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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

hoher Grad von Kultur bedeutet den zum Prinzip erhobenen Skeptizismus,
den Hang zur Beschaulichkeit und den Instinkt der Vernunftsfolgerung, --
kurzum, die schwersten Übel für eine Gesellschaft.

Man darf ohne paradox zu sein behaupten, daß eine Nation sich um so
wohler befindet, je weniger Intellektuelle sie zählt. Nicht der Intellek¬
tualismus, sondern vielmehr die Dummheit macht die Stärke eines
Volkes aus: natürlich will ich hier unter "Dummheit" nur verstanden wissen,
was uns -- die wir unter ausschließlicher Vorherrschaft der Vernunft stehen --
bei andern als solche erscheint.

Wohlverstanden nehme ich dabei die berufsmäßigen Kulturträger wie Lehrer
und Gelehrte aus, denn diese sind für eine Nation ebenso unentbehrlich wie
Bäcker und Schneider. Ich .habe auch nicht die Absicht, das Argument auf die
Spitze zu treiben, indem ich behaupte, daß eine Nation ohne einen einzigen
Intellektuellen dank dieser Tatsache unbedingten Vorrang habe. Ich stelle mir
unter einem Volk nicht etwa 'eine Herde vernunftloser Tiere vor; ich glaube
fest an die Wichtigkeit von Verstand und Kultur, solange sie im sozialen
Organismus den rechten Platz einnehmen. Ich will nur sagen, daß
eine übermäßige Entwicklung der intellektuellen Funktionen lähmend und
zersetzend wirkt.

Es gibt eine Art von Fähigkeiten, die vor allen andern ins Auge gefaßt
und bewertet werden müssen, wenn man den innern Wert und die Aussichten
eines Volkes feststellen will. Ich meine die kernige Kraft der Energie, den
Ernst des Glaubens, die Unbefangenheit und Jnstinktmäßigkeit. Das sind die
Haupttugenden für ein Volk, diejenigen, an denen man erkennt, ob es reich
oder erbärmlich, stark oder schwach ist, Tugenden, die man meistens in
Betracht zu ziehen versäumt, um sich auf die Abschätzung der geistigen Fähigkeiten
zu beschränken. Ein höchst beklagenswerter Standpunkt! Denn was ist es im
Grunde genommen, was eine Nation vor allem nötig hat? Will eine Gesellschaft
ihre normale Existenz zu einer Wirklichkeit gestalten und leben, statt nur zu
vegetieren, so muß sie gewisse grundlegende Eigenschaften besitzen, bei deren
Ermangelung sie unfehlbar dem Elend, der Jrrheit und dem Untergang anheim¬
fallen mürb: eine gewisse Dosis physischer Stärke, reiner und gesunder tierischer
Kraft, die dem Bau ihrer ganzen Existenz als Grundlage dienen wird; eine
gewisse Dosis Charakter, die sie instant setzen wird, ihren Weg durch die
Welt mit Entschlossenheit zu verfolgen, kühn vorwärts zu schreiten, statt auf
derselben Stelle zu verharren, zurückzuweichen, am Rande der Straße liegen zu
bleiben oder sich in Sprüngen und Unschlüssigkeiten zu erschöpfen; eine gewisse
Dosis von Naivität und Urwüchsigkeit, d.h. von natürlichem Glauben ans
Leben, von instinktiven Vertrauen zu der Welt und den Dillgen, so daß sie
.ihren Glauben auf die Wirklichkeiten und nicht auf Träume und Traditionen
gründet, daß sie einfach und verwegen, ernst und lauter im Handeln bleibt.
Aber unter diesen Tugenden gibt es eine, die alle andern überragt, die ebenso-


Intellektualismus und Dekadenz

hoher Grad von Kultur bedeutet den zum Prinzip erhobenen Skeptizismus,
den Hang zur Beschaulichkeit und den Instinkt der Vernunftsfolgerung, —
kurzum, die schwersten Übel für eine Gesellschaft.

Man darf ohne paradox zu sein behaupten, daß eine Nation sich um so
wohler befindet, je weniger Intellektuelle sie zählt. Nicht der Intellek¬
tualismus, sondern vielmehr die Dummheit macht die Stärke eines
Volkes aus: natürlich will ich hier unter „Dummheit" nur verstanden wissen,
was uns — die wir unter ausschließlicher Vorherrschaft der Vernunft stehen —
bei andern als solche erscheint.

Wohlverstanden nehme ich dabei die berufsmäßigen Kulturträger wie Lehrer
und Gelehrte aus, denn diese sind für eine Nation ebenso unentbehrlich wie
Bäcker und Schneider. Ich .habe auch nicht die Absicht, das Argument auf die
Spitze zu treiben, indem ich behaupte, daß eine Nation ohne einen einzigen
Intellektuellen dank dieser Tatsache unbedingten Vorrang habe. Ich stelle mir
unter einem Volk nicht etwa 'eine Herde vernunftloser Tiere vor; ich glaube
fest an die Wichtigkeit von Verstand und Kultur, solange sie im sozialen
Organismus den rechten Platz einnehmen. Ich will nur sagen, daß
eine übermäßige Entwicklung der intellektuellen Funktionen lähmend und
zersetzend wirkt.

