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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Llsciß-lothringische Fragen

technischen Erwägungen begründet. Die annektierten Provinzen hatten sich den
Interessen des Reiches unterzuordnen. Auch in der folgenden dem Ausbau
des Reiches gewidmeten Zeit blieb dieser Gesichtspunkt maßgebend. Die Über¬
tragung der bis dahin vom Reichskanzler ausgeübten Verwaltungsbefugnisse
und einiger kaiserlicher Hoheitsrechte auf einen vom Kaiser ernannten Statt¬
halter änderte zunächst nichts wesentliches daran.

Erst nach Bismarcks Abgang wird das anders. Sonderbestrebungen der
Bundesstaaten überwuchern den Reichsgedanken. Eigenbrötelei und Partei¬
gezänk gewinnen die Oberhand. Sie lähmen ebensosehr die Stoß- und
Werbekraft des Deutschtums im Reichslande wie die Reichsregierung selbst,
die alle ihre Kräfte anspannen muß, um in mühseligen Kleinkämpfen mit
wechselnden Mehrheiten wenigstens das Notwendigste zur Sicherung der
wirtschaftlichen und militärischen Machtstellung des Reiches durchzusetzen.
Befangen in der Sorge für die Bedürfnisse des Tages findet die Reichsregierung
nicht mehr genügend Zeit und Kraft, auch die Aufgaben im Auge zu behalten
und zu fördern, die in Elsaß-Lothringen des Reiches harren. An Stelle der
anfänglichen weitausschauenden Fürsorge für die Wahrung dieser Neichsinteressen
tritt müde resignierte Gleichgültigkeit. Elsaß-Lothringen wird seinem Schicksale
überlassen. Die Wirkung zeigt sich bald. Die elsaß-lothringische Negierung,
ohne Rückhalt bei der Reichsregierung, welche kaum der eigenen Schwierig¬
keiten der Reichspolitik Herr wird, verliert sich in den kleinen
Forderungen des Tages. Sie versucht, mit dem Landesausschusse fertig zu
werden, so gut oder so schlecht es eben geht. Dieser wiederum erkennt sehr
bald die Vorteile, die aus der neuen Konstellation gezogen werden können.
Besonders die inzwischen herangewachsene, zum Teil auf deutschen Universitäten
geschulte junge Generation wird sich ihrer Macht bewußt und gebraucht sie
in rücksichtsloser Weise. Anfänglichen mehr oder minder berechtigten Beschwerden
über einzelne Mißstände und Mißgriffe der Verwaltung folgen bald Einmischungen
in sämtliche Gebiete der Verwaltung überhaupt. Die Negierung weicht mutig
zurück. Doch ihre Zugeständnisse können den Sturm nicht beschwichtigen. Im
Gegenteil sie steigern noch die Begehrlichkeit der stimm- und lungenkräftigen, durch
keinen überflüssigen Ballast an persönlichem und politischem Anstandsgefühl
beschwerten jnngelsässtschen Politiker. Die schwache Haltung der Regierung gegen¬
über persönlichen Wünschen der Notabeln zeitigt noch eine weitere höchst bedauerliche
Folge. In gleichem Maße, wie die Opposition gegen die Negierung von dieser
mit Zugeständnissen auf allen möglichen persönlichen, oft rein geschäftlichen Gebiet
belohnt wird, schwindet bei der Bevölkerung das Vertrauen in die Gerechtigkeit
und Unparteilichkeit der Regierung und es wächst der manchmal geradezu naive
Glaube an die Macht der Landesausschuß- und Bezirkstags-Mitglieder. Diese
ihrerseits suchen solchen Glauben möglichst zu stärken und ebensosehr gegen
politische Gegner (d. i. die Mehrzahl der loyalen, ruhig denkenden Bevölkerung)
wie gegen geschäftliche Konkurrenten auszunutzen. Die Politik wird, wenigstens


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technischen Erwägungen begründet. Die annektierten Provinzen hatten sich den
Interessen des Reiches unterzuordnen. Auch in der folgenden dem Ausbau
des Reiches gewidmeten Zeit blieb dieser Gesichtspunkt maßgebend. Die Über¬
tragung der bis dahin vom Reichskanzler ausgeübten Verwaltungsbefugnisse
und einiger kaiserlicher Hoheitsrechte auf einen vom Kaiser ernannten Statt¬
halter änderte zunächst nichts wesentliches daran.

