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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

Gallier zeichnete sich durch die verwegenste Überhebung aus, die nur noch
zunahm, als die römische Zivilisation aus dem Kaiserreich auf Gallien über¬
ging; doch wir finden ihn auch in dem Greise wieder, der sich trotz seines
beharrlichen Stillstehens in einer unausgesetzt fortschreitenden Welt immer noch
eigensinnig einbildet, in der Vorhut zu marschieren. Madame de Stael schreibt
in ihren Betrachtungen über "Deutschland": "Die gute Meinung, die die
Franzosen von sich selbst haben, hat immer sehr dazu beigetragen, ihren Einfluß
in Europa zu vermehren." Das mag sein, erwidere ich darauf: aber innerhalb
der Grenzen der Zeit und des Raums, in denen diese "gute Meinung" sich recht¬
fertigen ließ. Aber darüber hinaus? Sich für überlegen zu halten, wenn man es
tatsächlich nicht mehr ist (wie gewisse betrübende Erfahrungen mehrfach bewiesen
haben), das heißt, den Blitzstrahl auf das eigene Haupt herabbeschwören. Denn
es kommt unfehlbar ein Tag, an welchem sich diese Überhebung als unbegründet
erweist und zusammenbricht, indem sie Nation und Individuum unterm Ansturm
der unbarmherzigen Wirklichkeiten unrettbar mit sich ins Verderben reißt. Ganz
abgesehen davon, daß die verhängnisvollste Folge der Überhebung in der fort¬
gesetzten Unkenntnis seiner selbst besteht, indem die Einflnstenmgen der Wahrheit
keinen Zugang finden und alle zur Wiedergeburt führenden Wege dadurch
versperrt werden.

Kann es etwas Eitleres und Kläglicheres geben, als sich infolge irgend¬
einer vermeintlich unerschütterlichen, unbegreiflichen und. unverjährbaren gött¬
lichen Verordnung für den Nabel der Welt zu halten? Ein echter Lateiner hat
für alles, "was nicht dazu gehört," nur ein mitleidiges, herablassendes Lächeln.
Die Grenzen seines Landes sind in seinen Augen diejenigen der "Zivilisation";
jenseits derselben herrscht mehr oder minder gemildertes Barbarentum. Seine
Tradition ist die einzig wahre, die einzig schöne, die einzig der Zukunft würdige.
Seine "Rasse" ist auserwählt, um Wahrheit und Schönheit in der Welt zu
verbreiten, um die höchsten Weltgesetze, die "ungeschriebenen Gesetze" bekannt
zu geben. In dieser Hinsicht denken der Franzose, der Italiener und der Spanier
von heute genau so wie der antike Mensch und der Mensch der Renaissance:
ihre Begriffe haben sich nicht erweitert. Ihr Glaubensbekenntnis ist immer
noch dasselbe: "Kein Heil außerhalb der Latinität."

Auch der stolz auf dem Misthaufen thronende Dorfhahn hat dieselbe Welt¬
auffassung, die sich in seinem Benehmen verrät, -- was immer noch nicht
beweist, daß sie richtig ist.

Man weiß, was Rom für den Stockitaliener bedeutet; selbst wenn die
"Ewige Stadt" nur noch eine Nekropole oder ein Museum wäre, wo eine
lediglich vom Kommen und Gehen der Archäologen und Reisenden gestörte
Totenstille herrschte, würde er immer noch behaupten, in ihr die gegenwärtige
und zukünftige Beherrscherin der Welt und die Königin aller Städte zu sehen.
Die Verblendung des Iberers ist bekannt. Was den noch nicht durch fremde
Berührungen "korrumpierten" Vollblutfranzosen anbelangt,' so ist Paris für


Intellektualismus und Dekadenz

Gallier zeichnete sich durch die verwegenste Überhebung aus, die nur noch
zunahm, als die römische Zivilisation aus dem Kaiserreich auf Gallien über¬
ging; doch wir finden ihn auch in dem Greise wieder, der sich trotz seines
beharrlichen Stillstehens in einer unausgesetzt fortschreitenden Welt immer noch
eigensinnig einbildet, in der Vorhut zu marschieren. Madame de Stael schreibt
in ihren Betrachtungen über „Deutschland": „Die gute Meinung, die die
Franzosen von sich selbst haben, hat immer sehr dazu beigetragen, ihren Einfluß
in Europa zu vermehren." Das mag sein, erwidere ich darauf: aber innerhalb
der Grenzen der Zeit und des Raums, in denen diese „gute Meinung" sich recht¬
fertigen ließ. Aber darüber hinaus? Sich für überlegen zu halten, wenn man es
tatsächlich nicht mehr ist (wie gewisse betrübende Erfahrungen mehrfach bewiesen
haben), das heißt, den Blitzstrahl auf das eigene Haupt herabbeschwören. Denn
es kommt unfehlbar ein Tag, an welchem sich diese Überhebung als unbegründet
erweist und zusammenbricht, indem sie Nation und Individuum unterm Ansturm
der unbarmherzigen Wirklichkeiten unrettbar mit sich ins Verderben reißt. Ganz
abgesehen davon, daß die verhängnisvollste Folge der Überhebung in der fort¬
gesetzten Unkenntnis seiner selbst besteht, indem die Einflnstenmgen der Wahrheit
keinen Zugang finden und alle zur Wiedergeburt führenden Wege dadurch
versperrt werden.

Kann es etwas Eitleres und Kläglicheres geben, als sich infolge irgend¬
einer vermeintlich unerschütterlichen, unbegreiflichen und. unverjährbaren gött¬
lichen Verordnung für den Nabel der Welt zu halten? Ein echter Lateiner hat
für alles, „was nicht dazu gehört," nur ein mitleidiges, herablassendes Lächeln.
Die Grenzen seines Landes sind in seinen Augen diejenigen der „Zivilisation";
jenseits derselben herrscht mehr oder minder gemildertes Barbarentum. Seine
Tradition ist die einzig wahre, die einzig schöne, die einzig der Zukunft würdige.
Seine „Rasse" ist auserwählt, um Wahrheit und Schönheit in der Welt zu
verbreiten, um die höchsten Weltgesetze, die „ungeschriebenen Gesetze" bekannt
zu geben. In dieser Hinsicht denken der Franzose, der Italiener und der Spanier
von heute genau so wie der antike Mensch und der Mensch der Renaissance:
ihre Begriffe haben sich nicht erweitert. Ihr Glaubensbekenntnis ist immer
noch dasselbe: „Kein Heil außerhalb der Latinität."

Auch der stolz auf dem Misthaufen thronende Dorfhahn hat dieselbe Welt¬
auffassung, die sich in seinem Benehmen verrät, — was immer noch nicht
beweist, daß sie richtig ist.

Man weiß, was Rom für den Stockitaliener bedeutet; selbst wenn die
„Ewige Stadt" nur noch eine Nekropole oder ein Museum wäre, wo eine
lediglich vom Kommen und Gehen der Archäologen und Reisenden gestörte
Totenstille herrschte, würde er immer noch behaupten, in ihr die gegenwärtige
und zukünftige Beherrscherin der Welt und die Königin aller Städte zu sehen.
Die Verblendung des Iberers ist bekannt. Was den noch nicht durch fremde
Berührungen „korrumpierten" Vollblutfranzosen anbelangt,' so ist Paris für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/40>, abgerufen am 26.06.2024.