Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.Gin Gottesurteil Dann spannten sich die beiden Männer vor den Wagen und fuhren davon. Toni blieb bei dem grünen Wagen zurück. Zuerst kümmerten sich die beiden "Dn fürchtest dich also gar nicht?" sagte sie, indem sie zu Toni trat. "Nein, Die Frau rief der anderen etwas zu in dieser unverständlichen, aber wohl¬ Als sie auf dem Hauptplatz ankamen, war es schon fast elf Uhr. Alles war Toni stand ganz erstarrt. Sein erster Gedanke war, sich zu retten, davonzulaufen, sich zu verstecken. Er schüttelte alle Bedenken ab und trat in den Hausflur der Mohrenapotheke^ Toni sah sich in diesem stillen, abgeschlossenen Flur des Patrizierhauses voll Der Geruch war da, er legte sich so beklemmend auf die Brust und es war. Gin Gottesurteil Dann spannten sich die beiden Männer vor den Wagen und fuhren davon. Toni blieb bei dem grünen Wagen zurück. Zuerst kümmerten sich die beiden „Dn fürchtest dich also gar nicht?" sagte sie, indem sie zu Toni trat. „Nein, Die Frau rief der anderen etwas zu in dieser unverständlichen, aber wohl¬ Als sie auf dem Hauptplatz ankamen, war es schon fast elf Uhr. Alles war Toni stand ganz erstarrt. Sein erster Gedanke war, sich zu retten, davonzulaufen, sich zu verstecken. Er schüttelte alle Bedenken ab und trat in den Hausflur der Mohrenapotheke^ Toni sah sich in diesem stillen, abgeschlossenen Flur des Patrizierhauses voll Der Geruch war da, er legte sich so beklemmend auf die Brust und es war. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316444"/> <fw type="header" place="top"> Gin Gottesurteil</fw><lb/> <p xml:id="ID_552"> Dann spannten sich die beiden Männer vor den Wagen und fuhren davon.<lb/> Die Kinder, bis auf die zwei jüngsten, die noch nicht laufen konnten, zogen hinterdrein.</p><lb/> <p xml:id="ID_553"> Toni blieb bei dem grünen Wagen zurück. Zuerst kümmerten sich die beiden<lb/> Frauen nicht um ihn; sie hatten alle Hände voll zu tun mit Geschirrwaschen<lb/> und den Vorbereitungen für das Mittagessen. Einige Neugierige hatten sich<lb/> wieder eingefunden und standen in Gruppen herum. Toni hielt sich ganz nahe<lb/> zu dem grünen Wagen, daß man sehen konnte, er habe ein Recht darauf, hier<lb/> zu sein. Als es von dem Turin der Stadtpfarrkirche zehn Uhr schlug, verschwand<lb/> die eine der Frauen auf eine Weile im Wagen und kam dann in buntfarbigen<lb/> Sonntagsstaat zurück. Sie trug ein grünes Mieder und einen kurzen roten Rock.<lb/> Toni sah sie bewundernd an. Sie war groß und stark und ihr Gesicht war ganz<lb/> von Pockennarben zerrissen."</p><lb/> <p xml:id="ID_554"> „Dn fürchtest dich also gar nicht?" sagte sie, indem sie zu Toni trat. „Nein,<lb/> sagte er und schaute zu ihr empor. Sie gefiel ihm sehr gut in ihrer bunten<lb/> Tracht, die in ihm die Vorstellung sehr ferner Länder erweckte.</p><lb/> <p xml:id="ID_555"> Die Frau rief der anderen etwas zu in dieser unverständlichen, aber wohl¬<lb/> lautenden Sprache, in der sie sich den ganzen Morgen miteinander unterhalten<lb/> hatten. Dann bückte sie sich und küßte Toni auf die Stirn. Eine tiefe Dankbarkeit<lb/> für diese zärtliche Berührung erfüllte ihn.</p><lb/> <p xml:id="ID_556"> Als sie auf dem Hauptplatz ankamen, war es schon fast elf Uhr. Alles war<lb/> schwarz von Menschen. Hoch über ihren Köpfen zog sich das Seil über die ganze<lb/> Breite des Platzes vom dritten Stockwerk der Mohrenapotheke zu dem des<lb/> gegenüberliegenden Hauses — und dieses gegenüberliegende Haus war das, unter<lb/> dessen Dach Tonis Eltern wohnten.</p><lb/> <p xml:id="ID_557"> Toni stand ganz erstarrt.</p><lb/> <p xml:id="ID_558"> Sein erster Gedanke war, sich zu retten, davonzulaufen, sich zu verstecken.<lb/> Wie schrecklich, daß man gerade dieses Haus ausgewählt hatte. Aber dann kam<lb/> ihm ein verzweifelter Mut. Wenn er jetzt zurücktrat, so war erwiesen, daß er<lb/> untauglich und feige war, und er mußte dann allen Spott seiner Feinde über sich<lb/> ergehen lassen. Und Amerika war für immer verloren.</p><lb/> <p xml:id="ID_559"> Er schüttelte alle Bedenken ab und trat in den Hausflur der Mohrenapotheke^<lb/> wo er schon von Richard Nichardson erwartet wurde. Der Seiltänzer trug das grelle<lb/> Kostüm seines Standes. Da war ein anpassender Stoff über Brust und Beine<lb/> gezogen, so eng und dünn, daß man das Fleisch durchschimmern sehen konnte.<lb/> Darüber dann eine kurze, grüne Hose und eine blaue Weste. Diese bunten<lb/> Farben nahmen sich in dem vornehmen Hausflur der Mohrenapotheke sehr<lb/> seltsam aus, sie stachen von dem braunen Holz der Wandverkleidung ab, sie<lb/> wurden von den herabhängenden Glasprismen eines Deckenlüsters in tausend<lb/> Stückchen zerpflückt.</p><lb/> <p xml:id="ID_560"> Toni sah sich in diesem stillen, abgeschlossenen Flur des Patrizierhauses voll<lb/> Ehrfurcht und Andacht um. Zwei Dinge waren es, die ihn immer so zauberhaft<lb/> angezogen hatten und dieses Haus in den Mittelpunkt eines heroischen Gedanken¬<lb/> kreises von Eroberung und Erfolg stellten. Dieser merkwürdige Geruch von<lb/> Drogen und Spezereien, der einem entgegenschlug, wenn man nnr an der geöffneten<lb/> Türe vorüberging. Und dann ein blondes Mädchen, das immer so fein und<lb/> sauber angezogen war, wie die großen Puppen, wenn sie geradenwegs aus der<lb/> Schachtel kommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_561" next="#ID_562"> Der Geruch war da, er legte sich so beklemmend auf die Brust und es war.<lb/> als dränge er durch alle Poren der Haut in den Körper. Und auch das blonde Mädchen<lb/> war da. Es stand im ersten Stock des Hauses, vor einer mit weißen Gardinen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0155]
Gin Gottesurteil
Dann spannten sich die beiden Männer vor den Wagen und fuhren davon.