Es gibt eine Art von Fähigkeiten, die vor allen andern ins Auge gefaßt
und bewertet werden müssen, wenn man den innern Wert und die Aussichten
eines Volkes feststellen will. Ich meine die kernige Kraft der Energie, den
Ernst des Glaubens, die Unbefangenheit und Jnstinktmäßigkeit. Das sind die
Haupttugenden für ein Volk, diejenigen, an denen man erkennt, ob es reich
oder erbärmlich, stark oder schwach ist, Tugenden, die man meistens in
Betracht zu ziehen versäumt, um sich auf die Abschätzung der geistigen Fähigkeiten
zu beschränken. Ein höchst beklagenswerter Standpunkt! Denn was ist es im
Grunde genommen, was eine Nation vor allem nötig hat? Will eine Gesellschaft
ihre normale Existenz zu einer Wirklichkeit gestalten und leben, statt nur zu
vegetieren, so muß sie gewisse grundlegende Eigenschaften besitzen, bei deren
Ermangelung sie unfehlbar dem Elend, der Jrrheit und dem Untergang anheim¬
fallen mürb: eine gewisse Dosis physischer Stärke, reiner und gesunder tierischer
Kraft, die dem Bau ihrer ganzen Existenz als Grundlage dienen wird; eine
gewisse Dosis Charakter, die sie instant setzen wird, ihren Weg durch die
Welt mit Entschlossenheit zu verfolgen, kühn vorwärts zu schreiten, statt auf
derselben Stelle zu verharren, zurückzuweichen, am Rande der Straße liegen zu
bleiben oder sich in Sprüngen und Unschlüssigkeiten zu erschöpfen; eine gewisse
Dosis von Naivität und Urwüchsigkeit, d.h. von natürlichem Glauben ans
Leben, von instinktiven Vertrauen zu der Welt und den Dillgen, so daß sie
.ihren Glauben auf die Wirklichkeiten und nicht auf Träume und Traditionen
gründet, daß sie einfach und verwegen, ernst und lauter im Handeln bleibt.
Aber unter diesen Tugenden gibt es eine, die alle andern überragt, die ebenso-


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[0036] Intellektualismus und Dekadenz hoher Grad von Kultur bedeutet den zum Prinzip erhobenen Skeptizismus, den Hang zur Beschaulichkeit und den Instinkt der Vernunftsfolgerung, — kurzum, die schwersten Übel für eine Gesellschaft. Man darf ohne paradox zu sein behaupten, daß eine Nation sich um so wohler befindet, je weniger Intellektuelle sie zählt. Nicht der Intellek¬ tualismus, sondern vielmehr die Dummheit macht die Stärke eines Volkes aus: natürlich will ich hier unter „Dummheit" nur verstanden wissen, was uns — die wir unter ausschließlicher Vorherrschaft der Vernunft stehen — bei andern als solche erscheint. Wohlverstanden nehme ich dabei die berufsmäßigen Kulturträger wie Lehrer und Gelehrte aus, denn diese sind für eine Nation ebenso unentbehrlich wie Bäcker und Schneider. Ich .habe auch nicht die Absicht, das Argument auf die Spitze zu treiben, indem ich behaupte, daß eine Nation ohne einen einzigen Intellektuellen dank dieser Tatsache unbedingten Vorrang habe. Ich stelle mir unter einem Volk nicht etwa 'eine Herde vernunftloser Tiere vor; ich glaube fest an die Wichtigkeit von Verstand und Kultur, solange sie im sozialen Organismus den rechten Platz einnehmen. Ich will nur sagen, daß eine übermäßige Entwicklung der intellektuellen Funktionen lähmend und zersetzend wirkt. Es gibt eine Art von Fähigkeiten, die vor allen andern ins Auge gefaßt und bewertet werden müssen, wenn man den innern Wert und die Aussichten eines Volkes feststellen will. Ich meine die kernige Kraft der Energie, den Ernst des Glaubens, die Unbefangenheit und Jnstinktmäßigkeit. Das sind die Haupttugenden für ein Volk, diejenigen, an denen man erkennt, ob es reich oder erbärmlich, stark oder schwach ist, Tugenden, die man meistens in Betracht zu ziehen versäumt, um sich auf die Abschätzung der geistigen Fähigkeiten zu beschränken. Ein höchst beklagenswerter Standpunkt! Denn was ist es im Grunde genommen, was eine Nation vor allem nötig hat? Will eine Gesellschaft ihre normale Existenz zu einer Wirklichkeit gestalten und leben, statt nur zu vegetieren, so muß sie gewisse grundlegende Eigenschaften besitzen, bei deren Ermangelung sie unfehlbar dem Elend, der Jrrheit und dem Untergang anheim¬ fallen mürb: eine gewisse Dosis physischer Stärke, reiner und gesunder tierischer Kraft, die dem Bau ihrer ganzen Existenz als Grundlage dienen wird; eine gewisse Dosis Charakter, die sie instant setzen wird, ihren Weg durch die Welt mit Entschlossenheit zu verfolgen, kühn vorwärts zu schreiten, statt auf derselben Stelle zu verharren, zurückzuweichen, am Rande der Straße liegen zu bleiben oder sich in Sprüngen und Unschlüssigkeiten zu erschöpfen; eine gewisse Dosis von Naivität und Urwüchsigkeit, d.h. von natürlichem Glauben ans Leben, von instinktiven Vertrauen zu der Welt und den Dillgen, so daß sie .ihren Glauben auf die Wirklichkeiten und nicht auf Träume und Traditionen gründet, daß sie einfach und verwegen, ernst und lauter im Handeln bleibt. Aber unter diesen Tugenden gibt es eine, die alle andern überragt, die ebenso-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/36>, abgerufen am 26.06.2024.