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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Hans Memling

tut, so hat auch Memling hier eine ganze Anzahl Szenen auf einer Leinwand
dem Auge vorgeführt. Nur durch Landschaft oder Architektur sind sie voneinander
getrennt, nicht durch den Rahmen. Man hat beim Überblick über das Ganze
die Vorstellung, als ob alle diese Vorgänge gleichzeitig seien, was doch ihrer
innern Natur nach widersinnig wäre. Die Verkündigung, die Geburt Christi,
die Himmelfahrt der Maria, alles sieht man in derselben landschaftlichen Szenerie
gleichzeitig dargestellt. Im ganzen machen die Bilder einen peinlichen, unruhigen
Eindruck. Im einzelnen zeigen sie das seit Rogier auch in der flämischen
Kunst rasch gewachsene Vermögen der Disposition über Massen von Figuren,
auch das sich stets weiterbildende Gefühl der Gruppenbildung. Und dann
vor allem die Technik der Durchführung. "Memling", so sagt Voll, "hat
ja oft eine große Frische, aber mir ist kein zweiter Fall bekannt, wo er
eine solche Bewegungsfreiheit entfaltet hätte wie auf dem Turiner Bilde. Man
darf sogar sagen, daß in der gesamten altniederländischen Malerei kein Bild
existiert, das so viel Feinheit und Sicherheit in den Bewegungen der Menschen-
gestalt zeigt." "Die Farben der ins Licht gestellten Figuren sind freilich noch
nach Quattrocento-Art fest und prall: aber wo immer sich durch die Natur des
Motivs Gelegenheit gibt, zarte Farbenübergänge zu wählen oder gar das
unsichere Licht der Dämmerung zu malen, da ergreift sie Memling mit Freude,
und er erzielt so weiche Abstufungen, daß man gerade beim Kolorit des Turiner
Bildes nun auch noch deutlich erkannte, wie eine neue Zeit heraufkommt, die
den Ton und die Nuance als fruchtbringende Elemente in die Malerei einführt,
um nun in der Farbe jene Wahrheit der Erscheinung zu erreichen, die in der
Form schon seit dem Beginn des eigentlichen Quattrocento angestrebt war.
Denn das ist doch nicht zu übersehen, daß die Pracht des altniederländischen
Kolorits auf Kosten der Wahrheit gegangen ist, und daß selbst Eyck trotz der
unbegreiflichen Wunder seiner Technik in der Farbe kein so starker Realist
gewesen ist, wie in der Form und Zeichnung. Wenn nun aber bei Memlings
letzten Werken sich gar auch noch im Kolorit ein so bemerkenswerter Umschwung
ankündigt, dann kann man sagen, daß von da ab das Geschick der nieder¬
ländischen Malerei als vollendet und abgeschlossen angesehen werden kann; denn
die Entwicklung der Malerei beruht vor allen Dingen auf dem Standpunkt, den
die Künstler der Farbe gegenüber einnehmen."

Das gilt natürlich vor allem von der Farbe im ästhetischen Sinne. Es
kommt aber auch die Farbe in Technik und in rein materiellem Sinne hinzu.
Mit dem Anfang der altflämischen Schule fällt die Ölmalerei zusammen. Das
Bindemittel spielt eine entscheidende Rolle. Was die Antike benutzt hat, wissen
wir nicht. Die aus gräko-ägyptischer Zeit aufgefundenen, jetzt im Museum in
Kairo aufbewahrten Bilder sind wunderbar erhalten; die Technik ist noch nicht
völlig entschleiert. Von beispielloser Frische sind die Wandbilder in den
ägyptischen Grabgemächern; sie verdanken ihre vortreffliche Erhaltung der
Trockenheit der Luft und der vollständigen Absperrung des Lichts. Das


Hans Memling

tut, so hat auch Memling hier eine ganze Anzahl Szenen auf einer Leinwand
dem Auge vorgeführt. Nur durch Landschaft oder Architektur sind sie voneinander
getrennt, nicht durch den Rahmen. Man hat beim Überblick über das Ganze
die Vorstellung, als ob alle diese Vorgänge gleichzeitig seien, was doch ihrer
innern Natur nach widersinnig wäre. Die Verkündigung, die Geburt Christi,
die Himmelfahrt der Maria, alles sieht man in derselben landschaftlichen Szenerie
gleichzeitig dargestellt. Im ganzen machen die Bilder einen peinlichen, unruhigen
Eindruck. Im einzelnen zeigen sie das seit Rogier auch in der flämischen
Kunst rasch gewachsene Vermögen der Disposition über Massen von Figuren,
auch das sich stets weiterbildende Gefühl der Gruppenbildung. Und dann
vor allem die Technik der Durchführung. „Memling", so sagt Voll, „hat
ja oft eine große Frische, aber mir ist kein zweiter Fall bekannt, wo er
eine solche Bewegungsfreiheit entfaltet hätte wie auf dem Turiner Bilde. Man
darf sogar sagen, daß in der gesamten altniederländischen Malerei kein Bild
existiert, das so viel Feinheit und Sicherheit in den Bewegungen der Menschen-
gestalt zeigt." „Die Farben der ins Licht gestellten Figuren sind freilich noch
nach Quattrocento-Art fest und prall: aber wo immer sich durch die Natur des
Motivs Gelegenheit gibt, zarte Farbenübergänge zu wählen oder gar das
unsichere Licht der Dämmerung zu malen, da ergreift sie Memling mit Freude,
und er erzielt so weiche Abstufungen, daß man gerade beim Kolorit des Turiner
Bildes nun auch noch deutlich erkannte, wie eine neue Zeit heraufkommt, die
den Ton und die Nuance als fruchtbringende Elemente in die Malerei einführt,
um nun in der Farbe jene Wahrheit der Erscheinung zu erreichen, die in der
Form schon seit dem Beginn des eigentlichen Quattrocento angestrebt war.
Denn das ist doch nicht zu übersehen, daß die Pracht des altniederländischen
Kolorits auf Kosten der Wahrheit gegangen ist, und daß selbst Eyck trotz der
unbegreiflichen Wunder seiner Technik in der Farbe kein so starker Realist
gewesen ist, wie in der Form und Zeichnung. Wenn nun aber bei Memlings
letzten Werken sich gar auch noch im Kolorit ein so bemerkenswerter Umschwung
ankündigt, dann kann man sagen, daß von da ab das Geschick der nieder¬
ländischen Malerei als vollendet und abgeschlossen angesehen werden kann; denn
die Entwicklung der Malerei beruht vor allen Dingen auf dem Standpunkt, den
die Künstler der Farbe gegenüber einnehmen."