Die Kinder, bis auf die zwei jüngsten, die noch nicht laufen konnten, zogen hinterdrein.
Toni blieb bei dem grünen Wagen zurück. Zuerst kümmerten sich die beiden
Frauen nicht um ihn; sie hatten alle Hände voll zu tun mit Geschirrwaschen
und den Vorbereitungen für das Mittagessen. Einige Neugierige hatten sich
wieder eingefunden und standen in Gruppen herum. Toni hielt sich ganz nahe
zu dem grünen Wagen, daß man sehen konnte, er habe ein Recht darauf, hier
zu sein. Als es von dem Turin der Stadtpfarrkirche zehn Uhr schlug, verschwand
die eine der Frauen auf eine Weile im Wagen und kam dann in buntfarbigen
Sonntagsstaat zurück. Sie trug ein grünes Mieder und einen kurzen roten Rock.
Toni sah sie bewundernd an. Sie war groß und stark und ihr Gesicht war ganz
von Pockennarben zerrissen."
„Dn fürchtest dich also gar nicht?" sagte sie, indem sie zu Toni trat. „Nein,
sagte er und schaute zu ihr empor. Sie gefiel ihm sehr gut in ihrer bunten
Tracht, die in ihm die Vorstellung sehr ferner Länder erweckte.
Die Frau rief der anderen etwas zu in dieser unverständlichen, aber wohl¬
lautenden Sprache, in der sie sich den ganzen Morgen miteinander unterhalten
hatten. Dann bückte sie sich und küßte Toni auf die Stirn. Eine tiefe Dankbarkeit
für diese zärtliche Berührung erfüllte ihn.
Als sie auf dem Hauptplatz ankamen, war es schon fast elf Uhr. Alles war
schwarz von Menschen. Hoch über ihren Köpfen zog sich das Seil über die ganze
Breite des Platzes vom dritten Stockwerk der Mohrenapotheke zu dem des
gegenüberliegenden Hauses — und dieses gegenüberliegende Haus war das, unter
dessen Dach Tonis Eltern wohnten.
Toni stand ganz erstarrt.
Sein erster Gedanke war, sich zu retten, davonzulaufen, sich zu verstecken.
Wie schrecklich, daß man gerade dieses Haus ausgewählt hatte. Aber dann kam
ihm ein verzweifelter Mut. Wenn er jetzt zurücktrat, so war erwiesen, daß er
untauglich und feige war, und er mußte dann allen Spott seiner Feinde über sich
ergehen lassen. Und Amerika war für immer verloren.
Er schüttelte alle Bedenken ab und trat in den Hausflur der Mohrenapotheke^
wo er schon von Richard Nichardson erwartet wurde. Der Seiltänzer trug das grelle
Kostüm seines Standes. Da war ein anpassender Stoff über Brust und Beine
gezogen, so eng und dünn, daß man das Fleisch durchschimmern sehen konnte.
Darüber dann eine kurze, grüne Hose und eine blaue Weste. Diese bunten
Farben nahmen sich in dem vornehmen Hausflur der Mohrenapotheke sehr
seltsam aus, sie stachen von dem braunen Holz der Wandverkleidung ab, sie
wurden von den herabhängenden Glasprismen eines Deckenlüsters in tausend
Stückchen zerpflückt.
Toni sah sich in diesem stillen, abgeschlossenen Flur des Patrizierhauses voll
Ehrfurcht und Andacht um. Zwei Dinge waren es, die ihn immer so zauberhaft
angezogen hatten und dieses Haus in den Mittelpunkt eines heroischen Gedanken¬
kreises von Eroberung und Erfolg stellten. Dieser merkwürdige Geruch von
Drogen und Spezereien, der einem entgegenschlug, wenn man nnr an der geöffneten
Türe vorüberging. Und dann ein blondes Mädchen, das immer so fein und
sauber angezogen war, wie die großen Puppen, wenn sie geradenwegs aus der
Schachtel kommen.
Der Geruch war da, er legte sich so beklemmend auf die Brust und es war.
als dränge er durch alle Poren der Haut in den Körper. Und auch das blonde Mädchen
war da. Es stand im ersten Stock des Hauses, vor einer mit weißen Gardinen
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