Erst nach Bismarcks Abgang wird das anders. Sonderbestrebungen der
Bundesstaaten überwuchern den Reichsgedanken. Eigenbrötelei und Partei¬
gezänk gewinnen die Oberhand. Sie lähmen ebensosehr die Stoß- und
Werbekraft des Deutschtums im Reichslande wie die Reichsregierung selbst,
die alle ihre Kräfte anspannen muß, um in mühseligen Kleinkämpfen mit
wechselnden Mehrheiten wenigstens das Notwendigste zur Sicherung der
wirtschaftlichen und militärischen Machtstellung des Reiches durchzusetzen.
Befangen in der Sorge für die Bedürfnisse des Tages findet die Reichsregierung
nicht mehr genügend Zeit und Kraft, auch die Aufgaben im Auge zu behalten
und zu fördern, die in Elsaß-Lothringen des Reiches harren. An Stelle der
anfänglichen weitausschauenden Fürsorge für die Wahrung dieser Neichsinteressen
tritt müde resignierte Gleichgültigkeit. Elsaß-Lothringen wird seinem Schicksale
überlassen. Die Wirkung zeigt sich bald. Die elsaß-lothringische Negierung,
ohne Rückhalt bei der Reichsregierung, welche kaum der eigenen Schwierig¬
keiten der Reichspolitik Herr wird, verliert sich in den kleinen
Forderungen des Tages. Sie versucht, mit dem Landesausschusse fertig zu
werden, so gut oder so schlecht es eben geht. Dieser wiederum erkennt sehr
bald die Vorteile, die aus der neuen Konstellation gezogen werden können.
Besonders die inzwischen herangewachsene, zum Teil auf deutschen Universitäten
geschulte junge Generation wird sich ihrer Macht bewußt und gebraucht sie
in rücksichtsloser Weise. Anfänglichen mehr oder minder berechtigten Beschwerden
über einzelne Mißstände und Mißgriffe der Verwaltung folgen bald Einmischungen
in sämtliche Gebiete der Verwaltung überhaupt. Die Negierung weicht mutig
zurück. Doch ihre Zugeständnisse können den Sturm nicht beschwichtigen. Im
Gegenteil sie steigern noch die Begehrlichkeit der stimm- und lungenkräftigen, durch
keinen überflüssigen Ballast an persönlichem und politischem Anstandsgefühl
beschwerten jnngelsässtschen Politiker. Die schwache Haltung der Regierung gegen¬
über persönlichen Wünschen der Notabeln zeitigt noch eine weitere höchst bedauerliche
Folge. In gleichem Maße, wie die Opposition gegen die Negierung von dieser
mit Zugeständnissen auf allen möglichen persönlichen, oft rein geschäftlichen Gebiet
belohnt wird, schwindet bei der Bevölkerung das Vertrauen in die Gerechtigkeit
und Unparteilichkeit der Regierung und es wächst der manchmal geradezu naive
Glaube an die Macht der Landesausschuß- und Bezirkstags-Mitglieder. Diese
ihrerseits suchen solchen Glauben möglichst zu stärken und ebensosehr gegen
politische Gegner (d. i. die Mehrzahl der loyalen, ruhig denkenden Bevölkerung)
wie gegen geschäftliche Konkurrenten auszunutzen. Die Politik wird, wenigstens


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[0600] Llsciß-lothringische Fragen technischen Erwägungen begründet. Die annektierten Provinzen hatten sich den Interessen des Reiches unterzuordnen. Auch in der folgenden dem Ausbau des Reiches gewidmeten Zeit blieb dieser Gesichtspunkt maßgebend. Die Über¬ tragung der bis dahin vom Reichskanzler ausgeübten Verwaltungsbefugnisse und einiger kaiserlicher Hoheitsrechte auf einen vom Kaiser ernannten Statt¬ halter änderte zunächst nichts wesentliches daran. Erst nach Bismarcks Abgang wird das anders. Sonderbestrebungen der Bundesstaaten überwuchern den Reichsgedanken. Eigenbrötelei und Partei¬ gezänk gewinnen die Oberhand. Sie lähmen ebensosehr die Stoß- und Werbekraft des Deutschtums im Reichslande wie die Reichsregierung selbst, die alle ihre Kräfte anspannen muß, um in mühseligen Kleinkämpfen mit wechselnden Mehrheiten wenigstens das Notwendigste zur Sicherung der wirtschaftlichen und militärischen Machtstellung des Reiches durchzusetzen. Befangen in der Sorge für die Bedürfnisse des Tages findet die Reichsregierung nicht mehr genügend Zeit und Kraft, auch die Aufgaben im Auge zu behalten und zu fördern, die in Elsaß-Lothringen des Reiches harren. An Stelle der anfänglichen weitausschauenden Fürsorge für die Wahrung dieser Neichsinteressen tritt müde resignierte Gleichgültigkeit. Elsaß-Lothringen wird seinem Schicksale überlassen. Die Wirkung zeigt sich bald. Die elsaß-lothringische Negierung, ohne Rückhalt bei der Reichsregierung, welche kaum der eigenen Schwierig¬ keiten der Reichspolitik Herr wird, verliert sich in den kleinen Forderungen des Tages. Sie versucht, mit dem Landesausschusse fertig zu werden, so gut oder so schlecht es eben geht. Dieser wiederum erkennt sehr bald die Vorteile, die aus der neuen Konstellation gezogen werden können. Besonders die inzwischen herangewachsene, zum Teil auf deutschen Universitäten geschulte junge Generation wird sich ihrer Macht bewußt und gebraucht sie in rücksichtsloser Weise. Anfänglichen mehr oder minder berechtigten Beschwerden über einzelne Mißstände und Mißgriffe der Verwaltung folgen bald Einmischungen in sämtliche Gebiete der Verwaltung überhaupt. Die Negierung weicht mutig zurück. Doch ihre Zugeständnisse können den Sturm nicht beschwichtigen. Im Gegenteil sie steigern noch die Begehrlichkeit der stimm- und lungenkräftigen, durch keinen überflüssigen Ballast an persönlichem und politischem Anstandsgefühl beschwerten jnngelsässtschen Politiker. Die schwache Haltung der Regierung gegen¬ über persönlichen Wünschen der Notabeln zeitigt noch eine weitere höchst bedauerliche Folge. In gleichem Maße, wie die Opposition gegen die Negierung von dieser mit Zugeständnissen auf allen möglichen persönlichen, oft rein geschäftlichen Gebiet belohnt wird, schwindet bei der Bevölkerung das Vertrauen in die Gerechtigkeit und Unparteilichkeit der Regierung und es wächst der manchmal geradezu naive Glaube an die Macht der Landesausschuß- und Bezirkstags-Mitglieder. Diese ihrerseits suchen solchen Glauben möglichst zu stärken und ebensosehr gegen politische Gegner (d. i. die Mehrzahl der loyalen, ruhig denkenden Bevölkerung) wie gegen geschäftliche Konkurrenten auszunutzen. Die Politik wird, wenigstens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/600>, abgerufen am 01.07.2024.