Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.Nationalstaat oder lvirtschaftsverband? Reichsminister und der Reichstag Verständnis für die Notwendigkeit der ein¬ Anders liegt die Sache, sobald die Jnteressenverbände an die Reichsgrenze Seit der Gründung des Deutschen Reichs hat die natürliche, ruhig aber 51 Nationalstaat oder lvirtschaftsverband? Reichsminister und der Reichstag Verständnis für die Notwendigkeit der ein¬ Anders liegt die Sache, sobald die Jnteressenverbände an die Reichsgrenze Seit der Gründung des Deutschen Reichs hat die natürliche, ruhig aber 51 <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315653"/> <fw type="header" place="top"> Nationalstaat oder lvirtschaftsverband?</fw><lb/> <p xml:id="ID_14" prev="#ID_13"> Reichsminister und der Reichstag Verständnis für die Notwendigkeit der ein¬<lb/> geleiteten Bewegung haben und widerstreitende Interessen weise zu vereinigen<lb/> streben.</p><lb/> <p xml:id="ID_15"> Anders liegt die Sache, sobald die Jnteressenverbände an die Reichsgrenze<lb/> stoßen. Hier kann sich eine wirtschaftliche Bewegung, die sich z. B. dem Lauf<lb/> der Wasserstraßen anschlösse, nur durchsetzen, wenn politische Faktoren als<lb/> Rückendeckung machtvoll dahinterstehn. Bei der Frage der Schiffahrtsabgaben<lb/> ist uns jüngst erst wieder diese Notwendigkeit praktisch zum Bewußtsein gekommen.<lb/> Und hiermit kommen wir an den wunden Punkt unserer Entwicklung.</p><lb/> <p xml:id="ID_16"> Seit der Gründung des Deutschen Reichs hat die natürliche, ruhig aber<lb/> unwiderstehlich wirkende Expansivkraft der Nation abgenommen; doch sie hat<lb/> nicht abgenommen wegen eines Rückganges der Energie beim deutschen Volk,<lb/> sondern infolge des Mangels einer Kraft, die die auf der Grundlage der<lb/> Reichsverfassung zur Entfaltung gekommenen Elemente wieder zusammenzufassen<lb/> vermochte. Man ist sich dieser Tatsache sowohl in den maßgebenden Kreisen<lb/> wie in der Publizistik bewußt geworden, und sucht den scheinbaren Widerspruch<lb/> auf alle mögliche Weise auszugleichen. Dabei geht man indessen nicht mit der<lb/> notwendigen Kaltblütigkeit vor. Man greift nicht an die Wurzel der Erscheinung,<lb/> sondern begnügt sich mit einer Arbeit an der Oberfläche, wobei die bestehenden<lb/> Verhältnisse als unantastbar scheu geschont werden. Das führt zu künstlichen<lb/> Konstruktionen. Alles in allem erweckt das das unerfreuliche Bild der Erstarrung,<lb/> das gern mit dem Schlagwort„Reaktion"umschriebenwird. Einer der markantesten<lb/> Züge der neudeutschen Entwicklung ist nun die Bedeutung, die das an keine<lb/> Nationalität gebundene Unternehmertum gewonnen hat. Sie ist möglich<lb/> geworden durch die Besserung der Technik auf allen Gebieten, durch<lb/> die stegreiche Überwindung aller Entfernungen und nicht zuletzt durch die<lb/> wachsende Sicherheit internationaler Rechtsverhältnisse — mit einem Wort durch<lb/> alles das, was wir schlechthin als „Kulturfortschritt" bezeichnen. Früher ging<lb/> das Kapital meist nur dann ins Ausland, wenn Landsleute als Vertrauensmänner<lb/> gefunden werden konnten. Jetzt braucht sich das Kapital nicht mehr an die<lb/> damit verbundene Sicherheit zu binden. Männer englischer, belgischer oder<lb/> russischer Staatsangehörigkeit können und sind dem deutschen Kapital häufig<lb/> viel wertvoller als der Landsmann, und zur Leitung deutscher Unternehmungen<lb/> im Inlande werden tüchtige Männer aus der ganzen Welt berufen, denen die<lb/> historische Mission des deutschen Volks noch viel gleichgültiger ist als die<lb/> historische Entwicklung des Reichs. Die Vereinfachung in den internationalen<lb/> Beziehungen konnte naturgemäß auch nicht ohne Einwirkung auf die Richtung<lb/> der Wege bleiben, die die deutsche Arbeit — als Summe für Arbeitshände,<lb/> Geist und Kapital — genommen hat. In den 1860er und 1870er Jahren<lb/> ging das deutsche Kapital noch Hand in Hand mit dem deutschen Ingenieur,<lb/> Kaufmann und Kolonisten den seit hundert Jahren betretenen Weg nach dein<lb/> benachbarten Osten. Vor den Toren unserer Ostmark entstanden Schutzwälle</p><lb/> <p xml:id="ID_17" next="#ID_18"> 51</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0014]
Nationalstaat oder lvirtschaftsverband?
