reihe der besten Vagantenlieder verfaßt hat, wissen wir, daß er in den Jahren 1159 bis 1164 dichtete, ein Deutscher war, wahrscheinlich aus adligen Geschlecht stammte und eine Zeitlang am Hofe des Reichskanzlers Reinald von Dassel lebte. Mehr leider nicht. Cäsarius von Heisterbach erzählt „von einem «agierenden Kleriker namens Nikolaus, den sie den Archipoeta nennen", der dreißig bis vierzig Jahre später den Heisterbacher Mönchen einen Streich spielte. schwerkrank und den Tod vor Augen nahm er mit vieler Reue das Ordensgewand; als er aber wieder gesund wurde, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als es wieder auszuziehen und „lachend die Kutte hinwerfend" sich davonzumachen. Ob wir hier denselben Archipoeten vor uns haben, ist aber sehr zweifelhaft. Den Titel kann sich später auch ein zweiter beigelegt haben. Alle übrigen Dichter kennen wir überhaupt uicht näher und wissen auch nicht, wie viele ihrer waren. Wahrscheinlich aber sind sie nicht sehr zahlreich gewesen und haben sich die meisten Vaganten darauf beschränkt, das von anderen Verfaßte zu verbreiten. Die Lieder sind in lateinischer Sprache verfaßt, teils wegen der eigenen Gewöhnung an diese Sprache, teils weil die geistlichen Höfe und die Pfarr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/179>, abgerufen am 23.07.2024.