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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Intellektualismus und Dekadenz

Dennoch ist mir häufig das nachstehende scheinbar gewichtige Argument zu
Ohren gekommen.

"Ja, die lateinischen Völker nehmen in der Welt nicht mehr die hervor¬
ragende Stellung ein, die sie früher innehalten. Sie haben besonders in den
letzten hundert Jahren schwere Mißgeschicke zu bestehen gehabt und legen bedenk¬
liche Anzeichen von Entkräftung an den Tag. In ihrem innern Leben verrät
sich ein dauerndes Unbehagen, und die Zukunft muß in ihnen inmitten so eifriger
Nebenbuhler notwendig Besorgnisse erwecken. Aber eine Sache läßt sich trotz
alledem nicht ableugnen: die Summe der in der lateinischen Welt verbreiteten
Intelligenz ist sehr groß, vielleicht größer als die der gesamten übrigen Welt.
Ziehen wir das feine ästhetische und intellektuelle Gefühl, die Eleganz, den vor¬
nehmen "Stil", das geistige Raffinement und die Reichhaltigkeit und Kom¬
pliziertheit der Zivilisation in Betracht, so werden Sie angesichts täglicher in
die Augen springender Beweise doch nicht bestreiten, daß Frankreich darin an
der Spitze des Abendlandes steht und noch lange stehen wird? Die Menge von
Geist und Neugier, die es anlockt, sein immer noch lebendiger Nimbus und der
eigenartige Zauber, den es auf alle Welt ausübt, bezeugen das doch wohl ans
glänzende Weise?"

Dieses Argument ist nur dem Anschein nach stichhaltig. Es beruht auf
einem Trugschluß.

In Wirklichkeit muß man einen Unterschied machen. Ma: darf die
Intellektualität und ästhetische Verfeinerung einer nur in ihrer Auslese
betrachteten Nation nicht mit dem bloßen moralischen Wert der Gesamt¬
nation verwechseln. Mit andern Worten, man muß zwischen der Energie
und Lebenskraft eines nationalen Organismus und seinem Intellekt unter¬
scheiden.

Hinsichtlich der Schärfe des Gehirns, der Feinheit und Differenzierungen
der "höheren" Fähigkeiten stehen die lateinischen Nationen im Abendland ohne
Zweifel obenan. Diese Stellung nehmen sie auf Grund ihrer alten Kultur
und Zivilisation, der von ihnen überkommenen Traditionen und ihrer geistigen
"Überheizung" ein. Das ist wahr, und kein Mensch denkt daran, es abzuleugnen.
Aber wenn es gilt, aus dieser Vorherrschaft Schlüsse zu ziehen, dann begeht
man gewaltige Fehler. Denn es ist nichts weniger als unbestreitbar, daß dieser
intellektuelle Vorrang hinreicht, um ihnen als Nation eine tatsächliche Über¬
legenheit zu sichern.

Es scheint mir vielmehr, daß eine derartige Überlegenheit einen zuverlässigen
Beweis für ihre Minderwertigkeit in bezug auf Stärke, Lebensenergie und


herzigsten Verstchcr vor Augen zu halten, der auch manches für deutsche Literatur in Frank¬
reich getan hat. Bnzalgette ist unter anderem der Verfasser des Probleme 6e I'svenir theilt,
des iVespnt nouvesu äsns la vie artisticzue, sociale et röligieuse, sowie einer gro߬
angelegten Walt Whitnmn-Biographie -- sämtlich Werke, voll von Anregungen für alle die
,
D> Schrftltg. sich mit Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen wünschen.
Intellektualismus und Dekadenz

Dennoch ist mir häufig das nachstehende scheinbar gewichtige Argument zu
Ohren gekommen.

„Ja, die lateinischen Völker nehmen in der Welt nicht mehr die hervor¬
ragende Stellung ein, die sie früher innehalten. Sie haben besonders in den
letzten hundert Jahren schwere Mißgeschicke zu bestehen gehabt und legen bedenk¬
liche Anzeichen von Entkräftung an den Tag. In ihrem innern Leben verrät
sich ein dauerndes Unbehagen, und die Zukunft muß in ihnen inmitten so eifriger
Nebenbuhler notwendig Besorgnisse erwecken. Aber eine Sache läßt sich trotz
alledem nicht ableugnen: die Summe der in der lateinischen Welt verbreiteten
Intelligenz ist sehr groß, vielleicht größer als die der gesamten übrigen Welt.
Ziehen wir das feine ästhetische und intellektuelle Gefühl, die Eleganz, den vor¬
nehmen „Stil", das geistige Raffinement und die Reichhaltigkeit und Kom¬
pliziertheit der Zivilisation in Betracht, so werden Sie angesichts täglicher in
die Augen springender Beweise doch nicht bestreiten, daß Frankreich darin an
der Spitze des Abendlandes steht und noch lange stehen wird? Die Menge von
Geist und Neugier, die es anlockt, sein immer noch lebendiger Nimbus und der
eigenartige Zauber, den es auf alle Welt ausübt, bezeugen das doch wohl ans
glänzende Weise?"

Dieses Argument ist nur dem Anschein nach stichhaltig. Es beruht auf
einem Trugschluß.