Reichsminister und der Reichstag Verständnis für die Notwendigkeit der ein¬
geleiteten Bewegung haben und widerstreitende Interessen weise zu vereinigen
streben.
Anders liegt die Sache, sobald die Jnteressenverbände an die Reichsgrenze
stoßen. Hier kann sich eine wirtschaftliche Bewegung, die sich z. B. dem Lauf
der Wasserstraßen anschlösse, nur durchsetzen, wenn politische Faktoren als
Rückendeckung machtvoll dahinterstehn. Bei der Frage der Schiffahrtsabgaben
ist uns jüngst erst wieder diese Notwendigkeit praktisch zum Bewußtsein gekommen.
Und hiermit kommen wir an den wunden Punkt unserer Entwicklung.
Seit der Gründung des Deutschen Reichs hat die natürliche, ruhig aber
unwiderstehlich wirkende Expansivkraft der Nation abgenommen; doch sie hat
nicht abgenommen wegen eines Rückganges der Energie beim deutschen Volk,
sondern infolge des Mangels einer Kraft, die die auf der Grundlage der
Reichsverfassung zur Entfaltung gekommenen Elemente wieder zusammenzufassen
vermochte. Man ist sich dieser Tatsache sowohl in den maßgebenden Kreisen
wie in der Publizistik bewußt geworden, und sucht den scheinbaren Widerspruch
auf alle mögliche Weise auszugleichen. Dabei geht man indessen nicht mit der
notwendigen Kaltblütigkeit vor. Man greift nicht an die Wurzel der Erscheinung,
sondern begnügt sich mit einer Arbeit an der Oberfläche, wobei die bestehenden
Verhältnisse als unantastbar scheu geschont werden. Das führt zu künstlichen
Konstruktionen. Alles in allem erweckt das das unerfreuliche Bild der Erstarrung,
das gern mit dem Schlagwort„Reaktion"umschriebenwird. Einer der markantesten
Züge der neudeutschen Entwicklung ist nun die Bedeutung, die das an keine
Nationalität gebundene Unternehmertum gewonnen hat. Sie ist möglich
geworden durch die Besserung der Technik auf allen Gebieten, durch
die stegreiche Überwindung aller Entfernungen und nicht zuletzt durch die
wachsende Sicherheit internationaler Rechtsverhältnisse — mit einem Wort durch
alles das, was wir schlechthin als „Kulturfortschritt" bezeichnen. Früher ging
das Kapital meist nur dann ins Ausland, wenn Landsleute als Vertrauensmänner
gefunden werden konnten. Jetzt braucht sich das Kapital nicht mehr an die
damit verbundene Sicherheit zu binden. Männer englischer, belgischer oder
russischer Staatsangehörigkeit können und sind dem deutschen Kapital häufig
viel wertvoller als der Landsmann, und zur Leitung deutscher Unternehmungen
im Inlande werden tüchtige Männer aus der ganzen Welt berufen, denen die
historische Mission des deutschen Volks noch viel gleichgültiger ist als die
historische Entwicklung des Reichs. Die Vereinfachung in den internationalen
Beziehungen konnte naturgemäß auch nicht ohne Einwirkung auf die Richtung
der Wege bleiben, die die deutsche Arbeit — als Summe für Arbeitshände,
Geist und Kapital — genommen hat. In den 1860er und 1870er Jahren
ging das deutsche Kapital noch Hand in Hand mit dem deutschen Ingenieur,
Kaufmann und Kolonisten den seit hundert Jahren betretenen Weg nach dein
benachbarten Osten. Vor den Toren unserer Ostmark entstanden Schutzwälle
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