Das gilt natürlich vor allem von der Farbe im ästhetischen Sinne. Es
kommt aber auch die Farbe in Technik und in rein materiellem Sinne hinzu.
Mit dem Anfang der altflämischen Schule fällt die Ölmalerei zusammen. Das
Bindemittel spielt eine entscheidende Rolle. Was die Antike benutzt hat, wissen
wir nicht. Die aus gräko-ägyptischer Zeit aufgefundenen, jetzt im Museum in
Kairo aufbewahrten Bilder sind wunderbar erhalten; die Technik ist noch nicht
völlig entschleiert. Von beispielloser Frische sind die Wandbilder in den
ägyptischen Grabgemächern; sie verdanken ihre vortreffliche Erhaltung der
Trockenheit der Luft und der vollständigen Absperrung des Lichts. Das


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[0145] Hans Memling tut, so hat auch Memling hier eine ganze Anzahl Szenen auf einer Leinwand dem Auge vorgeführt. Nur durch Landschaft oder Architektur sind sie voneinander getrennt, nicht durch den Rahmen. Man hat beim Überblick über das Ganze die Vorstellung, als ob alle diese Vorgänge gleichzeitig seien, was doch ihrer innern Natur nach widersinnig wäre. Die Verkündigung, die Geburt Christi, die Himmelfahrt der Maria, alles sieht man in derselben landschaftlichen Szenerie gleichzeitig dargestellt. Im ganzen machen die Bilder einen peinlichen, unruhigen Eindruck. Im einzelnen zeigen sie das seit Rogier auch in der flämischen Kunst rasch gewachsene Vermögen der Disposition über Massen von Figuren, auch das sich stets weiterbildende Gefühl der Gruppenbildung. Und dann vor allem die Technik der Durchführung. „Memling", so sagt Voll, „hat ja oft eine große Frische, aber mir ist kein zweiter Fall bekannt, wo er eine solche Bewegungsfreiheit entfaltet hätte wie auf dem Turiner Bilde. Man darf sogar sagen, daß in der gesamten altniederländischen Malerei kein Bild existiert, das so viel Feinheit und Sicherheit in den Bewegungen der Menschen- gestalt zeigt." „Die Farben der ins Licht gestellten Figuren sind freilich noch nach Quattrocento-Art fest und prall: aber wo immer sich durch die Natur des Motivs Gelegenheit gibt, zarte Farbenübergänge zu wählen oder gar das unsichere Licht der Dämmerung zu malen, da ergreift sie Memling mit Freude, und er erzielt so weiche Abstufungen, daß man gerade beim Kolorit des Turiner Bildes nun auch noch deutlich erkannte, wie eine neue Zeit heraufkommt, die den Ton und die Nuance als fruchtbringende Elemente in die Malerei einführt, um nun in der Farbe jene Wahrheit der Erscheinung zu erreichen, die in der Form schon seit dem Beginn des eigentlichen Quattrocento angestrebt war. Denn das ist doch nicht zu übersehen, daß die Pracht des altniederländischen Kolorits auf Kosten der Wahrheit gegangen ist, und daß selbst Eyck trotz der unbegreiflichen Wunder seiner Technik in der Farbe kein so starker Realist gewesen ist, wie in der Form und Zeichnung. Wenn nun aber bei Memlings letzten Werken sich gar auch noch im Kolorit ein so bemerkenswerter Umschwung ankündigt, dann kann man sagen, daß von da ab das Geschick der nieder¬ ländischen Malerei als vollendet und abgeschlossen angesehen werden kann; denn die Entwicklung der Malerei beruht vor allen Dingen auf dem Standpunkt, den die Künstler der Farbe gegenüber einnehmen." Das gilt natürlich vor allem von der Farbe im ästhetischen Sinne. Es kommt aber auch die Farbe in Technik und in rein materiellem Sinne hinzu. Mit dem Anfang der altflämischen Schule fällt die Ölmalerei zusammen. Das Bindemittel spielt eine entscheidende Rolle. Was die Antike benutzt hat, wissen wir nicht. Die aus gräko-ägyptischer Zeit aufgefundenen, jetzt im Museum in Kairo aufbewahrten Bilder sind wunderbar erhalten; die Technik ist noch nicht völlig entschleiert. Von beispielloser Frische sind die Wandbilder in den ägyptischen Grabgemächern; sie verdanken ihre vortreffliche Erhaltung der Trockenheit der Luft und der vollständigen Absperrung des Lichts. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/145>, abgerufen am 22.07.2024.