In Wirklichkeit muß man einen Unterschied machen. Ma: darf die
Intellektualität und ästhetische Verfeinerung einer nur in ihrer Auslese
betrachteten Nation nicht mit dem bloßen moralischen Wert der Gesamt¬
nation verwechseln. Mit andern Worten, man muß zwischen der Energie
und Lebenskraft eines nationalen Organismus und seinem Intellekt unter¬
scheiden.

Hinsichtlich der Schärfe des Gehirns, der Feinheit und Differenzierungen
der „höheren" Fähigkeiten stehen die lateinischen Nationen im Abendland ohne
Zweifel obenan. Diese Stellung nehmen sie auf Grund ihrer alten Kultur
und Zivilisation, der von ihnen überkommenen Traditionen und ihrer geistigen
„Überheizung" ein. Das ist wahr, und kein Mensch denkt daran, es abzuleugnen.
Aber wenn es gilt, aus dieser Vorherrschaft Schlüsse zu ziehen, dann begeht
man gewaltige Fehler. Denn es ist nichts weniger als unbestreitbar, daß dieser
intellektuelle Vorrang hinreicht, um ihnen als Nation eine tatsächliche Über¬
legenheit zu sichern.

Es scheint mir vielmehr, daß eine derartige Überlegenheit einen zuverlässigen
Beweis für ihre Minderwertigkeit in bezug auf Stärke, Lebensenergie und


herzigsten Verstchcr vor Augen zu halten, der auch manches für deutsche Literatur in Frank¬
reich getan hat. Bnzalgette ist unter anderem der Verfasser des Probleme 6e I'svenir theilt,
des iVespnt nouvesu äsns la vie artisticzue, sociale et röligieuse, sowie einer gro߬
angelegten Walt Whitnmn-Biographie — sämtlich Werke, voll von Anregungen für alle die
,
D> Schrftltg. sich mit Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen wünschen.
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[0032] Intellektualismus und Dekadenz Dennoch ist mir häufig das nachstehende scheinbar gewichtige Argument zu Ohren gekommen. „Ja, die lateinischen Völker nehmen in der Welt nicht mehr die hervor¬ ragende Stellung ein, die sie früher innehalten. Sie haben besonders in den letzten hundert Jahren schwere Mißgeschicke zu bestehen gehabt und legen bedenk¬ liche Anzeichen von Entkräftung an den Tag. In ihrem innern Leben verrät sich ein dauerndes Unbehagen, und die Zukunft muß in ihnen inmitten so eifriger Nebenbuhler notwendig Besorgnisse erwecken. Aber eine Sache läßt sich trotz alledem nicht ableugnen: die Summe der in der lateinischen Welt verbreiteten Intelligenz ist sehr groß, vielleicht größer als die der gesamten übrigen Welt. Ziehen wir das feine ästhetische und intellektuelle Gefühl, die Eleganz, den vor¬ nehmen „Stil", das geistige Raffinement und die Reichhaltigkeit und Kom¬ pliziertheit der Zivilisation in Betracht, so werden Sie angesichts täglicher in die Augen springender Beweise doch nicht bestreiten, daß Frankreich darin an der Spitze des Abendlandes steht und noch lange stehen wird? Die Menge von Geist und Neugier, die es anlockt, sein immer noch lebendiger Nimbus und der eigenartige Zauber, den es auf alle Welt ausübt, bezeugen das doch wohl ans glänzende Weise?" Dieses Argument ist nur dem Anschein nach stichhaltig. Es beruht auf einem Trugschluß. In Wirklichkeit muß man einen Unterschied machen. Ma: darf die Intellektualität und ästhetische Verfeinerung einer nur in ihrer Auslese betrachteten Nation nicht mit dem bloßen moralischen Wert der Gesamt¬ nation verwechseln. Mit andern Worten, man muß zwischen der Energie und Lebenskraft eines nationalen Organismus und seinem Intellekt unter¬ scheiden. Hinsichtlich der Schärfe des Gehirns, der Feinheit und Differenzierungen der „höheren" Fähigkeiten stehen die lateinischen Nationen im Abendland ohne Zweifel obenan. Diese Stellung nehmen sie auf Grund ihrer alten Kultur und Zivilisation, der von ihnen überkommenen Traditionen und ihrer geistigen „Überheizung" ein. Das ist wahr, und kein Mensch denkt daran, es abzuleugnen. Aber wenn es gilt, aus dieser Vorherrschaft Schlüsse zu ziehen, dann begeht man gewaltige Fehler. Denn es ist nichts weniger als unbestreitbar, daß dieser intellektuelle Vorrang hinreicht, um ihnen als Nation eine tatsächliche Über¬ legenheit zu sichern. Es scheint mir vielmehr, daß eine derartige Überlegenheit einen zuverlässigen Beweis für ihre Minderwertigkeit in bezug auf Stärke, Lebensenergie und herzigsten Verstchcr vor Augen zu halten, der auch manches für deutsche Literatur in Frank¬ reich getan hat. Bnzalgette ist unter anderem der Verfasser des Probleme 6e I'svenir theilt, des iVespnt nouvesu äsns la vie artisticzue, sociale et röligieuse, sowie einer gro߬ angelegten Walt Whitnmn-Biographie — sämtlich Werke, voll von Anregungen für alle die , D> Schrftltg. sich mit Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen wünschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/32>, abgerufen am 26.06.2024.